Wissenschaft  und Forschung

Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten

Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1

1 Einleitung


Zahlreiche Erkenntnisse aus Deutschland und dem europäischen Ausland verweisen seit einigen Jahren darauf, dass ein großer Teil der bei islamistischen Anschlägen beteiligten Terroristen zuvor einschlägige Hafterfahrungen aufgewiesen hatte. Aktuelle Beispiele für islamistische Radikalisierungsprozesse in europäischen und deutschen Justizvollzugsanstalten gibt es in großer Zahl.

Der islamistische Attentäter Chérif Chekatt beispielsweise – französischer Staatsbürger mit marokkanischem Migrationshintergrund – tötete am 11.12.2018 auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt vier Menschen und verletzte 14, einige von ihnen schwer. Islamistisch radikalisiert soll sich der Attentäter Chekatt in deutschen Justizvollzugsanstalten haben.2 Insgesamt existieren dem französischen Generalstaatsanwalt zufolge 27 Gerichtsurteile gegen Chekatt. Seit 2015 wurde Chekatt als potenzieller islamistischer Gefährder eingestuft und von da an in Frankreich überwacht. Auch der islamistische Attentäter des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19.12.2016 – Anis Amri – hatte sich in Haftanstalten radikalisiert. Nach dem islamistischen Attentat von Kopenhagen 2015, bei dem zwei Menschen erschossen wurden, sagten Weggefährten des Attentäters, dass dieser ein anderer Mensch gewesen sei, als er rund zwei Wochen zuvor aus der Haftanstalt entlassen worden war. Statt über Autos und Frauen zu sprechen, habe er über Religion monologisiert, über die Opfer im Gazastreifen und das Paradies.3
Die Vorstellung, dass zukünftige terroristische Anschläge von einem ehemaligen Inhaftierten einer deutschen Justizvollzugsanstalt begangen werden könnten und sich retrospektiv herausstellt, dass der Ursprung der Radikalisierung erst in der Zeit im Justizvollzug begann, ist ein vorstellbares Szenario, das es aus Sicht der Sicherheitsbehörden unbedingt zu verhindern gilt.
Die Thematik „from jail to jihad“ ist für europäische Sicherheitsbehörden und Justizvollzugsanstalten spätestens seit dem islamistisch-terroristischen Anschlag auf den Madrider Hauptbahnhof im Jahr 2004 – dabei wurden 191 Menschen getötet und über 2000 Menschen verletzt – präsent. Der islamistische Attentäter des Anschlags auf das jüdische Museum in Brüssel am 24.5.2014, bei dem vier Menschen starben, hatte sich in einer französischen Haftanstalt islamistisch radikalisiert. Die islamistischen Terroristen Chérif Kouachi und Amédy Coulibaly, die für den islamistischen Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ am 7.1.2015 verantwortlich waren, hatten sich zuvor während ihrer Haft kennengelernt. Dort kamen sie in Kontakt mit dem Islamisten Jamel Beghal, der ihr ideologischer Mentor wurde. Beghal wiederum war wegen der Anstiftung zu einem islamistischen Anschlag auf die US-Botschaft in Paris inhaftiert.4
Die Gefahr, die von islamistischen Straftätern ausgeht, stellt Politik, Justiz und Polizei vor erhebliche Herausforderungen und sie macht auch nicht vor Gefängnistoren halt. Gerade in den Justizvollzugsanstalten finden sich viele Inhaftierte, die anfällig sind für extremistische Ideologien und Überzeugungen.
In Berlin sorgte im Jahr 2017 der Fall des Libanesen Mohammed A. für Aufsehen. Der Inhaftierte, der wegen schweren Raubes drei Jahre in der Justizvollzugsanstalt Tegel einsaß, hatte sich offenbar dort islamistisch radikalisiert und die Berliner Polizei stufte ihn als islamistischen Gefährder ein. Mohammed A. hatte angekündigt, nach seiner Entlassung einen Terroranschlag begehen zu wollen. Noch aus seiner Zelle heraus hatte der Islamist mit einem eingeschmuggelten Handy islamistische Propaganda in sozialen Medien verbreitet.
Der Ausländeranteil an den Inhaftierten in der Schweiz beträgt 74,2%, in Griechenland 63,2%, in Österreich 46,8%, in Belgien 42,5%, in Schweden 31,5%, in Deutschland 27,9% und in Niederlande 21%.5 Auf das gesamte deutsche Bundesgebiet gerechnet ist fast jeder vierte Inhaftierte Muslim, was über 12.000 Inhaftierte ausmacht.6Die Zahl islamistischer Straftäter wird in naher Zukunft ansteigen. Besonders zurückkehrende sog. Jihad-Reisende aus Syrien und dem Irak mit europäischem Pass werden die Situation in den europäischen Haftanstalten verschärfen. Sofern der Verdacht der Unterstützung einer oder Beteiligung an einer terroristischen Gruppierung im Ausland (§ 129b StGB) wie beispielsweise dem „Islamischen Staat“ begründet werden kann, werden diese Jihad-Reisende bzw. Jihad-Rückkehrer zumindest für die Untersuchungshaft in deutschen Justizvollzugsanstalten inhaftiert und finden dort ein großes Rekrutierungsfeld vor.

