Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten

Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1

1 Einleitung


Zahlreiche Erkenntnisse aus Deutschland und dem europäischen Ausland verweisen seit einigen Jahren darauf, dass ein großer Teil der bei islamistischen Anschlägen beteiligten Terroristen zuvor einschlägige Hafterfahrungen aufgewiesen hatte. Aktuelle Beispiele für islamistische Radikalisierungsprozesse in europäischen und deutschen Justizvollzugsanstalten gibt es in großer Zahl.

Der islamistische Attentäter Chérif Chekatt beispielsweise – französischer Staatsbürger mit marokkanischem Migrationshintergrund – tötete am 11.12.2018 auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt vier Menschen und verletzte 14, einige von ihnen schwer. Islamistisch radikalisiert soll sich der Attentäter Chekatt in deutschen Justizvollzugsanstalten haben.2 Insgesamt existieren dem französischen Generalstaatsanwalt zufolge 27 Gerichtsurteile gegen Chekatt. Seit 2015 wurde Chekatt als potenzieller islamistischer Gefährder eingestuft und von da an in Frankreich überwacht. Auch der islamistische Attentäter des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19.12.2016 – Anis Amri – hatte sich in Haftanstalten radikalisiert. Nach dem islamistischen Attentat von Kopenhagen 2015, bei dem zwei Menschen erschossen wurden, sagten Weggefährten des Attentäters, dass dieser ein anderer Mensch gewesen sei, als er rund zwei Wochen zuvor aus der Haftanstalt entlassen worden war. Statt über Autos und Frauen zu sprechen, habe er über Religion monologisiert, über die Opfer im Gazastreifen und das Paradies.3
Die Vorstellung, dass zukünftige terroristische Anschläge von einem ehemaligen Inhaftierten einer deutschen Justizvollzugsanstalt begangen werden könnten und sich retrospektiv herausstellt, dass der Ursprung der Radikalisierung erst in der Zeit im Justizvollzug begann, ist ein vorstellbares Szenario, das es aus Sicht der Sicherheitsbehörden unbedingt zu verhindern gilt.
Die Thematik „from jail to jihad“ ist für europäische Sicherheitsbehörden und Justizvollzugsanstalten spätestens seit dem islamistisch-terroristischen Anschlag auf den Madrider Hauptbahnhof im Jahr 2004 – dabei wurden 191 Menschen getötet und über 2000 Menschen verletzt – präsent. Der islamistische Attentäter des Anschlags auf das jüdische Museum in Brüssel am 24.5.2014, bei dem vier Menschen starben, hatte sich in einer französischen Haftanstalt islamistisch radikalisiert. Die islamistischen Terroristen Chérif Kouachi und Amédy Coulibaly, die für den islamistischen Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ am 7.1.2015 verantwortlich waren, hatten sich zuvor während ihrer Haft kennengelernt. Dort kamen sie in Kontakt mit dem Islamisten Jamel Beghal, der ihr ideologischer Mentor wurde. Beghal wiederum war wegen der Anstiftung zu einem islamistischen Anschlag auf die US-Botschaft in Paris inhaftiert.4
Die Gefahr, die von islamistischen Straftätern ausgeht, stellt Politik, Justiz und Polizei vor erhebliche Herausforderungen und sie macht auch nicht vor Gefängnistoren halt. Gerade in den Justizvollzugsanstalten finden sich viele Inhaftierte, die anfällig sind für extremistische Ideologien und Überzeugungen.
In Berlin sorgte im Jahr 2017 der Fall des Libanesen Mohammed A. für Aufsehen. Der Inhaftierte, der wegen schweren Raubes drei Jahre in der Justizvollzugsanstalt Tegel einsaß, hatte sich offenbar dort islamistisch radikalisiert und die Berliner Polizei stufte ihn als islamistischen Gefährder ein. Mohammed A. hatte angekündigt, nach seiner Entlassung einen Terroranschlag begehen zu wollen. Noch aus seiner Zelle heraus hatte der Islamist mit einem eingeschmuggelten Handy islamistische Propaganda in sozialen Medien verbreitet.
Der Ausländeranteil an den Inhaftierten in der Schweiz beträgt 74,2%, in Griechenland 63,2%, in Österreich 46,8%, in Belgien 42,5%, in Schweden 31,5%, in Deutschland 27,9% und in Niederlande 21%.5 Auf das gesamte deutsche Bundesgebiet gerechnet ist fast jeder vierte Inhaftierte Muslim, was über 12.000 Inhaftierte ausmacht.6Die Zahl islamistischer Straftäter wird in naher Zukunft ansteigen. Besonders zurückkehrende sog. Jihad-Reisende aus Syrien und dem Irak mit europäischem Pass werden die Situation in den europäischen Haftanstalten verschärfen. Sofern der Verdacht der Unterstützung einer oder Beteiligung an einer terroristischen Gruppierung im Ausland (§ 129b StGB) wie beispielsweise dem „Islamischen Staat“ begründet werden kann, werden diese Jihad-Reisende bzw. Jihad-Rückkehrer zumindest für die Untersuchungshaft in deutschen Justizvollzugsanstalten inhaftiert und finden dort ein großes Rekrutierungsfeld vor.

