Die Rolle der Gewalt bei der Radikalisierung von Linksextremisten

Von Dr. Udo Baron, Hannover


Die autonome Gewaltbereitschaft ist durchaus auch politisch zu verstehen, denn sie basiert auf einem klaren Feindbild, zu dessen tragenden Säulen der Staat und seine Repräsentanten sowie Rechtsextremisten bzw. diejenigen, die Linksextremisten dafür halten ebenso gehören wie mittlerweile auch der linksextremistischen Szene kritisch gegenüberstehende Wissenschaftler. Politisch motivierte Gewalt dient Autonomen als „Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft“, denn um die angestrebte herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten, muss zuvor der demokratische Rechtsstaat als Garant der bisherigen Ordnung beseitigt werden. Gewalt hat dabei für Autonome eine Außen- und eine Binnenwirkung. Nach außen dient sie u.a. dazu, öffentliche, insbesondere mediale Aufmerksamkeit, zu generieren und die eigenen Interessen durchzusetzen. Darüber hinaus hat sie zum Ziel, die Kosten für bestimmte politische Entscheidungen so in die Höhe zu treiben, dass diese, zumindest langfristig, politisch nicht mehr durchsetzbar sind. Zugleich wirkt die Gewalt nach innen integrations- und identitätsstiftend für die jeweiligen Bezugsgruppen, denn sie gibt ihren Akteuren ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ gegen den demokratischen Rechtsstaat. Die gewaltsame Auseinandersetzung mit der Polizei dient dabei als eine Art „Ritterschlag“ für den einzelnen Autonomen, denn sie fördert seine Glaubwürdigkeit, entschlossen und aktiv für die Ziele der autonomen Szene einzustehen. Durch ein solches Verhalten kann der einzelne Autonome seinen Aufstieg in den eigentlich nicht existenten Hierarchien innerhalb seiner Bezugsgruppe beschleunigen. Vor allem männlichen Autonome dient der Einsatz von Gewalt zudem dazu, sich gegenüber dem anderen Geschlecht zu profilieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Gewalt – wie auch im Rechtsextremismus und Islamismus – ästhetisiert und heroisiert wird. So stilisieren sich Autonome gerne in Videos, auf Fotos und Plakaten als „lonesome cowboy“ oder „lonesome streetfighter“ vor brennenden Barrikaden oder Autos und aufgerüsteten Polizeiketten. Dadurch unterstreichen sie zugleich die Faszination, die Gewalt auf sie ausübt. Autonome huldigen förmlich der Gewalt als Mittel von Macht und Stärke. Gewalt wird somit zum einem unverzichtbaren Lebensgefühl und zu einem Symbol für die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen. In manchen Situationen herrscht daher sogar eine regelrechte Gewaltbegeisterung, denn „es macht einfach Spaß, den Bullen eins in die Fresse zu hauen…“ wie es in einem ihrer Selbstzeugnisse heißt.5


Ihren Ausdruck findet autonome Gewalt in erster Linie in Massenmilitanz und klandestinen Aktionen. Massenmilitanz tritt dabei vornehmlich am Rande von Demonstrationen in Erscheinung. Konspirativ agierende Kleingruppen führen zudem Brand- und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Luxus- und Firmenfahrzeuge, aber auch gegen öffentliche Einrichtungen wie Jobcenter, Polizeistationen und Behörden durch. Im Gegensatz zu den „klassischen“ Autonomen ist das Verhältnis postautonomer Gruppierungen wie der "Interventionistischen Linken" (IL) und dem Bündnis „…umsGanze!kommunistische Bündnis“ (uG) zur Gewalt widersprüchlicher. Einerseits distanzieren sie sich von der Anwendung von Gewalt als politisches Mittel. Andererseits betonen sie: „Unsere Mittel und Aktionsformen, defensive wie offensive, bestimmen wir also strategisch und taktisch in den jeweiligen Situationen, so wie wir sie verantworten können … Es geht uns darum, die kollektive Fähigkeit herzustellen, die Wahl der Mittel nach unseren Zielen selbst zu bestimmen“ wie die IL in ihrem Zwischenstandspapier festhält.6 Die Absicht, das demokratische Spektrum als potentiellen Bündnispartner nicht zu verlieren, dürfte für diese zweideutige Haltung ursächlich sein. Ihr Verhältnis zur Gewalt kann daher nur als taktisch bezeichnet werden, zumal sich die IL in ihren Papieren bislang nie eindeutig von der Gewalt als Lösungsmittel für politische Probleme distanziert hat.

