Recht und Justiz

Zum Verzicht auf die öffentliche Ordnung im VersFG BE und im VersG NRW

Von Prof. Michael Knape und Prof./LRD a.D. Hartmut Brenneisen, Berlin/Preetz


Sowohl im VersFG BE als auch im VersG NRW ist auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung verzichtet worden.2 Aufgrund der Vielfalt von Lagen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen stellt sich die Frage, ob dies ein kluger Schachzug des jeweiligen Gesetzgebers war.

 

1 Bedeutung der öffentlichen Ordnung

 

Auf den ersten Blick mag diese Frage wegen mangelnder Bestimmtheit dieses klassischen Schutzgutes des allgemeinen wie besonderen Polizei- und Ordnungsrechts, damit zugleich auch kraft fehlender Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, bejaht werden können.3 Denn unter „öffentlicher Ordnung“ wird die von der Verkehrssitte geprägte Gemeinschaftsordnung, die allgemeine Verkehrssitte oder der Zustand des von der Verkehrssitte geregelten Zusammenlebens der Menschen in der staatlichen Gemeinschaft verstanden.4 Wenn daher von der Gesamtheit der „ungeschriebenen Normen“ die Rede ist, handelt es sich trotz § 118 I OWiG5 nicht um Rechtsnormen im förmlichen Sinne. Nur so lässt sich nämlich die öffentliche Ordnung trennscharf von der öffentlichen Sicherheit abgrenzen, zu der u.a. die gesamte Rechtsordnung gehört.6

Schutzwürdig ist seit jeher eine „ungeschriebene Regel“ daher nur, wenn sie nicht geltenden Rechtsnormen widerspricht und auch nur dann, wenn sie das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit betrifft, nicht dagegen wenn sie sich auf seine Privatsphäre bezieht.7 Dieser Aspekt steht keinesfalls im Widerspruch zu § 2 III VersFG BE, wonach „dieses Gesetz sowohl für öffentliche als auch für nichtöffentliche Versammlungen gilt“. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Frage des zugelassenen Personenkreises in der jeweiligen Versammlung und deren Ausstrahlung nach außen in die Öffentlichkeit – trotz eines möglicherweise geschlossenen Teilnehmerkreises bei nichtöffentlichen Versammlungen – und nicht etwa auf die Privatsphäre des einzelnen Teilnehmers abgestellt.8

Kommen z.B. am 20. April mehrere Personen der rechten Szene in einer Wohnung zusammen, um Hitlers Geburtstag zu gedenken, handelt es sich um eine nichtöffentliche Versammlung in geschlossenen Räumen, insoweit also um eine sog. „geschlossene“ Versammlung. Hier liegt die Gefahr – soweit durch diese Personenzusammenkunft überhaupt öffentliche Interessen berührt werden – ausschließlich im Bereich der öffentlichen Ordnung; geltende Rechtsnormen werden durch die Versammlung nicht verletzt.9

Zu beachten ist jedoch, dass gerade das BVerfG in einer Vielzahl von Entscheidungen des Versammlungsrechts10 dieses Schutzgut heranzog; es brachte die öffentliche Ordnung bei Versammlungen unter freiem Himmel abgestuft in Ansatz. Das Gericht bestätigte zwar ausdrücklich den Grundsatz für Versammlungsverbote, die ebenso wie Auflösungen im Wesentlichen nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit in Betracht zu ziehen sind, so dass insoweit eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Allgemeinen nicht genügte.11 Gleichwohl relativierte es diese Auffassung aber insbesondere für Beschränkungen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie zum Verlauf der Veranstaltung.

 

2 Praktische Anwendungsfälle

 

Die öffentliche Ordnung schied demnach als Schutzgut unterhalb der Schwelle eines Versammlungsverbots nicht aus.12 Dies galt z.B. für das Mitführen von Reichskriegsflaggen des Kaiserreichs, soweit sich die Gefahr für dieses Rechtsgut aus der Art und Weise der Versammlungsdurchführung ergibt,13 aber auch für rechtsextremistische Demonstrationen am Holocaust-Gedenktag,14 wobei die Verlegung auf einen anderen Tag als zeitliche Beschränkung einzuordnen ist.15 Das BVerfG ließ somit beschränkende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung immer dann zu, wenn diese sich nicht auf die Verhinderung bestimmter Inhalte der kollektiven Meinungskundgabe erstreckten, sondern auf die Art der Zusammenkunft und kollektiven Meinungskundgabe, etwa wenn durch provokatives oder aggressives Auftreten ein Einschüchterungseffekt oder ein Klima der Gewaltbereitschaft erzeugt wurde.16 So stellt z.B. das Auftreten des sog. „Schwarzen Blocks“ der militanten Autonomen, soweit nicht nach wohl heute allgemeiner Auffassung vorrangig ein Verstoß gegen das Uniformverbot gem. §§ 9 II, 27 I Nr. 6 VersFG BE17 (Bußgeldtatbestand) bzw. gegen das Gewalt- und Einschüchterungsverbot (sog. „Militanzverbot“) gem. §§ 18 I Nr. 1, 27 VIII Nr. 1 VersG NRW (Straftatbestand) einschlägig ist,18 auch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar,19 weil von diesem ein bedrohlicher Gesamteindruck ausgeht, der einem geordneten menschlichen Zusammenleben widerspricht.20

