Wissenschaft  und Forschung

Eine entscheidungspsychologische Lesart von digitalen Varianten des Vorkassebetrugs

Von Till Neuhaus M.Ed., M.A., M.A., Bielefeld

 

3 Alles hat einen Haken – die Hook-Phase


Die Hook-Phase kann sozusagen als das Kernstück des Vorkassebetrugs betrachtet werden und beginnt, sobald ein potenzielles Opfer auf eine betrügerische E-Mail geantwortet hat. In der Folge werden typische Vorgehensweisen vorgestellt und analysiert; einige dieser Vorgehensweisen können bei ausgewählten Varianten des Vorkassebetrugs auch schon in der ersten Nachricht vorgefunden werden, der Zweck bzw. die Funktionsweise bleibt allerdings identisch. Das Ziel der Hook-Phase besteht darin, dass die adressierte Person dem/der BetrügerIn Geld überweist, wobei die initiale Summe zweitrangig ist. Die in dieser Phase seitens der Betrüger gesetzten sozialpsychologischen Impulse – Autorität, Knappheit, Reziprozität und Sympathie12 – werden zusätzlich vom Truth Default13begünstigt. Dabei handelt es sich um die menschliche Tendenz, davon auszugehen, dass man im Austausch mit Mitmenschen grundsätzlich mit Wahrheiten konfrontiert ist. Der Truth Default ist in verschiedenen Personen unterschiedlich stark ausgeprägt, aufgrund der vorangegangenen (Selbst-)Selektion handelt es sich in dieser Phase des Betrugs tendenziell um Personen mit stark ausgeprägtem Truth Default.


Der bekannteste Aspekt des hier skizzierten Vorkassebetrugs ist die Anmaßung einer Autoritätsposition, wie bspw. eines Regierungsvertreters, Monarchens, erfolgreichen Geschäftsmannes oder Priesters. Im Rahmen der Hook-Phase beutet dieser sozialpsychologische Impuls zweierlei – erlernte und gesellschaftlich tief verwurzelte – Heuristiken bzw. Denkabkürzungen aus: Autorität und Knappheit. Menschen organisieren sich seit jeher in Kompetenzhierarchien, in denen jene, die mehr bzw. passgenauere Fähigkeiten in einem Bereich aufweisen ebenso mehr Befugnisse haben. Dabei ist hervorzuheben, dass ein Großteil dieser Kompetenzhierarchien funktional und mit meritokratischen Gesellschaftsansprüchen vereinbar ist. Auf Basis ebenjener Kompetenzhierarchien etablierte sich im Verlauf der letzten 150 Jahre ein stark ausdifferenziertes Zertifizierungssystem für verschiedene gesellschaftliche Bereiche. Jene Zertifizierungen dienen ebenso als Denkabkürzung, da im Falle einer vorliegenden Zertifizierung (bspw. eines Diploms oder einer Approbation) von einer vertieften Kenntnis des Feldes sowie, damit einhergehend, Kompetenz ausgegangen werden kann14. Dies erleichtert (vor allem Laien) die Unterscheidung zwischen ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen. Dabei ist die Wirkmächtigkeit von Autorität nicht zu unterschätzen, wie bspw. die Milgram Experimente15 oder Fälle von Amtsanmaßung/Betrug (bspw. im medizinischen Sektor) verdeutlichen. Aufgrund gesellschaftlicher Lern- und Sozialisationsprozesse sind Menschen tendenziell anfällig für Autoritätshörigkeit – ein Umstand, den die Nigerian Scammers durch das Vorspielen einer solchen Autoritätsposition versuchen auszunutzen. Dabei spielt es eine besondere Rolle, wie ein solcher Anspruch glaubwürdig kommuniziert werden kann. In der Urversion des Vorkassebetrugs, dem sog. Spanischen Gefangenen, erhielten potenzielle Opfer im 17. Jahrhundert einen Brief auf feinem Papier. Da dies für die Zeit vergleichsweise untypisch war, konnten die Betrüger ihrer Geschichte durch die Wahl und Qualität des Mediums mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Dies geschieht im 21. Jahrhundert nicht mehr, was ebenso für die Notwendigkeit der oben skizzierten Selbstselektion spricht.


