Prävention

Polizeien und Kinderschutz

Herausforderungen bei der Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren

4.3 Sexueller Kindesmissbrauch – Chefsache auch an der Basis?

Die Fachwelt ist sich einig, dass gerade im Deliktbereich des sog. sexuellen Kindesmissbrauchs ein enorm hohes Dunkelfeld existiert. Perfide Verbrechen, die im Verborgenen stattfinden, zwischen Täterperson und betroffenem Kind, ohne Publikum, ohne Zeugen. So wirkt es schon grotesk, dass Täterpersonen das Blaue vom Himmel lügen dürfen, nicht mal persönlich zum Vernehmungstermin erscheinen müssen, hingegen ein betroffenes und möglicherweise schwer traumatisiertes Kind den Ermittlungsbehörden und dem gesamten Rechtssystem beweisen muss, dass ein Mensch eine Täterperson ist. Sollte es nicht eher umgekehrt sein? Sollte es nicht im Interesse unserer Gesellschaft sein, sicherzustellen, dass von einem Menschen keine Gefahr für andere Menschen, vor allem für Kinder ausgeht?

Viele Hürden für ein betroffenes Kind, finden Sie nicht auch? Genau deshalb braucht es gut geschulte und sensible Ermittlungsbeamte/innen und ein gutes und verlässliches Zusammenspiel der Strafverfolgungsbehörden.

Nun sprechen Kinder nicht grundsätzlich über sexuelle Übergriffe/sexualisierte Gewalt. Es müssen günstige Rahmenbedingungen zusammenwirken, damit ein Kind sich offenbaren kann. Die Chancen hierfür sind gut, wenn die Täterperson nicht aus dem engsten familiären Umfeld kommt, und das Kind gut an seine Eltern gebunden ist und ihnen vertraut. Weitere wichtige Voraussetzungen hierfür sind zudem, dass die Eltern gut auf ihr Kind eingehen und es zum Sprechen aktivieren können. Es ist von elementarer Bedeutung, dass sich das betroffene Kind beschützt fühlt und sich drauf verlassen kann, ernst genommen zu werden. Widersinnig, dass oben genannten Eltern nicht selten unterstellt wird, sie hätten ihre Kinder durch eine mögliche Suggestiv-Befragung beeinflusst. Nicht selten jedoch werden betroffene Kinder in der Vernehmung durch Ermittlungsbeamte/innen selbst suggestiv beeinflusst: „Bist Du Dir sicher, dass Du Dir das nicht nur einbildest?“ „Das hat der XY bestimmt nicht mit Absicht gemacht.“ „Meinst Du nicht auch, dass war ein Versehen?“

Tadelnswerte Unwissenheit, Kenntnislosigkeit oder einfach nur Gedankenlosigkeit – es ist in hohem Maße abträglich, denn solch eine unprofessionelle Herangehensweise wird immer zur zusätzlichen Belastung für die ohnehin schon belasteten und betroffenen Kinder und ihre schützenden Eltern/Bezugspersonen.

Was bringt es demnach, wenn denjenigen, die maßgeblich dazu beitragen können, einem betroffenen Kind und seinen schützenden Bezugspersonen ein Gefühl von ehrlicher Bereitschaft zu vermitteln, ganz regelmäßig genau das Gegenteil davon tun. Wie kann das sein? Möglicherweise aus einem Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit heraus, weil die notwendigen Qualifikationen und die damit einhergehenden Handlungssicherheiten fehlen. Hinzu kommt ein bedrückender Personalnotstand, auch bei den Polizeien bundesweit und flächendeckend, der zu Überlastung einzelner Beamten/Beamtinnen führt.

Das aber darf nicht zum Problem für von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern werden. Dem Grunde nach sollte man niemanden mehr daran erinnern müssen, welchen Stellenwert der sog. sexuelle Kindesmissbrauch mittlerweile in unserer Gesellschaft erlangt hat. Ein Verbrechensbereich, der seit vielen Jahren massiv ansteigt und sich zudem durch ein enorm hohes Dunkelfeld auszeichnet. Der nordrheinwestfälische Innenminister Herbert Reul trat bereits im Februar dieses Jahres mit der Veröffentlichung der Fallzahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für Nordrhein-Westfalen an die Öffentlichkeit. Ein Großteil der Straftaten seien enorm zurückgegangen und auf einem so niedrigen Niveau wie zuletzt in den 1980er Jahren. Doch der sog. sexuelle Kindesmissbrauch und der Deliktbereich der sog. Kinderpornografie seien so hoch wie noch nie.

Wenn Sie mich fragen, dann lässt das tief blicken und der Umstand, dass die Zahlen von Jahr zu Jahr, bundesweit ansteigen, ist nicht einzig und allein darauf zurückzuführen, dass der Ermittlungsdruck erhöht werden konnte und damit mehr Fälle aus dem Dunkelfeld aufgedeckt werden konnten. Laut Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), kann seit Jahren nur etwa jeder zehnte Hinweis ausländischer Provider überhaupt ausermittelt werden. Die Causa „Verkehrsdatenspeicherung“, die lange ausgesessen wurde und nun unsinnigerweise durch „Quick-Freeze“ ersetzt werden soll. Ich fasse an dieser Stelle zusammen: Hohes Dunkelfeld, schlechte personelle Ausstattungen der Polizeien und Staatsanwaltschaften bundesweit, insbesondere der Polizeien in Baden-Württemberg, die auf Bundesebene das traurige Schlusslicht abbilden.

