Polizeien und Kinderschutz
Herausforderungen bei der Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren
Im Gespräch sollte keinesfalls ein Generalverdacht gegen den begleitenden Erwachsenen erhoben werden. Zum Beispiel wegen des Verdachts auf eine sogenannte Bindungsintoleranz. Das verunsichert nur unnötig. Bei dem Gefühl eigener Unsicherheit sollte eine Kollegin oder ein Kollege hinzugezogen werden. Auch eine Anfrage bei einer spezialisierten Beratungsstelle für Betroffene von sexueller Gewalt ist hilfreich. Zudem braucht es eine vertraute und warme Gesprächsatmosphäre für die Befragung des betroffenen Kindes und des anzeigenden Erwachsenen. Natürlich können auch anzeigende Erwachsene selbst verunsichert oder vielleicht traumatisiert sein.
Also: sensibel und ruhig vorgehen. Signale, dass man den Aussagen des Kindes sowie der Begleitperson Glauben schenkt, sollten zu jeder Zeit gesendet werden.4Unsere Beschwerde wurde an die zuständige Oberstaatsanwältin zur Prüfung weitergegeben. Mit einem abschließenden Schreiben an unseren Verein versuchte man nun, die Einstellung des Verfahrens zu begründen. Um den Unsinn zu verdeutlichen, erlaube ich mir, zwei Passagen aus diesem Schreiben zu zitieren:
„Das bloße Zeigen des Geschlechtsteils gegenüber einem Kind allein begründet einen hinreichenden Tatverdacht wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 des Strafgesetzbuches - StGB) nicht, da eine sexuelle Handlung im Sinne der Vorschrift nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen Bezug zu Sexualität aufweisen muss. Ist die Handlung als solche nicht offensichtlich sexuell, kommt es auf die objektiven Rahmenbedingungen aus der Sicht des Beobachters an, der alle Einzelheiten des Geschehens wahrnimmt (zu vgl. Homle in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2021, § 184h Rn. 3 m.w.N.). Handlungen, die äußerlich neutral sind und keinerlei Hinweis auf das Geschlechtliche enthalten, sind daher auch dann keine sexuelle Handlung, wenn sie einem sexuellen Motiv entspringen (zu vgl. Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 184h Rn. 6 m.w.N.). Können die äußeren Umstände einer mutmaßlichen Tatbegehung – wie hier – nicht näher eruiert werden, ist ein hinreichender Tatverdacht insoweit nicht zu begründen.“
Vernachlässigtes Kind.
Offen gesprochen, da hat wohl jemand nicht gut aufgepasst, denn sexueller Missbrauch beginnt häufig mit dem Zeigen der eigenen Genitalien durch die Täterpersonen (Exhibitionismus). Das Kind gab, seinen Eltern gegenüber, kindgerechte und gewichtige Anhaltspunkte. Doch das Kind wurde zu keiner Zeit, weder durch die zuständige Polizei noch durch die Staatsanwaltschaft (Ermittlungsrichter), angehört. Und das wurde wie folgt von der Oberstaatsanwaltschaft begründet:
„Von seltenen Ausnahmefallen abgesehen, dürften Kinder erst ab einem Alter von etwa vier Jahren überhaupt als Zeugen in Betracht kommen (zu vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017 Rn. 1411 m.w.N.). Soweit schon Dreijährige zu Erlebnisberichten und zur Beantwortung altersgerechter Fragen in der Lage sein sollen (ebd.), muss jedenfalls eine Beeinflussung durch Dritte, die zur Verfälschung eigener Wahrnehmungen des Kindes und insoweit zur Beeinflussung seiner Aussage geeignet sind, ausgeschlossen bzw. jedenfalls nachvollzogen werden können. Dies ist hier nicht möglich.“
Ein Beispiel: Wenn ein 3-jähriges Kind regelmäßig den Penis des Vaters, Onkels, Opas, Ersatzvaters oder Bruders in den Mund nehmen muss, möglicherweise bis zur vollständigen Ejakulation der Täterperson, dann sind wir im Bereich des schweren sexuellen Missbrauchs an einem Kind (§ 176c StGB), was seit 1. Juli 2021 einen Verbrechenstatbestand darstellt. Doch wie kann dieses Verbrechen an dem Kind nun sichtbar gemacht und aufgeklärt werden?Sind äußere Verletzungsspuren zu erkennen? Die Antwort ist überschaubar: nein! Was bleibt, sind unter Umständen einzig und allein Hinweise durch Aussagen, die das Kind bestenfalls alters- und entwicklungsspezifisch geben kann. Doch im hier geschilderten Fall hat es weder die zuständige Polizei, sowie die Staatsanwaltschaft noch die überprüfende Oberstaatsanwaltschaft in NRW interessiert. Das ist auch kein tragischer Einzelfall, weshalb ich in diesem Beitrag auch auf eine weit verbreitete und grundsätzliche ignorante und misstrauische Haltung des Strafverfolgungssystems kindlichen betroffenen Zeugen gegenüber eingehen möchte.
4.2 Wie aussagetüchtig sind kindliche Zeugen?
Seit vielen Jahren eine zähe und kontroversgeführte Diskussion zwischen Ermittlungsbehörden, Juristen und Psychologen. Offen gesprochen, ich kann es nicht mehr hören. Man weiß heute: Je mehr sich ein Kind sprachlich ausdrücken kann, umso mehr ist es in der Lage, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, zu verallgemeinern und zu ordnen und zu erinnern. Kurzum: Es kommt auf die individuelle Entwicklungsreife eines Kindes an, wie gut es sich an Ereignisse erinnern und sie wiedergeben kann. Weshalb solche Pauschalisierungen nur wenig zur Aufdeckung solcher Verbrechen beitragen. Im Gegenteil! Es entsteht der Eindruck, man wolle sich nicht die Mühe machen.
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