Neben dem angesprochenen Autoritätsimpuls, dient die Anmaßung eines Titels bzw. einer hochrangingen Position noch einem zweiten Zweck: sie suggeriert Knappheit, denn wie viele Leute werden schon von Monarchen, wohlhaben Geschäftsleuten oder Klerikern persönlich adressiert. Dabei funktioniert das Prinzip der Knappheit in zwei Richtungen. Einerseits bedient sie das menschliche Bedürfnis des Besonders-seins, denn – so wird es zumindest gesellschaftlich kommuniziert und erlernt –, was knapp ist, ist tendenziell besonders und damit wertvoll16. Andererseits modifiziert die Wahrnehmung eines Gegenstandes oder einer Möglichkeit als knapp (und damit wertvoll) auch die Beurteilung von Risiken, da nun die Bedauernsaversion (engl. regret aversion) zu wirken beginnt. Bei der Bedauernsaversion versucht der/die Betroffene eine Entscheidung zu treffen, aber statt diese auf Basis verfügbarer Merkmale zu treffen, imaginiert der/die EntscheiderIn stattdessen sich selbst bzw. seine/ihre emotionalen Zustände in der Zukunft unter Eintritt verschiedener Szenarien17. Die Originalfrage – sollte ich jemanden, den ich nicht kenne, Geld überweisen? – wird abgelöst durch die Frage Wie würde ich mich fühlen, wenn ich diese Möglichkeit verpasse? Statt also das rationale, besonnene und langsame Denksystem für diese Entscheidung heranzuziehen, konsultieren viktimisierte Personen vornehmlich das schnelle, intuitive und unbewusst agierende System. Dabei kann ihnen unter Umständen nicht auffallen, dass sie im Verlauf die zu beantworteten Frage (unbewusst) ausgetauscht haben. Für eine solche Interpretation der Denkprozesse spricht, dass Knappheits- und Autoritätsimpulse häufig mit Wörtern der Dringlichkeit bzw. des begrenzten temporalen Kontextes seitens der Betrüger kommuniziert werden18. Es scheint sich so darzustellen, dass die BetrügerInnen sich der verschiedenen Denkmodi (schnell/intuitiv vs. langsam/analytisch) bewusst sind und aktiv versuchen den schnellen und tendenziell fehlerbehafteteren zu adressieren – bspw. über Autoritäts- und Knappheitsimpulse.


Neben den eher direkten Autoritäts- und Knappheitsimpulsen nutzen viele Vorkassebetrüger noch Varianten der vermeintlich im Ungleichgewicht befindlichen Reziprozität. Hierbei handelt es sich um ein mentales Buchführungssystem, das Menschen vermittelt, ob sie – im Austausch mit ihrer Umwelt – tendenziell Schulden haben oder übermäßig gütig waren19. Die Existenz dieses menschlichen Mechanismus hat höchstwahrscheinlich evolutionäre Wurzeln, da langfristige Kooperation eine evolutionär-stabile Überlebensstrategie darstellt. Damit eine solche Kooperation allerdings langfristig und mit verschiedenen Akteuren funktioniert, muss sich das Individuum vor egoistischen Trittbrettfahrern schützen und andererseits schauen, dass er/sie selbst stets einigermaßen ausgewogen zur Umwelt steht. Mentale Buchführung ist kein punktgenaues System, sondern vermittelt, ob man sich eher im Ungleichgewicht befindet oder nicht. Betrachtet man versendete Betrugsmails unter diesem Gesichtspunkt, so fällt auf, dass eine Vielzahl der Nachrichten versucht, Vertrauensvorschuss zu leisten. Dies geschieht bspw. durch das Anhängen von – wahrscheinlich gefälschten – Ausweisdokumenten, die die Glaubwürdigkeit des Senders verifizieren sollen. Hinzu kommen Bekundungen, die die Gutmütigkeit des Empfängers ins Zentrum rücken. Beide Maßnahmen haben das Ziel das unbewusst agierende Reziprozitätssystem zu adressieren und – ohne die Verwendung von monetären/materiellen Ressourcen – ins Ungleichgewicht zu rücken20. Dem potenziellen Opfer erscheint es zu diesem Zeitpunkt so, als ob er/sie Geld überweisen müsse, wobei sich dieser Drang (neben den oben skizzierten Impulsen) aus dem Gefühl speist, dass man sozusagen (immaterielle) Schulden bei der anderen Person habe – bei der finalen Konsultation der verfügbaren Entscheidungsarchitektur ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor.

 


Ergebnis eines Betruges.