 

3 Gewaltbegriff


Um die von Autonomen ausgehende Gewalt richtig einordnen und ihre Bedeutung für deren Radikalisierung verstehen zu können, muss man sich den für sie und die Postautonomen geltenden Gewaltbegriff vergegenwärtigen. In Anlehnung an den norwegischen Friedensforscher Johann Galtung liegt die Ursache für Gewalt in den „kapitalistischen Produktionsverhältnissen.“ Diese üben eine auf gesellschaftlichen Strukturen wie Werte, Normen, Institutionen und Machtverhältnissen basierende „strukturelle Gewalt“ auf ihre Bürger aus. Diese Gewalt ist systemimmanent, drückt sich durch Ungleichheit unterschwellig aus und hindert den Einzelnen daran, sich seinen Anlagen, Möglichkeiten und Wünschen entsprechend frei zu entfalten und verwirklichen zu können. Seine Selbstverwirklichung bleibt somit hinter der in einer Gesellschaft möglichen zurück.7 Mit dieser Interpretation wird auch zugleich das Täter-Opfer-Narrativ unmissverständlich definiert. Der Staat ist immer der Täter und der Autonome immer das Opfer. Da diese „Diktatur der Gewalt“ nach linksextremistischer Auffassung den kapitalistischen Systemen inhärent ist, leiten nicht nur Autonome bzw. Postautonome, sondern Linksextremisten im Allgemeinen daraus unter Berufung auf den Philosophen und Sozialwissenschaftler Herbert Marcuse ein Naturrecht von „unterdrückten“ Minderheiten auf Widerstand ab. Marcuse prägte dafür das Prinzip „Gegengewalt“. Es versteht sich ausschließlich als Reaktion auf die vermeintliche „Gewalt des Systems“ und somit als ein reaktives und dadurch legitimes Mittel, um die herrschende Gewalt aufzubrechen und Veränderungen herbeizuführen.8 Vor diesem Hintergrund lehnen Autonome auch das staatliche Gewaltmonopol ab, da sie selber entscheiden wollen, gegen wen sie wann und wie Gewalt anwenden.


Schon seit Jahrzehnten ist vor diesem Hintergrund in der autonomen Szene eine sog. Militanzdebatte virulent. In ihrem Kern dreht sie sich um die Anwendung von Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen. Zwar ist die gezielte Tötung von Menschen seit der Ermordung zweier Polizisten durch den Autonomen Andreas Eichler am 2. November 1987 aus einer Demonstration gegen die Erweiterung des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens um die Startbahn West heraus bislang innerhalb der linksextremistischen Szene nicht mehr vermittelbar. Dennoch versuchen immer wieder radikale Kreise innerhalb des autonomen Spektrums diesen Konsens zu kippen.9

 