 

5 Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren


Der Nationale Rat, der sich aus unterschiedlichen Vertreterinnen/Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft, Fachpraxis sowie aus Mitgliedern des Betroffenenrates der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zusammensetzt, hat sich im Dezember 2019 konstituiert, mit dem Ziel, den Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu stärken. Im Juli 2021 wurde hierzu ein Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren herausgegeben.5 Da heißt es zu kindgerechten Kriterien für die Polizei wie folgt:

  • Besondere Schutzbedürftigkeit beachten: Ist die Zeugin oder der Zeuge zugleich die oder der Verletzte, so führe ich die sie oder ihn betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen stets unter Berücksichtigung ihrer oder seiner besonderen Schutzbedürftigkeit durch, § 48a Abs. 1 StPO.
  • Beschleunigungsgebot: Während des gesamten Verfahrens achte ich auf das Beschleunigungsgebot: Bei Taten zum Nachteil einer oder eines minderjährigen Verletzten führe ich die sie oder ihn betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen besonders beschleunigt durch, soweit dies unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der oder des Zeugen sowie der Art und Umstände der Straftat zu ihrem oder seinem Schutz oder zur Vermeidung von Beweisverlusten geboten ist, § 48a Abs. 2 StPO.
  • Kindgerechte Information und psychosoziale und rechtliche Begleitung des Kindes im Verfahren: Im Rahmen der Vernehmung/Anhörung von Kindern belehre ich die Betroffenen in angemessener, kindgerechter Form. Ich kenne die rechtlichen und sozialpädagogischen Unterstützungsmöglichkeiten für Minderjährige und kann sie den Sorgeberechtigten und den Minderjährigen gut und in einfacher Sprache vermitteln; insbesondere ist mir bekannt, wie die psychosoziale Prozessbegleitung arbeitet und in welchen Fällen sie obligatorisch oder fakultativ den verletzten Minderjährigen beigeordnet werden kann. Ich kenne die länderspezifischen Besonderheiten. In geeigneten Fällen gebe ich den Betroffenen z. B. die Broschüre „Ich habe Rechte“ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz mit.
  • Im Weiteren werden folgende kindgerechte Kriterien für die Staatsanwaltschaften vorgestellt:
  • Polizeien und Kinderschutz: Die Polizei jedenfalls ist die erste Instanz der Strafverfolgungsbehörde die mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern und ihren Elternteilen/Bezugspersonen in Kontakt kommt. Weshalb ihr eine herausragend große Bedeutung und Verantwortung zufällt. Es braucht dringend angemessene Studieninhalte für Polizeianwärterinnen/Anwärter und verpflichtende Fortbildungen fertiger Polizeibeamtinnen/Beamte.

 

6 Zum Abschluss


Zudem spreche ich mich seit vielen Jahren für Kinderschutzbeauftragte in jeder größeren Polizeiwache in Deutschland aus. Polizeibeamtinnen/Beamte, die eine angemessene Zusatzqualifikation absolviert haben und die wissen, warum der oben vorgestellte Praxisleitfaden unbedingt verbindlich angewendet werden muss. Für mich zeigt sich regelmäßig, dass gerade bei den Polizeien und Staatsanwaltschaften eklatante und schwerwiegende Fehler gemacht werden, die sich im weiteren Verlauf enorm belastend auf die betroffenen kindlichen Zeugen und ihre schützenden und begleitenden Elternteile/Bezugspersonen auswirken und die am Ende möglicherweise dazu führen können, dass Verfahren eingestellt werden. Sie geben mir sicher Recht, wenn ich schreibe, dass hierdurch niemanden geholfen wird. Noch schlimmer: Täterpersonen können unbemerkt weitere Verbrechen an weiteren Kindern begehen. Je jünger die Kinder, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften eingestellt werden, kleine Kinder, denen die Aussagetüchtigkeit ja ohnehin vollständig abgesprochen wird.

Ich komme nun zum Schluss und möchte trotz aller Verbitterung zuversichtlich nach vorne schauen und drauf hoffen, dass mein Beitrag von Ihnen, den Leser/innen dieser Zeitschrift nicht als stumpfsinniges Fingerpointing abgetan wird, sondern vielmehr als Ansporn und Motivation die eigene moralische Haltung und Arbeitsweise zu hinterfragen und möglicherweise zu korrigieren, um damit einen wichtigen Beitrag für eine flächendeckende Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren zu gewährleisten. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, doch die Polizeien in Deutschland können viel dazu beitragen, dass Kinderschutz im Ermittlungsverfahren ein Standard wird und nicht nur ein Ziel bleibt. Vielen Dank!


Bildrechte: ProPK.

 

Anmerkungen

 

  1. Josefine Barbaric ist Referentin „Sexueller Missbrauch an Kindern“, Trainerin für Gewaltprävention, Buchautorin und Vorstand „Nein, lass das! e.V.“
  2. Polizeiliche Kriminalstatistik „Kindliche Gewaltopfer in Deutschland“, 2021.
  3. www.im.nrw/kampf-gegen-kindesmissbrauch-300-euro-erschwerniszulage-0.
  4. Gewerkschaft der Polizei, Bundesvorstand, www.gdp.de, 31. März 2020.
  5. Praxisleitfaden Nationaler Rat.
Seite: << zurück123