Die Bundesanwaltschaft hat allein im Jahr 2017 rund 1.000 Terrorismus-Verfahren eingeleitet und mehrere Hundert Fälle bereits an die Staatsanwaltschaften der Länder abgegeben.7 Das Spektrum aktueller und künftiger Inhaftierter reicht von „Hasspredigern“ über erfolgreiche und gescheiterte Attentäter bis hin zu kampferprobten Syrien/Irak-Rückkehrern und Kriegsverbrechern.
Das Hauptthema dieses Beitrages ist die in Justizvollzugsanstalten erhöhte Gefahr einer islamistischen Radikalisierung durch Personen des islamistischen Spektrums bzw. durch islamistische Inhalte. Genauer untersucht werden a) Islamistische Radikalisierung als Prozess, b) Die sozialwissenschaftliche Analyse möglicher islamistischer Radikalisierungshintergründe, c) Der Blick ins europäische Ausland – Haftanstalten in Frankreich sowie d) Maßnahmen von Prävention und Deradikalisierung.

2 Islamistische Radikalisierung als Prozess


Die definitorische Grundlage von Radikalisierung in diesem Beitrag ist folgende:
Ein Radikalisierungsprozess ist jeweils individuell, in seinem Verlauf übernehmen Individuen extreme politische, religiöse und gesellschaftliche Ideale und Ziele, wofür die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt wird. Im Fall einer islamistischen, salafistischen, jihadistischen Radikalisierung kommt es zur Übernahme einer islamistischen, gewaltbereiten Ideologie. Religiös-politische Radikalisierung kann als kognitiver Veränderungsprozess der sozialen Einstellung, des sozialen Verhaltens auf der Grundlage einer (religiösen) Ideologisierung hin zur Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt verstanden werden.8

Folgende Faktoren islamistischer Radikalisierung im sozialen Nahbereich können identifiziert werden:

  • Menschen definieren sich über die Zugehörigkeit zu Gruppen.
  • Milieus und Gruppen stiften durch die Faktoren Freundschaft, ethnische Herkunft, Soziolekt und Religion „Lebenssinn“.
  • Islamisten und Salafisten rekrutieren in einem Umfeld ähnlicher Biografien.
  • Die Beziehungsebene zwischen dem anwerbenden Szeneangehörigen und dem zu werbenden Sympathisanten ist ein entscheidender Faktor für eine Radikalisierung.
  • Rollenzwang und gruppendynamische Prozesse (ingroup love und outgroup hate) stellen zentrale treibende Kräfte als Katalysator für eine Radikalisierung dar.
  • Menschen haben das Bedürfnis „dazuzugehören“.
  • Die eigene Gruppe (ingroup) hat eine große identitätsstiftende Wirkung.
  • Kämpft die Gruppe für eine als wichtig, essentiell, existenziell wahrgenommene Sache, gewinnt jeder Einzelne an Bedeutung.
  • Der Kampf für eine gemeinsame Sache bzw. gegen andere verstärkt den Gruppenzusammenhalt.
  • Die eigene Gruppenzugehörigkeit ermöglicht eine Abgrenzung zu anderen Gruppen (outgroup hate), dadurch kommt es zu einer Abwertung der anderen Gruppe.
  • Dualistisches Schwarz-Weiß-Denken in Form von „Wir gegen die Anderen“ prägt Radikalisierungsprozesse.
  • Mitglieder der outgroup werden nicht mehr als Individuen wahrgenommen (De-Individualisierung).
  • Eine De-Individualisierung ermöglicht die Entstehung einer Distanz zu den Mitgliedern der „anderen Gruppe“.
  • Wer keine Empathie für „die Anderen“ mehr empfindet, neigt eher dazu, Mitglieder der outgroup zu verletzen und/ oder zu töten.
  • Die Abwertung der Mitglieder der outgroup wird durch religiöse, kulturelle und ethnische Unterschiede „begründet“.
  • Die Überzeugung, moralisch überlegen zu sein und der Glaube an den Kampf für die gerechte Sache transformiert (tödliche) Gewalt zur legitimen „Selbstverteidigung“, zu einem Akt der Gerechtigkeit (Verteidigung „des Islam“).
  • Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert.9

2.1 Sozialwissenschaftliche Analyse möglicher islamistischer Radikalisierungshintergründe

Die Haft ist eine Zwangsgemeinschaft verurteilter oder auf ihr Urteil wartender Individuen, die oftmals ein gespanntes Verhältnis zur Gesellschaft haben und unter (subjektiv wahrgenommener) sozialer Frustration, wirtschaftlicher Exklusion oder kultureller Stigmatisierung leiden. Bei diesen Individuen kann sich der institutionelle Zwang von Justizvollzugsanstalten in einer zusätzlichen Radikalisierungsbereitschaft auswirken.10 Folgende weitere Radikalisierungsursachen bestehen nach Kienle:

  • (Subjektiv wahrgenommene) Diskriminierungserfahrungen, Demütigung
  • (Subjektive wahrgenommene) Deprivation
  • (Subjektiv wahrgenommene) Ungerechtigkeit gegenüber einer sozialen/kulturellen/religiösen Gruppe
  • Unzufriedenheit, Unmut („grievance“)
  • Orientierungslosigkeit
  • Sinnsuche
  • Suche nach Halt und Gemeinschaft
  • Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz
  • Einsamkeit
  • Identitätskrisen
  • Integrationsdefizite
  • (Subjektiv wahrgenommene) prekäre Lebenslagen
  • schulische und berufliche Misserfolge
  • Erlebnisorientierung, Risikofreudigkeit, Selbstinszenierung
  • Streben nach Bedeutsamkeit der eigenen Person
  • Soziale Bindungen, gruppendynamische Prozesse.11

Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive spricht Barran von der Radikalisierung als einem Mechanismus eines Fließbandes, auf welchem Schritt für Schritt verschiedene Elemente und Einflüsse hinzukommen.12 Aus psychologischer Perspektive kann die (islamistische) Radikalisierung mit einem Treppenhaus verglichen werden, in dem sich Personen – abhängig vom Grad ihrer Einstellung und ihrer Nähe zur Militanz – auf verschiedenen Ebenen bzw. Stufen befinden.
In einem extremistischen, ideologisierenden Milieu können ideologische Gruppen wie folgt Einfluss auf eine islamistische Radikalisierung nehmen:

  • Totale Hingabe an die Religion als unterscheidender Faktor zwischen Gruppe und Außenwelt (ingroup und outgroup).
  • Denken und Handeln in dualistischen Schwarz-Weiß-Kategorien.Entindividualisierung der Mitglieder einer ideologischen Gruppe. Allein die Verpflichtung, der Einsatz für die gemeinsame Sache schreiben Gruppenmitgliedern ihren Wert zu.
  • Konsequente Unterdrückung spontaner Zuneigung oder Abneigung, die nur noch nach Maßgaben der Ideologie zulässig sind.13