 

3 Pro-russische Versammlungen


Vom Regelungsbereich beider Gesetze nicht erfasst ist z.B. die Motorradfahrt der pro-russisch-nationalistischen Rockergruppierung „Nachtwölfe“, die jedes Jahr am 9. Mai das russische Ehrendenkmal in Berlin-Treptow ansteuert.21 Diese demonstrative Aktion stellt zweifelsohne nur eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Die Fahrt in typischer Rockerstaffelung als „paramilitärisches Auftreten“ i.S.d. § 18 I Nr. 2 VersG NRW zu klassifizieren, kommt nicht in Betracht.22 Daran ändert bei bestehender Rechtslage auch die Tatsache nichts, dass sich diese Rockergruppierung mit den politischen sowie militärischen Zielen des russischen Präsidenten Putin ohne „Wenn und Aber“ identifiziert, dessen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine gutheißt und sie ihre Anwesenheit gerade an diesem Tag in Berlin als Machtdemonstration der russischen Föderation in Deutschland verstanden wissen will.

Des Weiteren sind bei friedlichen pro-russischen Protesten keine gerichtsfesten Beschränkungen der zuständigen Versammlungsbehörden23 möglich, soweit Teilnehmer beabsichtigen, Flaggen der russischen Föderation in geringer Anzahl mitzuführen.24 Dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung dies unter Beachtung der jeweils herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen ablehnt, liegt auf der Hand, besitzt dem Grunde nach aber keine rechtliche Relevanz.25

Falls solche Versammlungen jedoch auf das Billigen des von Russland gegen die Ukraine geführten Angriffskriegs sowie auf Verhaltensweisen abzielen, die dazu bestimmt und geeignet sind, Gewaltbereitschaft zu vermitteln und damit den „öffentlichen Frieden zu stören“, sind Beschränkungen nach dem VersFG BE und VersG NRW zulässig,26 wenn z.B. das massenweise Zeigen russischer Flaggen geplant ist, obwohl diese für sich genommen keinem Verbotstatbestand unterfallen.27 Entscheidend ist also stets der Eindruck, der mit der Demonstration vermittelt werden soll.

Weist in Berlin die Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport darauf hin, bei derartigen Versammlungen sei „eine Verstärkung der Traumatisierung oder gar erst ein Hervorrufen eines Traumas“ von Geflüchteten aus der Ukraine zu berücksichtigen, wird insoweit auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung abgestellt.28 Deshalb kann von der Versammlungsbehörde keine beschränkende Verfügung nach § 14 I VersFG BE – abgesehen von Fällen gem. § 14 I i.V.m. § 14 II Nr. 1 VersFG BE29 – wirksam erlassen werden; nichts anderes gilt im Land NRW.

Anders stellt sich die Rechtslage dar, soweit Teilnehmende beabsichtigen, z.B. an ihren Fahrzeugen zusätzlich das weiße „Z“-Symbol anzubringen. Dies kann durch beschränkende Verfügung verboten werden, weil ein Straftatbestand erfüllt ist.30 Bei Fahrzeugen mit wenigen Flaggen der russischen Föderation ohne „Z“-Symbol bleibt der Polizei/Versammlungsbehörde nur Raum zu deeskalierenden Kooperationsgesprächen im Rahmen des Konfliktmanagements vor und während des Versammlungseinsatzes, um drohende oder bestehende Konfrontation zielgruppenorientiert zu verhindern (§§ 3 IV, 4 I VersFG BE; § 3 VersG NRW).31

 

4 Gesetze auf dem Prüfstand


Die CDU bereitet im Land Berlin einen Änderungsantrag des VersFG BE vor; das Tatbestandsmerkmal „öffentliche Ordnung“ soll im Gesetz wieder aufgenommen werden.32 Zudem ist aus der Koalition heraus eine spätere Evaluation auf der Grundlage praktischer Erfahrungen und dann vorliegender Rechtsprechung angekündigt worden.33 Damit dürfte auch der Verzicht auf die öffentliche Ordnung auf den Prüfstand gestellt werden. Vergleichbares gilt für das Land Nordrhein-Westfalen. In der aktuellen Koalitionsvereinbarung ist für Ende 2023 im Zuge der Berichtspflicht nach § 34 VersG NRW eine „unabhängig(e) und wissenschaftlich(e)“ Evaluierung ausdrücklich festgeschrieben worden.34

 

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