Wissenschaft  und Forschung

Eine entscheidungspsychologische Lesart von digitalen Varianten des Vorkassebetrugs

Von Till Neuhaus M.Ed., M.A., M.A., Bielefeld


Wie bereits hinsichtlich der Aspekte Autorität, Knappheit und Reziprozität ausgeführt, versuchen Betrüger alles, um die Frage, mit der sich das potenzielle Opfer auseinandersetzen soll auszutauschen bzw. anders zu rahmen. Dies geschieht insbesondere im letzten sozialpsychologischen Impuls der Hook-Phase, dem Versuch Sympathie zu erzeugen21. Durch die Schaffung von Sympathie soll angeleitet werden, dass das potenzielle Opfer sich nicht mehr primär die Frage stellt, ob er/sie Geld überweisen soll, sondern, ob er/sie den Betrüger tendenziell mag bzw. sympathisch findet. Dies versuchen Scammer in E-Mails auf vielfältige Arten und Weisen, wobei nur exemplarische Versuche skizziert werden können. Prominente Beispiele für den Versuch Sympathie zu erzeugen ist das fingieren von Unglücksgeschichten, seien es Krankheiten, Unfälle oder andere Schicksalsschläge. Dabei wird versucht, eine – aufgrund von geteilten Eigenschaften – in-group Mentalität entstehen zu lassen22. Und auch wenn der Empfänger selbst nicht von einem Schicksalsschlag gebeutelt ist, so besteht immer noch die vergleichsweise große Chance im näheren Umfeld des Opfers auf Kranke oder Verunfallte zu stoßen und so Nähe (und damit Sympathie) suggerieren zu können. Dieses Vorgehen lässt sich empirisch anteilig damit belegen, dass in betrügerischen E-Mails aktuelle Ereignisse – dies konnte für 9/11 und den Afghanistankrieg nachgewiesen werden – aufgegriffen werden, in der Hoffnung jemanden zu adressieren, der von ebendiesen Ereignissen betroffen ist. Aber nicht nur über die artifizielle Konstruktion einer in-group wird versucht Sympathie seitens der potenziellen Opfer zu erzeugen, denn es spielt noch ein zweiter, menschlicher Mechanismus eine zentrale Rolle: Das menschliche Selbstbild. Die meisten Personen möchten gute Menschen sein. Eine Weisheit aus der Werbepsychologie besagt, dass Produkte nicht auf der Basis erworben werden, wer wir sind bzw. was wir brauchen, sondern wer wir gerne sein möchten. Unter ähnlichen Gesichtspunkten sollten Betrugsmails betrachtet werden, denn sie suggerieren, dass sie eine Chance darstellen zu beweisen, dass die adressierte Person ein guter Mensch ist. Zusammen mit der allgegenwärtigen Tendenz Mitleid – als zentraler Ausdruck des (Mit-)Menschseins23 – zu zeigen, können diese Impulse das Gefühl kreieren, dass man den Absender der Nachricht tendenziell sympathisch findet und in der Folge gerne unterstützen möchte.


Wie hoffentlich gezeigt werden konnte, verwenden Nigerian Scammer in der Hook-Phase des Betrugs vielfältige Mechanismen, die die Entscheidungsarchitektur des potenziellen Opfers bewusst und im Sinne der BetrügerInnen verändern sollen. Dabei beuten sie sowohl evolutionäre wie auch gesellschaftlich perpetuierte Verhaltensmuster aus und tun dies beinahe ausschließlich über sprachliche und narrative Werkzeuge. Diese Werkzeuge konnten anteilig über die Fokussierung auf die Impulskategorien Autorität, Knappheit, Reziprozität und Sympathie erschlossen werden. Die Hook-Phase endet sobald das Opfer dem Betrüger Geld hat zukommen lassen, wobei die initiale Summe von nachrangiger Bedeutung ist. Von dort an beginnt die Line-Phase, die sich durch möglichst lange Aufrechterhaltung sowie kostenmäßig Eskalation des Geldtransfers kennzeichnet, quasi ein „please hold the line“ in einer äußerst teuren Warteschleife.

 

 

4 Das Opfer auf Spur halten – die Line-Phase


In der Line-Phase fingiert der Betrüger stetig neue Hindernisse, die ihn daran hindern auf sein Vermögen zuzugreifen. In den narrativen Ausgestaltungen können dies verschiedene Arten von Gebühren oder Kosten sein, die natürlich nur mit Hilfe des gütigen Gebers beglichen werden können. Ebenso selbstverständlich versichert der – nun von zahllosen Gebühren heimgesuchte – Versender der betrügerischen Mails, dass auch diese Überweisungen um ein Vielfaches zurückgezahlt werden, sobald er auf seinen vermeintlichen Reichtum zugreifen kann. Während seitens des Betrügers eine stetige Kosteneskalation forciert wird, ist das Opfer dreierlei Effekten ausgesetzt, die sich anteilig gegenseitig bedingen bzw. verstärken. Diese Effekte sind im Feld der Kognitions- und Sozialpsychologie verortet, werden in der Folge kurz dargestellt und können anteilig erklären, wieso das Betrugsopfer – trotz eskalierenden Kosten – diesem irrationalen Handeln die Treue hält.