Die Bundesanwaltschaft hat allein im Jahr 2017 rund 1.000 Terrorismus-Verfahren eingeleitet und mehrere Hundert Fälle bereits an die Staatsanwaltschaften der Länder abgegeben.7 Das Spektrum aktueller und künftiger Inhaftierter reicht von „Hasspredigern“ über erfolgreiche und gescheiterte Attentäter bis hin zu kampferprobten Syrien/Irak-Rückkehrern und Kriegsverbrechern.
Das Hauptthema dieses Beitrages ist die in Justizvollzugsanstalten erhöhte Gefahr einer islamistischen Radikalisierung durch Personen des islamistischen Spektrums bzw. durch islamistische Inhalte. Genauer untersucht werden a) Islamistische Radikalisierung als Prozess, b) Die sozialwissenschaftliche Analyse möglicher islamistischer Radikalisierungshintergründe, c) Der Blick ins europäische Ausland – Haftanstalten in Frankreich sowie d) Maßnahmen von Prävention und Deradikalisierung.

2 Islamistische Radikalisierung als Prozess


Die definitorische Grundlage von Radikalisierung in diesem Beitrag ist folgende:
Ein Radikalisierungsprozess ist jeweils individuell, in seinem Verlauf übernehmen Individuen extreme politische, religiöse und gesellschaftliche Ideale und Ziele, wofür die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt wird. Im Fall einer islamistischen, salafistischen, jihadistischen Radikalisierung kommt es zur Übernahme einer islamistischen, gewaltbereiten Ideologie. Religiös-politische Radikalisierung kann als kognitiver Veränderungsprozess der sozialen Einstellung, des sozialen Verhaltens auf der Grundlage einer (religiösen) Ideologisierung hin zur Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt verstanden werden.8

Folgende Faktoren islamistischer Radikalisierung im sozialen Nahbereich können identifiziert werden:

  • Menschen definieren sich über die Zugehörigkeit zu Gruppen.
  • Milieus und Gruppen stiften durch die Faktoren Freundschaft, ethnische Herkunft, Soziolekt und Religion „Lebenssinn“.
  • Islamisten und Salafisten rekrutieren in einem Umfeld ähnlicher Biografien.
  • Die Beziehungsebene zwischen dem anwerbenden Szeneangehörigen und dem zu werbenden Sympathisanten ist ein entscheidender Faktor für eine Radikalisierung.
  • Rollenzwang und gruppendynamische Prozesse (ingroup love und outgroup hate) stellen zentrale treibende Kräfte als Katalysator für eine Radikalisierung dar.
  • Menschen haben das Bedürfnis „dazuzugehören“.
  • Die eigene Gruppe (ingroup) hat eine große identitätsstiftende Wirkung.
  • Kämpft die Gruppe für eine als wichtig, essentiell, existenziell wahrgenommene Sache, gewinnt jeder Einzelne an Bedeutung.
  • Der Kampf für eine gemeinsame Sache bzw. gegen andere verstärkt den Gruppenzusammenhalt.
  • Die eigene Gruppenzugehörigkeit ermöglicht eine Abgrenzung zu anderen Gruppen (outgroup hate), dadurch kommt es zu einer Abwertung der anderen Gruppe.
  • Dualistisches Schwarz-Weiß-Denken in Form von „Wir gegen die Anderen“ prägt Radikalisierungsprozesse.
  • Mitglieder der outgroup werden nicht mehr als Individuen wahrgenommen (De-Individualisierung).
  • Eine De-Individualisierung ermöglicht die Entstehung einer Distanz zu den Mitgliedern der „anderen Gruppe“.
  • Wer keine Empathie für „die Anderen“ mehr empfindet, neigt eher dazu, Mitglieder der outgroup zu verletzen und/ oder zu töten.
  • Die Abwertung der Mitglieder der outgroup wird durch religiöse, kulturelle und ethnische Unterschiede „begründet“.
  • Die Überzeugung, moralisch überlegen zu sein und der Glaube an den Kampf für die gerechte Sache transformiert (tödliche) Gewalt zur legitimen „Selbstverteidigung“, zu einem Akt der Gerechtigkeit (Verteidigung „des Islam“).
  • Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert.9
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