Wissenschaft  und Forschung

Virtualisierung und Meinungsbildung im Rechtsextremismus

Von RA Marcel Auber, Ludwigsburg

5 Subjektive Wahrnehmung objektiver Gegebenheiten


Sicherlich gab es bereits vor der Virtualisierung Artikel oder Beiträge, die Menschen derart berührten, dass diese sich berufen fühlten, ihre Meinung in Form eines Leserbriefs an die Herausgeber oder Autoren kund zu tun, um so eine breitere Öffentlichkeit an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Dieser analogen Vorgehensweise war, zumindest bis zu einem gewissen Maße, eine besonnene Auseinandersetzung mit dem Text und der eigenen Erwiderung immanent. Zudem spielte der Faktor Zeit eine große Rolle. Hatte man seine Gedanken formuliert und zu Papier gebracht, musste dieses auch noch an den Empfänger gesendet werden. Früher bedeutete dies, einen Brief zum Empfänger zu befördern oder mittels Fax-Gerät an die Redaktion zu versenden. Durch die auf den Plattformen integrierten Kommentarfunktionen wird die impulsive Reaktion auf eine Nachricht geradezu provoziert – zumindest erheblich erleichtert und somit ein „emotionaler Effekt“ genutzt.


Gezielt nutzen rechtsextremistische Agitatoren die soziologische Annahme, dass der Mensch nicht auf der Grundlage objektiver Gegebenheiten handelt, sondern danach, wie er diese subjektiv wahrnimmt. Die Akteure versuchen daher, emotionsgeladene Nachrichten zu verbreiten, die beim Leser assoziativ empfundene Ausnahmesituationen suggerieren. Als Beispiel kann hier die Mär von „kinderquälenden Angehörigen einer Elite“ herangezogen werden, die als Grundlage der „QAnon“-Bewegung dient. Welchen Menschen lassen die Gedanken an Kinder, die in dunklen Kellern gefangen gehalten und gequält werden, kalt? Diesen Effekt scheinen sich auch Politiker bestimmter Parteien zunutze zu machen. Neben einem vulgären Vokabular, das seit dem Einzug der AfD im Deutschen Bundestag Einzug gehalten hat („Alimentierte Messermänner“, „Kopftuchmädchen und andere Taugenichtse“9), bedienen sich rechtsextremistische Stimmungsmacher seit Jahren derselben Argumente, um sich gegen Flüchtlinge zu echauffieren. Dazu zählt insbesondere die Argumentation, Flüchtlinge seien kriminell und würden sich lediglich wegen wirtschaftlicher Interessen auf den Weg in die Bundesrepublik machen.


Tatsächlich stammten 2020 68% der weltweit registrierten Flüchtlinge aus lediglich fünf Ländern, nämlich Afghanistan, Syrien, Venezuela, Südsudan und Myanmar.10 Für die Bundesrepublik ergibt sich 2020 folgende Rangfolge: Syrien, Afghanistan, Irak, Türkei und Nigeria.11 Dass Flüchtlinge krimineller sind als die hier geborene Bevölkerung, mag auf den ersten Blick den Tatsachen entsprechen. Von den 1.863.118 Tatverdächtigen die in der Polizeilichen Kriminal-Statistik (PKS) 2020 erfasst wurden, waren 557.688 als „nichtdeutsche Tatverdächtige“ klassifiziert worden.12 Immerhin nahezu ein Drittel. Dennoch muss diese Zahl relativiert werden. Zu diesen nichtdeutschen Tatverdächtigen zählen auch Bürger, die hier seit mehreren Generationen leben, jedoch nicht im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit sind. De facto somit Teil der deutschen Bevölkerung. Zudem handelt es sich bei 73,5% der Asylsuchenden um Menschen, die das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. 64% waren männlich.13 Eigenschaften von Personen, die in der PKS seit jeher, unabhängig von der Staatszugehörigkeit, überproportional vertreten sind. Nichtsdestotrotz dienen diese Zahlen den rechtsextremistischen Meinungsmachern dazu, eine große Verunsicherung in der Bevölkerung hervorzurufen. Und es ist anzunehmen, dass genau darin deren Motivation liegt.