Der erste Effekt, der in dieser Phase des Betrugs zum Tragen kommt, ist der Wunsch des Opfers nach Konsistenz im Handeln. So konnte bereits Leon Festinger24 und Carl Rogers25 unabhängig voneinander in den 1950er Jahren zeigen, dass Konsistenz – in diesen Fällen zwischen Wertvorstellungen und Handlungen – ein menschliches Grundbedürfnis darstellt, dessen Nichtbefriedigung zu (nur schwierig auszuhaltenden) kognitiven Dissonanzen führen kann. Festinger argumentiert in seiner Studie, dass Probanden die Tendenz aufweisen (können), die objektiv wahrnehmbare Welt umzuinterpretieren bzw. anders wahrzunehmen anstatt ihre Glaubensgrundsätze anzupassen. Auf den Nigerian Scam angewendet bedeutet dies, dass die viktimisierte Person ebenso eher Tendenzen zeigt dem Betrüger zu glauben, anstatt die Alternative ins Auge zu fassen. Die Betrachtung von Alternativen gestaltet sich im Rahmen des Nigerian Scams als besonders schwierig, da die Grundannahme – ich bin eine wohltätige, gutmütige Person, die jemandem in Not hilft – wesentlich angenehmer zu empfinden ist als die zu betrachtende Alternative, die das Opfer als naiv und ausgebeutet charakterisiert26.


Der zweite Effekt, der die Kosteneskalation begünstigt, hat etwas mit modifizierter Risikowahrnehmung in Abhängigkeit zu wahrgenommen Verlusten zu tun. Im Normalfall sind Menschen risikoavers, da – evolutionär gesprochen – Verluste das Überleben stärker gefährden als Gewinne es potenziell begünstigen. Dies manifestiert sich bspw. in wohldokumentierten Effekten wie der Verlustaversion27. Diese Daumenregel besagt, dass Verluste von Menschen ca. doppelt so stark wahrgenommen werden wie Gewinne des gleichen Betrags: Ein verlorener Euro schmerzt so sehr wie ein Gewinn von zwei Euro Freude bereitet. Diese tendenziell risikoaverse Grundausrichtung verändert sich allerdings, wenn die betroffene Person – nach Konsultation ihres mentalen Buchführungssystems – das Gefühl hat sich in der Verlustzone zu befinden. Dann nämlich sind Menschen tendenziell bereit größere Risiken einzugehen, um sozusagen die gemachten Verluste zu kompensieren – ein hochgradig irrationales und unter Umständen gefährliches Verhalten28. Das Betrugsopfer hat zu diesem Zeitpunkt mindestens eine (vielleicht sogar mehrere) Überweisung getätigt, befindet sich also in der Verlustzone und ist somit bereit, höhere (monetäre) Risiken zur Kompensierung des bisherigen Verlustes einzugehen. Diese sunken-cost-fallacy – der Fakt, dass man bereits verlorene Ressourcen mit höheren Einsätzen wiedergutmachen möchte – begünstigt die Absichten des Betrügers, der graduell höhere Summen einfordert, immer mit dem Versprechen den Geber zeitnah zu entschädigen bzw. reich zu entlohnen.


Letztlich profitieren die Betrüger noch von einem dritten Effekt in der Line-Phase: Der graduellen Migration von Entscheidungsprozessen. Während die Initialentscheidung Geld zu versenden mit viel Mühe und Aufwand seitens der Betrüger modifiziert worden ist, automatisieren sich diese Entscheidungsprozesse bei Wiederholung derselben Entscheidung zusehends; dies gilt, selbst wenn die Geldsumme sich ändert/erhöht. Während also anfangs lediglich eine kleine Summe versandt wurde, begünstigt diese Handlung die Wiederholung einer vergleichbaren Handlung in der Zukunft. Die hier skizzierte Migration von Entscheidungsprozessen – vom bewusst und analytisch entscheidenden System hin zum unbewussten und automatisch agierenden – wird sicherlich noch von dem bereits diskutierten Wunsch nach Konsistenz begünstigt und hilft Betrügern ihre Opfer längerfristig zu viktimisieren.


Die Line-Phase kann unterschiedlich lange andauern und endet erst, wenn das Opfer entweder anfängt den Betrug zu hinterfragen, von Externen instruiert wird oder der Betrüger aus anderen Gründen den Kontakt abbricht. Da die Zahlungen freiwillig geleistet worden sind und meist über Geldvermittlerdienste ins Ausland versandt worden sind, ist die Wiederbeschaffung des Geldes meist unmöglich. Hinzu kommt der Umstand, dass die Täter unter falschen Namen agieren, was die Strafverfolgung extrem erschwert. Der Abbruch des Kontaktes ist ebenso gleichbedeutend der Eintritt in die Sinker-Phase, in der das Opfer finanziell und bzgl. seines/ihres Selbstbildes geschädigt zurückbleibt.

 

5 Transfer und Ausblick


Wie dieser Beitrag zeigen konnte, handelt es sich bei dem Nigerian Scam um einen psychologisch sowie kommunikationstheoretisch hochgradig ausgeklügelten und durchdachten Betrug, der lediglich sinnbildlich für andere Betrugsformate im digitalen Raum steht. Denn auch wenn der Nigerian Scam tendenziell rückläufig erscheint, erhöht sich die Anzahl digital verübter Straftaten stetig, wobei angenommen werden kann, dass die skizzierten Prozesse und Mechanismen auf andere Arten betrügerischer E-Mails transferierbar sind. Darüber hinaus deutet dieser Beitrag das Potenzial sozial- und kognitionspsychologischer Einsichten für die Rahmung, Strukturierung und Erklärung solch gearteter Betrugsmaschen an. Auch diesbezüglich kann die Vermutung geäußert werden, dass zentrale Bausteine ebendieser entscheidungspsychologischen Forschung für die vertiefte Auseinandersetzung mit digitalen (aber ebenso analogen) Betrugsvorhaben genutzt werden können.


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