Wenn Mütter ihre Kinder töten

– eine Untersuchung von -Neonatizid und Infantizid unter besonderer Berücksichtigung sozialbiographischer Bezüge: Aktuelle Befunde aus einem Forschungsprojekt (2010 – Jan. 2014)

Begrifflichkeiten:


Der Terminus des Neonatizid ist an einen zeitlichen Rahmen gekoppelt: Er ist ausschließlich dann zu verwenden, wenn die Tötung des Kindes in den ersten 24 h nach der Geburt erfolgt.6 Alle späteren Kindstötungen werden dem Begriff des Infantizid zugeordnet.

 

 

Forschungsergebnisse:

Innerhalb der Lebensgeschichte der Täterinnen erstreckt sich eine Reihe von prägenden Einflussfaktoren auf den Entwicklungsverlauf, die bis in das Stadium der frühen Kindheit verfolgbar sind. Die Biografien legen dar, dass die überwiegende Mehrheit der Täterinnen in einem dissozialen Herkunftsmilieu aufgewachsen ist. Die Paarbeziehung der Eltern kann vielfach als desolat und zerrüttet beurteilt werden. Charakteristische Problemlagen resultieren beispielsweise aus einer Alkoholabhängigkeit eines Elternteiles (zumeist der Vater oder Stiefvater), Langzeitarbeitslosigkeit, Kommunikationsdefiziten, sozialer Deprivation und fehlenden Ressourcen zur Krisenbewältigung. Gelegentlich ist ein hohes Potenzial an häuslicher Gewalt erkennbar. In einigen Fallbeispielen nahm die Abwesenheit der Mutter, z.B. durch frühzeitigen Tod aufgrund einer schweren Erkrankung, durch Heimaufenthalte oder in ganz seltenen Ausnahmen durch eine intensive Arbeitsbelastung, einen kritischen Einfluss.

 

 

„Im Grunde stand schon am Tag unserer Hochzeit die Trennung fest“


Durch das Eingebundensein in ein soziales Umfeld mit negativ zu bewertenden Faktoren wird ein gelingender Entwicklungsverlauf erheblich gehemmt. Des Weiteren sprechen die Forschungsergebnisse für eine soziale Vereinsamung im elterlichen Haushalt. Die Herkunftsfamilien der Frauen lebten häufig in sozialer Isolation und Kontaktarmut. Indikatoren auf stabile, außerhäusliche Bezugspersonen oder Freund- oder Bekanntschaften konnten nicht vorgefunden werden. In der Gesamtheit stammen die Täterinnen aus bildungsfernen Elternhäusern.