4 Radikalisierung – Begriffsbestimmung und Ursachenforschung


Betrachtet man die Rolle der Gewalt in der linksextremistischen Szene, so stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Radikalisierung und Gewalt und eine mögliche Wechselwirkung zwischen beiden. Um sich dieser Frage anzunähern, gilt es, zunächst den Begriff „Radikalisierung“ näher zu definieren. Zwar existiert keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs, dennoch besteht Einigkeit darüber, dass die Radikalisierung ein dynamischer, individueller und multifaktorieller Prozess ist, der die zunehmende Annäherung einer Person an extremistische Einstellungen und Handlungen beschreibt. Aus diesem Grunde wird auch von Radikalisierungsprozessen gesprochen.10 Das Bundeskriminalamt definiert den Begriff „Radikalisierung“ als „die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel, bis hin zur Anwendung von Gewalt, zu befürworten, zu unterstützen und/oder einzusetzen.“11 Die Kampagne „Zivile Helden“ der Polizei beschreibt Radikalisierung wie folgt: „Eine Radikalisierung beschreibt den Prozess, in dem ein Einzelner oder eine ganze Gruppe extrem religiöse, soziale oder politische Einstellungen und Überzeugungen entwickelt oder übernimmt und gegebenenfalls eine dementsprechende Ideologie verinnerlicht.“12 Mit „Radikalisierung“ wird somit ein Prozess beschrieben, in dem ein Individuum oder eine Gruppe radikale oder extreme politische, soziale oder religiöse Einstellungen und Überzeugungen entwickelt bzw. übernimmt und sich gegebenenfalls eine dementsprechende Ideologie zu eigen macht.


Individuelle, soziale und gesellschaftliche Risikofaktoren wie Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung, schulische und berufliche Misserfolge, fehlende soziale Kontakte, ausbleibende Wertevermittlung, prekäre soziale Lebensumstände, Armut – dass alles kann dazu beitragen, dass Menschen anfällig werden für extremistische Ideologien und Organisationen. Wachsende soziale Ungleichheit, fehlende Anerkennung, ein ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden und fehlende Zukunftsperspektiven sind ebenso weitere Risikofaktoren für eine Radikalisierung wie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, insbesondere, wenn sie mit Gewalt verbunden sind. An vorderster Stelle stehen in diesem Zusammenhang Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Jugend, erlitten in erster Linie durch das soziale Umfeld wie Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte. Persönliche Bekanntschaften mit Extremisten bzw. mit Personen aus deren Umfeld können ferner zu einer Hinwendung in diese Milieus führen. Hinzu können mit fortgeschrittenem Lebensalter vor allem ein Gefühl einer unerträglichen Ungerechtigkeit auf dieser Welt und der innere Drang, dagegen aktiv werden zu müssen sowie Gewalterfahrungen in Zusammenhang mit dem Staat, seinen Institutionen und Repräsentanten kommen. Vor allem die Konfrontation mit der Polizei als Repräsentanten des Staates und Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols sowie mit dem politischen Gegner, insbesondere mit Rechtsextremisten, kann dabei zu einem Vertrauensverlust in Staat und Gesellschaft und deren Ansätze zur Problembewältigung führen. Gewaltverherrlichende Bilder, Filme und Games wie sie in der digitalen Welt zu jederzeit und an jedem Ort abrufbar sind, können durch ihre aufputschende Wirkung und zumeist eindimensionale Problemlösung die Radikalisierung in die Gewalt beschleunigen. Dienen sie doch der Bestätigung eigener Positionen und fungieren somit als Echokammern einer Radikalisierung in die Gewalt.


Einen typischen Radikalisierungsverlauf gibt es vor diesem Hintergrund nicht. In einem Radikalisierungsprozess nimmt vielmehr eine Person nach und nach eine radikale Haltung ein, d.h. sie bezieht sich auf Werte und Ansichten, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Kennzeichnend für eine Radikalisierung ist somit die Verknüpfung einer radikalen Ideologie mit der Entschlossenheit, sie auch in die Tat umzusetzen. Man hat es praktisch mit einer zweifachen Radikalität zu tun: zum einen mit einer extremistischen Ideologie und zum anderen mit einer extremistischen Gewalttat. Leider fehlen bislang weitgehend sozialwissenschaftliche Studien zum Linksextremismus, die der Auseinandersetzung mit dieser Thematik ein empirisches Fundament geben könnten.