 

6 Mainstream oder alternative Medien


Um ihre Anhänger zu mobilisieren oder neue Anhänger zu gewinnen, versuchen rechte und rechtsextremistische Influencer Ausnahmesituationen zu suggerieren, die den Nachrichtenkonsumenten zu der Ansicht bringen sollen, er selbst oder die gesamte Bevölkerung befänden sich in einer Extremsituation. Durch diese Vorgehensweise werden die Emotionen des Lesers derart beeinflusst, dass sich dessen Wahrnehmung ändert und etwaige Zweifel in den Hintergrund gedrängt werden. Auch wenn sich die Wissenschaft noch nicht auf eine gemeinsame Definition für „Emotionen“ einigen konnte, besteht doch kein Zweifel daran, dass eine Emotion aus mehreren Komponenten besteht, die wiederum Einfluss auf die Wahrnehmung nehmen.14


Um letzte Zweifel auszuräumen, bedienen sich die Agitatoren einer Analogie, die sie der 1999 erschienenen Film-Reihe „The Matrix“ entnommen haben, um damit ihre Anhänger gegen differenziert lautende Nachrichten zu immunisieren. Der Trick ist so simpel wie wirkungsvoll. In der Filmreihe muss sich der Protagonist „Neo“ entscheiden, ob er eine blaue Tablette einnehmen möchte, um weiterhin in seiner gewohnten Welt zu leben, oder ob er die rote Tablette einnimmt, um die Wahrheit über die Matrix zu erfahren. Besonders häufig ist diese Argumentation in der Welt der Verschwörungstheoretiker anzutreffen. Durch das Argument, die Anhänger der jeweiligen Theorie seien „Redpilled“, hätten also die Wahrheit erkannt, werden alle Medienformate, die eine (soweit möglich) objektive Berichterstattung anbieten, zur „Lügenpresse“ deklariert und mit dem vermeintlichen Makel des „Mainstream“ belegt. Sobald die Anhänger dieses Argument verinnerlicht haben, informieren sie sich fortan nur noch bei den „alternativen Medien“. Diese finden ihre Verbreitung nicht nur über das Internet. Als Beispiel möchte ich hier das „Compact Magazin“ nennen, auf dessen Titelseite Bill Gates als „Impf-Diktator“ bezeichnet15 oder Putin als Freund der Deutschen stilisiert wird, der „günstiges Gas anbietet“ und uns die „Hand zur Freundschaft“ reicht.16 Ergänzt wird die „alternative Informationsgewinnung“ durch die unzähligen Kanäle auf Plattformen wie „Telegram“ oder Gruppen auf anderen „Sozialen Netzwerken“.


Durch die vermeintliche Tatsache des „Redpillings“ können sich die Menschen nicht mehr bei den „Mainstream-Medien“ informieren, da die dort angebotenen Informationen nicht mit denen, der selbst gewählten „alternativen Medien“, übereinstimmen. Diese geistigen Widersprüche werden in der Psychologie als kognitive Dissonanz bezeichnet. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich Rechtsextremisten diese bewusst zunutze machen. Wir alle haben im Umgang mit solchen kognitiven Dissonanzen bereits eigene Strategien entwickelt, die in der psychologischen Forschung als Dissonanzreduktionen bezeichnet werden. Auch hierfür möchte ich zur Erklärung zwei Beispiele aufführen, die wir alle kennen. Ein Beispiel wäre die Strategie, das eigene Handeln zu rechtfertigen. „Natürlich wollte man im neuen Jahr mehr für das Klima tun, der Flug ins ferne Urlaubsziel muss trotzdem sein, denn die Menschen dort leben ja schließlich vom Tourismus und sind auf diesen angewiesen.“ Oder die Strategie der Vermeidung. Informiert man sich nicht mehr bei den „Mainstream-Medien“, muss man sich auch nicht mit den widersprüchlichen Argumenten auseinandersetzen. Doch gerade diese kognitive Auseinandersetzung wäre die Lösung, die zum großen Teil unstimmigen Argumente der Verschwörungstheoretiker zu entlarven. Der politische Diskurs, der Austausch von Argumenten und schließlich die Kompromissfindung stellen wichtige Elemente unserer Demokratie dar. Stützt man seine Bezugsquellen für Informationen nur noch auf „alternative Medien“, entfernt man sich von diesen demokratischen Werten hin zu denen einer Autokratie.