In Einzelfällen fand in der Jugendphase der Frauen ein sexueller Missbrauch durch Stiefväter statt. Die Übergriffe im „Tatort Kinderzimmer“ wurden durch die Opfer allerdings nie zur Strafanzeige gebracht. Zwar berichteten die Frauen zum damaligen Zeitpunkt ihren Müttern von den Handlungen ihrer Lebenspartner, diese verharmlosten den Sachverhalt jedoch bzw. konfrontierten ihre Töchter mit einem Ultimatum: „Entweder du gehst oder er, entscheidet euch“. Bemerkenswert hierbei ist, dass genau diese Frauen in der Phase der Adoleszenz oder Postadoleszenz ein gesteigertes Sexualverhalten zeigten und häufig wechselnde Partnerschaften transparent wurden. Ohnehin ist die Komponente der Sexualbeziehungen der Täterinnen auffällig, indem in vielen Fallkonstellationen Aspekte einer Hypersexualität oder Promiskuität angeführt werden können. Nahezu allen Frauen ist gemein, dass der Beginn sexueller Handlungen mit einem Durchschnittsalter von ca. 11 Jahren sehr früh erfolgt. Die Entwicklung und Ausübung eines Sexualverhaltens ist für die Täterinnen offenbar von zentraler Bedeutung. Dabei scheint die Qualität der Paarbeziehung tendenziell eine untergeordnete Rolle zu spielen. Vermutlich einer der Gründe, weswegen die Täterinnen ihre Partnersuche mitunter in delinquenten Kreisen vornehmen. In regelmäßigen Abständen erfolgen darüber hinaus Wechsel zwischen Trennungen und sofortigem Beginn einer neuen Beziehung. Die herrschende Lehre sieht hier einen Zusammenhang zwischen promisken Verhalten und einer Persönlichkeitsstörung bzw. einer bipolaren Störung. Ungeachtet dessen kann ein solches Verhalten einen Indikator für eine Bindungsschwäche sein. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss, dass Kindstötungen in unteren Schichten überwiegen. Bevor kritische Stimmen in einen Aufschrei münden, sei ein Zugeständnis erlaubt: Es ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass Mittel- und Oberschichtangehörige schlichtweg bessere Strategien der Vertuschung beherrschen. Auch ist hinlänglich bekannt, dass vereinzelt irgendwo in Deutschland eine Studentin oder eine Polizistin ihr Kind getötet hat. Gleichwohl existieren ernstzunehmende Belege, die auf vermehrte Tötungshandlungen in der sozialen Unterschicht schließen lassen. Die damit verbundene Frage nach den spezifischen Ursachen respektive die Antwortsuche gestalten sich sehr komplex. Wenn man schon in Schichtsystemen denkt, koppeln sich automatisch Gesichtspunkte in Form von Bildungschancen, Aufstiegswegen, Status, Einkommenshöhe usw. an den weiteren Gedankengang. Um es vorwegzunehmen: Die absolute Mehrheit der Straftäterinnen verfügt über den Haupt- oder Realschulabschluss. Einschneidende Problemlagen zeigten sich oft bei dem Lebensabschnitt der Berufsausbildung. Hierbei handelt es sich größtenteils um Ausbildungsberufe auf dem Dienstleistungssektor (Köchin, Reinigungskraft, Friseurin usw.). Der berufsbiographische Verlauf lässt sich oftmals als brüchig konstatieren, indem ein mangelhaftes Leistungspotenzial, unentschuldigte Abstinenz vom Arbeitsplatz oder allgemeine Antriebslosigkeit häufig in einen vorzeitigen Abbruch der Lehre münden. Deshalb bezogen (zumindest zum Tatzeitpunkt) viele Täterinnen staatliche Unterstützungsleistungen. Folgt man den Angaben der Frauen, zählt der Aspekt der Einkommensarmut jedoch nie zu den Tötungsmotiven. Daran koppelt sich wiederum die Frage nach den Hauptmotiven des Neonatizids. Neuere etablierte Forschungen beziehen sich u.a auf psychotische Erkrankungen, erweiterten Suizid, altruistische Tötungen, Überforderungssyndrom, Tötung aus Rache am Partner sowie nicht psychotisch determinierte Tötung, z.B. bei verdrängter Schwangerschaft.7 Letztgenannte Verdrängungsmechanismen lagen im Übrigen bei jedem untersuchten Fallbeispiel innerhalb der Dissertation vor. Dass wiederum der gesamte soziale Nahbereich keineswegs die Gravidität registriert haben will, muss ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Diesbezüglich weisen Fundstellen in den Akten auf Widersprüche und inkonsistentes Aussageverhalten hin.

Einige Forscher gehen davon aus, dass verübte Kindstötungen von Frauen immer mit Männern zu tun haben.8 Unterdessen konnte durch die aktuelle Untersuchung aber nachgewiesen werden, dass nicht alle Partner der Täterinnen tatsächlich kriminell, gewalttätig oder negativ prägend eingestuft werden müssen. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lebensgefährten ging einer geregelten Tätigkeit nach und zeigte ein Fürsorgeverhalten der Frau gegenüber. Als diese den Schwangerschaftsverdacht gegenüber der Partnerin offerierten, erfolgte ein massives Abstreiten durch die Schwangere. Unzweifelhaft ist an dieser Stelle die fortfolgende Überlegung anzustellen, weshalb keine weiteren Schritte durch die Kindsväter im eingeleitet worden. Insofern wäre der Aspekt der moralischen Mitverantwortung zu diskutieren. Fraglich bleibt ferner, weshalb die Einnahme von Kontrazeptiva den Partnern so oft vorgetäuscht wurde. All diese Darlegungen sollen mitnichten Exkulpationsbemühungen gegenüber den Kindsvätern beinhalten – trotzdem ist bereits das Verhalten einiger Frauen vor der Tat als kritisch zu befunden. Erwähnenswert ist zudem, dass einige Täterinnen durch das Führen von Parallelbeziehungen gar keine Kenntnis vom tatsächlich biologischen Kindsvater besitzen und lediglich Mutmaßungen über den Erzeuger anstellen.

