Wissenschaft  und Forschung

Eine entscheidungspsychologische Lesart von digitalen Varianten des Vorkassebetrugs

Von Till Neuhaus M.Ed., M.A., M.A., Bielefeld

 

1 Einleitung

 

Durch E-Mails initiierter Betrug verursacht nach Schätzungen knapp 3 Mrd. US-Dollar Schaden jährlich2. Gleichzeitig kann angenommen werden, dass eine Vielzahl an Taten – aufgrund von Scham seitens der viktimisierten Personen – gar nicht erst erfasst wird. Während ein Großteil der Publikationen im Feld Naivität auf Seiten des Opfers als zentrale Erklärung heranzieht, möchte dieser Beitrag exemplarisch einen idealtypischen Betrug3 darstellen und entscheidungspsychologisch rahmen, sodass die – seitens der Täter genutzten – Mechanismen in ihrer Wirkungsweise und Funktion anteilig erklärt werden können. Dabei fokussiert dieser Beitrag auf eine Variante des Vorkassebetrugs, genauer gesagt auf die narrative Ausgestaltung in Form des sog, Nigerian Scam. In dieser Variante des Vorkassebetrugs wird die Geschichte eines, häufig in Nigeria beheimateten, Adligen, Priesters oder Geschäftsmannes präsentiert, der sich in einer misslichen Notsituation befindet und lediglich etwas Geld benötigt, um erneut auf sein – im Moment nicht verfügbares – Vermögen zugreifen zu können. Dabei verspricht der Sender der Nachricht, seinen Helfer großzügig zu entlohnen, sobald er erneut auf seinen Reichtum zugreifen kann. Aufgrund der Vielzahl an betrügerischen Mails existieren zahllose Variationen dieses Betrugs, ebenso sind alternative narrative Ausgestaltung möglich. Nichtsdestotrotz kann festgehalten werden, dass Vorkassebetrug in seiner basalsten Form auf eine 400-jährige Geschichte zurückblickt und im zeitlichen Verlauf in verschiedenen Kommunikationsformaten und -medien durchgeführt worden ist4. Daher kann angenommen werden, dass die Betrugsmechanismen Grunddynamiken menschlichen Denkens und Handelns adressieren, die dieser Aufsatz anteilig skizzieren möchte. Damit kann dieser Beitrag sowohl aus der Perspektive des durch E-Mails initiierten Betrug gelesen werden, ebenso werden sich Teile der Ausführung auch in anderen Betrugsformaten wiederfinden und so für die Prävention nutzbar gemacht werden können.


Um die Finessen des Nigerian Scam angemessen rahmen zu können, verwendet dieser Beitrag die Theorieschule des Nudging5. Das Konzept des Nudging geht davon aus, dass Menschen im Prozess der Entscheidungsfindung eine Entscheidungsarchitektur – alle als relevant ausgemachten sowie verfügbaren Impulse – konsultieren. Darüber hinaus basiert Nudging auf der Annahme, dass Menschen zwei, für unterschiedliche Arten von Entscheidungen notwendige, Entscheidungssysteme besitzen: Ein langsames, analytisch und reflektiertes System sowie ein intuitives, schnelles und unbewusst agierendes System. Die Kunst des Nudging besteht nun darin, die Entscheidungsarchitektur durch bewusste Umgestaltung so zu verändern, dass das intuitive Entscheidungssystem primär agiert und damit bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher werden als andere. Die Umgestaltung von Entscheidungsarchitekturen kann bspw. durch die Präsentation von Daten geschehen – medizinische Laien, aber auch ExpertInnen entscheiden in einer Behandlungssituation unterschiedlich, je nachdem ob eine Überlebens- oder eine Sterbewahrscheinlichkeit ausgewiesen wird, selbst bei numerisch gleichen Werten6 – oder aber durch das bewusste Setzen sozialpsychologischer Impulse. Im Folgenden wird dieser Aufsatz den Nigerian Scam zeitlich phasieren und jede Phase hinsichtlich genutzter Nudges befragen. Die Phasierung orientiert sich an der im anglophonen Raum üblichen Abfolge zur Beschreibung von Betrugsmaschen: bait, hook, line und sinker7. Jede Phase wird eingangs idealtypisch skizziert – was macht bzw. schreibt ein Scammer? –, anschließend werden jene Tätigkeiten durch die Perspektive des Nudging reflektiert, sodass einerseits die Komplexität und psychologische Vielschichtigkeit des Vorkassebetrugs ersichtlich und andererseits die Perspektive des Opfers auf Seiten der Strafverfolgung verständlicher wird. Denn erst durch die Berücksichtigung beider Perspektiven kann Prävention effektiv und zielgerichtet vorangetrieben werden.

 

2 Das Auswerfen des Köders – die Bait-Phase


Die Initiatoren des Betrugs versenden ihre Mails an Adressen, die sie entweder erworben, erbeutet oder die ihnen auf andere Arten und Weisen verfügbar gemacht worden sind. Wichtig hierbei ist, dass in dieser Phase des Betrugs keine Vorauswahl hinsichtlich der Adressaten getroffen werden kann und aufgrund der Kommunikationsmodalitäten – E-Mails sind günstig, weltweit verfügbar, skalierbar und direkt – getroffen werden muss. In postalischen Varianten von Vorkassebetrug wurden aktiv Mitglieder von Kirchen, Wohltätigkeitsorganisationen oder Selbsthilfegruppen adressiert, da sich Betrüger bei diesen Gruppen – aufgrund von ausgeprägterem Mitgefühl bzw. vermutetem Geldmangel – höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten ausrechneten8. Während in der postalischen Variante die Kosten (in Form von Papier und Porto) relativ am Anfang des Betrugs stehen, verschiebt sich dieses Gefüge in der digitalen Variante des Vorhabens. Hier entstehen (Personal-)Kosten im Verlauf durch das kontinuierliche Schreiben von Mails, wohingegen die Kommunikation selbst quasi kostenfrei ist9. Da allerdings auf Basis der verfügbaren E-Mailadressen keine Sortierung vorgenommen werden kann, nutzen die Betrüger den Mechanismus der Selbstselektion, um den Betrug für sich monetär attraktiv zu gestalten. Anstatt Szenarien zu konstruieren, die von vielen Internetnutzern beantwortet werden würden, verfassen die Initiatoren des Betrugs Geschichten, die – für wohlinformierte Internetnutzer – nach Betrug klingen. Dazu gehört bspw. die Nennung des Standortes Nigeria, der in Internetkreisen mit Betrug gleichgesetzt ist. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass von ca. 12,5 Millionen ausgesendeten Betrugsemails lediglich eine beantwortet wird10; allerdings können die Initiatoren des Betrugs bei dem/der Antwortenden davon ausgehen, dass sich diese Person nicht besonders gut im Internet auskennt, vermutlich fortgeschrittenen Alters ist und wahrscheinlich sozial isoliert lebt – optimale Bedingungen für den geplanten Vorkassebetrug. Durch diese selbstgesteuerte Vorausauswahl modifizieren die Betrüger das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu ihren Gunsten, da jene, die ihnen antworten (und für die Zeit und Personal aufgebracht werden müssen) zu einer höheren Wahrscheinlichkeit Geld überweisen werden, wohingegen falsch-positive (Antwortende, die später kein Geld überweisen) minimiert werden. Die initiale Adressierung via E-Mail dient also, ökonomisch gesprochen, der Zielgruppenoptimierung11.

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