Prävention

Polizeien und Kinderschutz

Herausforderungen bei der Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren


Von Josefine Barbaric, Salach1

 

1 Einleitung

 

Kinderschutz ist im besten Fall ein Standard und nicht nur ein Ziel. Tatsächlich ist mir dieser Satz mal in einer Fortbildungsveranstaltung für Mitarbeitende des institutionellen Hilfesystems in Mecklenburg-Vorpommern in den Sinn gekommen. Erst Tage später begriff ich, wie weitreichend seine Bedeutung dem Grunde nach ist. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt ist in Deutschland bei Weitem kein Standard – nicht mal ein flächendeckendes Ziel. Obwohl gerade Kinder eine besonders vulnerable Personengruppe in unserer Gesellschaft darstellen und sie dadurch besonders schutzbedürftig sind. Doch die jährliche Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt deutlich, dass gerade Kinder häufig Opfer von Gewalt, insbesondere von sexuell motivierten Gewalttaten werden.2 Dies wiederum zeigt deutlich, dass wirksame und nachhaltige Präventionsmaßnahmen zur Aufklärung und zum Schutz für Kinder vor Gewalt, insbesondere vor sexualisierter Gewalt flächendeckend fehlen. Genau hier versagt der Kinderschutz bereits seit vielen Jahren. Und seit vielen Jahren appelliere ich genau deshalb an Politik und Gesellschaft diesen Missstand zu korrigieren. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt wird im besten Fall getragen von einer angemessenen moralischen Haltung, auch bei den Polizeien.

Und wenn die Gesellschaft das Kind nicht vor dieser perfiden und in allen Maßen destruktiven Gewalt hat schützen können, dann ist es ihre Verantwortung, alles dafür zu tun, dass das Verbrechen an dem Kind sichtbar gemacht wird, und die Täterperson die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommt. Selbstverständlich müssen alle Ressourcen und Kapazitäten für ein kindgerechtes Ermittlungs- und Strafverfahren zur Verfügung gestellt werden. Alles andere ist beschämend.

Und die bundesweite Lage ist beschämend. Und falls Sie sich nun genau an dieser Stelle fragen sollten, wer die Verfasserin überhaupt ist, dass sie sich eine solch kritische Meinung anmaßt, so sollten Sie wissen, dass ich Gewalt, insbesondere sexualisierter Gewalt selbst in meiner Kindheit und Jugendzeit erlebt habe. Das liegt nunmehr 34 Jahre zurück und ich schaue in die Gegenwart und frage mich, was nun hat sich seither für den Schutz für Kinder vor Gewalt, insbesondere vor sexualisierter Gewalt tatsächlich zum Guten verändert? Die Antwort ist bedauerlicherweise so überschaubar, wie die Maßnahmen selbst: nichts! Seien Sie also versichert: ich weiß, worüber ich schreibe.

 

2 Chefsache, auch an der Basis?


Der sexuelle Kindesmissbrauch wurde 2019 vom nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul (CDU) zur Chefsache erklärt.3 Eine vorbildliche und zugleich stringente Haltung, die man im politischen Raum ja sonst eher vermisst. Doch was bringt es, wenn diese notwendige moralische Einstellung nicht etwa an der Basis ankommt, bspw. bei den Mitarbeitenden der Strafverfolgungsbehörden, wozu ich die Polizeien und Staatsanwaltschaften zähle. Ich möchte hierzu gerne ein Beispiel aus NRW anführen. Ganz regelmäßig reichen wir über unseren Verein Beschwerde für hilfesuchende Eltern und ihre von sexuellem Missbrauch betroffenen Kinder bei den zuständigen Staatsanwaltschaften ein, da zu beobachten ist, dass Verfahren in den Deliktbereichen § 176 bis § 184 StGB regelmäßig durch Staatsanwaltschaften nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.

 

3 Ein Beispiel aus NRW

 

Es handelt sich hierbei um Fälle aus dem gesamten Bundesgebiet, viele allerdings aus NRW. So habe ich in meiner Funktion als Vorständin von „Nein, lass das! e.V.“ in einem besonders absurden Fall Herrn Innenminister Reul (CDU) und Herrn Justizminister Biesenbach (CDU) über die Vorgehensweise der zuständigen Polizei und Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt. Begründeter Verdacht § 176a StGB eines 3-jährigen Jungen in einer Kindertageseinrichtung in NRW durch einen festangestellten Mitarbeiter. Das Ermittlungsverfahren wurde, wie oben beschrieben, von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt. Das Kind erzählte so gut es eben konnte seinen Eltern von den „Spielen“ des Logopäden. Die Eltern nahmen die Erzählungen ihres Kindes ernst und wandten sich an die Polizei. Eine Anzeige würde sich nicht lohnen, da es zu wenig Beweise gäbe, erklärte man den Eltern auf dem Polizeirevier. Die Eltern blieben jedoch hartnäckig und bestanden darauf, dass die Anzeige aufgenommen wird. Es wurde ihnen im weiteren Verlauf eine Kriminalbeamtin zugewiesen, die von beiden Elternteilen als wenig kooperativ, motiviert und zugewandt beschrieben wurde, weshalb die Eltern sich an den Vorgesetzten wandten. Auch in diesem Gespräch fühlten sich die Eltern mit ihrem Anliegen nicht angemessen ernst genommen. Die Mutter bspw. fragte auf mein Anraten hin, warum nicht noch andere Kinder aus dieser Gruppe befragt wurden, um abzuklären ob möglicherweise noch weitere Kinder betroffen sind. „Ob einen nicht vollwertigen Zeugen oder zehn, spielt am Ende auch keine Rolle.“ Daraufhin habe ich, auf Wunsch der Eltern, mit diesem LKA-Beamten telefoniert. Er bestätigte diese von ihm getätigte Aussage und es war ihm sichtlich unangenehm.

Erinnern Sie sich noch an den letzten Satz des ersten Abschnitts meiner Einleitung? An dieser Stelle möchte ich gerne an eine gemeinsame Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 mit Rainer Becker, Polizeidirektor a.D., und Dr. Verena Kolbe, Fachärztin für Rechtsmedizin, für die Gewerkschaft der Polizei (GdP) erinnern, die in Anlehnung an genau solche Rückmeldungen und Erfahrungen entstanden ist.

 

4 Diese Checkliste kann beim Helfen helfen

4.1 Machen

Eine sofortige „Sicherstellung“ des Tatortes sowie eine kriminaltechnische Untersuchung auf eventuelle Spuren. Informatorische Befragungen an den möglichen Tatorten durchführen, um sich einen allgemeinen Überblick über den möglichen Tathergang und die in Frage kommenden Täter machen zu können und um gegebenenfalls weitere betroffene Kinder identifizieren zu können. Auf Suggestivfragen verzichten. Die Gefahr der Manipulation sollte sowohl beim Kind als auch dem anzeigenden Erwachsenen ausgeschlossen sein. Der „Vorgang“ sollte stets ernst genommen werden. Unter Umständen ist der ermittelnde Beamte die einzige Instanz, die helfen kann. Kinder können den sexuellen Missbrauch nicht allein beenden. Sie sind auf die Hilfe von begleitenden erwachsenen Menschen und der Polizei angewiesen. Auch dem anzeigenden Erwachsenen fällt es häufig enorm schwer, sich zu entscheiden, die Polizei einzuschalten.

 


Kind nach Misshandlung.

 

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