Dennoch – dies sei ausdrücklich zu betonen – ist die Mehrheit der Partner tatsächlich als bedenklich einzustufen. Viele Fälle weisen die Existenz von Aggressionspotenzialen, Konfliktlagen, Monotonien innerhalb der Paarbeziehungen sowie fehlende Kommunikationsprozesse auf. Auch kann vereinzelt von einer erheblichen Abhängigkeit bzw. Hörigkeit der Frau gesprochen werden. Jene Frauen, die in der Kindheits- und Jugendphase tatsächlich mit schlimmen Schicksalsschlägen konfrontiert wurden, z.B. früher Tod der Mutter, sexuelle Übergriffe durch den Stiefvater oder häusliche Gewalt, zeigen vermehrt das Verhalten im Kontext einer absoluten Unterwerfung des eigenen Willens unter den Willen des dominanten Partners. Ob die Frauen ihre eigene Beziehungsqualität jemals kritisch reflektierten, verbleibt im Reich der Spekulation. Ferner haben vereinzelte Täterinnen im Laufe ihres Lebens suizidale Überlegungen angestellt. Allem Anschein nach ist hierbei aber eher von einem „Warnsignal“ durch eine geringe Überdosis an Medikamenten/Schlafmitteln auszugehen.

Es existiert allerdings nicht nur der Typus der „abhängigen“ Täterin, der ein Durchschnittsalter von ca. 27 Jahren zum Zeitpunkt der Tötung aufweist. Häufig ist der zweite Typus der Täterin mit 15 bis 17 Jahren noch sehr jung einzustufen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Schülerinnen oder Berufsschülerinnen, die noch den elterlichen Haushalt bewohnen, das Verhältnis zur Mutter oder vorrangig zum Vater jedoch als sehr belastend beschrieben wurde. Als dritter Typus ist die „perspektivlose“ Täterin zu nennen. Diese Frauen sind im Durschnitt 27-35 Jahre alt, häufig von ungepflegter Erscheinung. In beruflicher Hinsicht erfolgen immer wieder Wechsel zwischen Arbeitsaufnahmen von lediglich kurzer Dauer und dem Bezug von Hartz IV. Insbesondere in dieser Konstellation sind häufig wechselnde Partnerschaften vorzufinden. Möglicherweise sind bereits Kinder aus vorausgegangenen Beziehungen im Haushalt vorhanden.

Hervorzuheben ist, dass in keinem einzigen Fall des Untersuchungsguts tatsächlich zwingende Notlagen transparent wurden, die die Tötung eines Kindes zumindest ansatzweise „nachvollziehbarer“ machen könnten. Vielmehr dominieren egoistische Haltungen, resultierend aus dem Drang der Fortsetzung einer „bequemen“ Lebensweise. Sicherlich ist es für außenstehende Untersuchungspersonen immer schwierig, individuelle Notlagen als solche zu bewerten und zu akzeptieren. Die entscheidende Frage ist, welche Not so groß sein kann, das Kind zu töten. Jedenfalls befand sich keine Frau unter den Täterinnen, die Opfer einer Vergewaltigung wurde und das Kind aufgrund einer vorausgegangenen Viktimisierung tötete. Ferner litt keine der Täterinnen an einer unheilbar schweren Erkrankung, die ein Aufwachsen des Kindes ohne Mutter verursacht hätte. Keine der Frauen wäre zum Tatzeitpunkt am Aufbau von Karrieremöglichkeiten durch die Existenz eines Kindes erheblich benachteiligt worden. Bleibt die Frage, ob bei jungen Schülerinnen eine Ausnahmesituation durch eine potenzielle Gefährdung des Schulabschlusses gesehen werden kann. Wiegt der Abschluss höher als ein Menschenleben? Hätte sich tatsächlich keineswegs eine Option gefunden, Kind und Prüfungsvorbereitung gelingend zu vereinen? Jene Frauen, die sich blind dem Partner unterwerfen und sich damit bereits im pathologischen Bereich befinden, könnten vielleicht eine derartige Notsituation ausmachen. Vielleicht! Quelle: Institut für Rechtsmedizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 9