 

7 Zum Abschluss


Ich habe den Versuch unternommen, einige Aspekte der Virtualisierung im Kontext des (Rechts-)Extremismus darzustellen und deren Komplexität aufzuzeigen. So facettenreich dieser Themenkomplex ist, so facettenreich muss auch die Antwort unserer Demokratie auf dieses Phänomen sein. Nach meiner Ansicht bedarf es hier eines interdisziplinären Ansatzes, der nicht ausschließlich von den Sicherheitsbehörden bedient werden kann. Angefangen von den Tech-Konzernen selbst bis zu jedem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft sind hier alle Akteure gefordert, die Entwicklung der Virtualisierung in die richtigen Bahnen zu lenken, um diese Revolution zu etwas durchweg Positivem auszubauen.


Bildrechte: ProPK.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist als Regierungsamtmann beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg tätig. Der Inhalt des Beitrages stellt seine persönliche Meinung dar.
  2. Vgl. Verfassungsschutzbericht für Baden-Württemberg 2020, S. 165.
  3. Vgl. „Frauenhassende Online Subkulturen, Ideologien – Strategien - Handlungsempfehlungen“ der Amadeu Antonio Stiftung.
  4. Vgl. bspw.: www.diss-duisburg.de/2012/10/thule-netz/.
  5. Eine Art digitale Tauschbörse für Bilder und Texte.
  6. Vgl. Inside Facebook, Sheera Frenkel und Cecilia Kang, S. 13.
  7. Vgl. beispielsweise: netzpolitik.org/2019/facebooks-algorithmus-formt-unser-leben-dieser-hacker-will-herausfinden-wie/ abgerufen am 8.4.2022, 17:01 Uhr.
  8. Vgl. www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-aufruhr-im-freibad-vom-jugendstreich-zum-terrorakt-100.html.
  9. Vgl. Rede im Bundestag von Alice Weidel am 16.5.2018 im Rahmen der Debatte um den Etatentwurf 2018.
  10. Vgl. www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/faktencheck, abgerufen am 7.4.2022, 09:24 Uhr.
  11. Vgl. www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2020.pdf;jsessionid=0D8BE7EBA962D1D887CFA50A30CAE200.intranet262?__blob=publicationFile&v=5 abgerufen am 8.4.2022, 07:18 Uhr.
  12. Vgl. Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2020, Bundeskriminalamt.
  13. Vgl. ebenda.
  14. Vgl. Editorial zur Themenausgabe: „Emotionen erleben und begreifen – Emotionspsychologie im Alltag“ von Julia Kozlik und Andrea Paulus (https://de.in-mind.org/article/editorial-zur-themenausgabe-emotionen-erleben-und-begreifen-emotionspsychologie-im-alltag?gclid=Cj0KCQjwl7qSBhD-ARIsACvV1X3kiAsZjXUU4GJox4nJpHMHJWG5VRxE9QvT1mdOSkdI5UB45ntTbOoaArKdEALw_wcB).
  15. Siehe Compact-Magazin, Ausgabe 6/2020.
  16. Vgl. www.kopp-verlag.de/a/compact-spezial-nr.-33%3A-feindbild-russland1=kw&ref=googlemc&subref=pool/shopping&gclid=EAIaIQobChMI9brk7umD9wIVCIKDBx2t6QYcEAQYAiABEgLZgPD_BwE, abgerufen am 8.4.2022, 08:26 Uhr.

 

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