Die islamistische Ideologie bietet religiös-politische Rechtfertigung und das Gefühl von Sinnhaftigkeit und fungiert dadurch als Bindeglied zwischen Mitgliedern von islamistischen Milieus, Organisationen, Gruppen und Individuen. Gruppendynamische Prozesse intensiveren hierbei Radikalisierungsprozesse und verfestigen damit extremistische Weltbilder. Gemäß der framing-Theorie (frame als individuelle Weltsicht, bestehend aus Glaubenssätzen und Interpretationsschemata) von Quintan Wiktorowicz14 entsteht (islamistische) Radikalisierung durch soziale Bindungen. In diesen Radikalisierungsprozessen wachsen Mitglieder einer Gruppe in eine konstruierte Weltsicht hinein, die Verantwortung für soziale Ungerechtigkeiten konkreten Verursachern zuschreibt.
Einen wesentlichen Aspekt für den Umgang sich radikalisierender Inhaftierter stellen grundsätzlich – sowohl aufgrund notwendiger Fragen nach geeigneten Resozialisierungsmaßnahmen als auch aus Sicherheitsaspekten – biographische Merkmale der einzelnen Personen dar. Auch die gewählten vollzugsinternen Strategien zur Erkennung von Radikalisierungstendenzen basieren entsprechend auf dem vorhandenen wissenschaftlichen Wissen über Radikalisierungsfaktoren, die den Weg einer Ideologisierung bzw. Radikalisierung fördern können bzw. als ursächlich für eine solche Entwicklung gesehen werden. Als problematisch wird der im Justizvollzug begründete „begrenzte Lebensraum“ der Inhaftierten angesehen, durch den die Auswahl von Gesprächs- und Vertrauenspersonen auf ein Minimum beschränkt ist.15 Sowohl eine mangelnde soziale Einbettung als auch eine grundsätzlich limitierte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie die persönliche Einschätzung der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins bzw. einer mit der eigenen Lebenslage einhergehenden ungelösten Frage nach subjektivem Sinn verstärken die Anfälligkeit für eine (islamistische) Radikalisierung.
Vor allem jugendliche und heranwachsende Straftäter werden von psychologischen und sozialwissenschaftlichen Experten in diesem speziellen Zusammenhang als besonders gefährdet für eine (islamistische) Radikalisierung eingestuft. Als Begründung hierfür werden die in einer solchen Lebensphase entwicklungstypischen Fragen nach der eigenen Identitätsfindung, aber auch die häufig vorhandene mangelnde soziale Einbindung bzw. Verantwortung sowie die stärkere Beeinflussbarkeit genannt.16 Dazu kommt zudem das Wissen, dass diese Gruppe nach wissenschaftlicher Erkenntnis auch der präferierten Zielgruppe für Anwerbeversuche von islamistisch Radikalisierten entspricht.
Nach Aussagen eines muslimischen Gefängnisseelsorgers und Imams verschwinden die ohnehin schon geringen Hemmschwellen in Bezug auf Gewalttaten durch einen ideologischen Überbau – verkörpert durch eine islamistische Radikalisierung – gänzlich.17 Gewalttaten und andere Verbrechen würden ideologisch sakralisiert: Vom Zeitpunkt einer islamistischen Radikalisierung an arbeiteten die ehemals Kriminellen für eine „große Sache” und bekämen anders als zuvor ideologisch-religiöses Ansehen, sie würden zu „Löwen der Umma“ (der muslimischen Gemeinschaft) bzw. zu „Löwen Allahs“.18
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass auf der Grundlage verschiedener sozialwissenschaftlicher und psychologischer Untersuchungen die Gefahr einer erfolgreichen islamistischen Radikalisierung vor allem bei psychisch schwachen und labilen Personen besteht, bei denen die Teilhabe an und Mitgliedschaft in einer Gruppe als Ausgleich für die eigene als defizitär wahrgenommene Mangelsituation gedeutet wird.19
In islamistisch-salafistischen Narrativen wird die Ablehnung durch die Gesellschaft als Zeichen für eine Auserwählung durch Gott gedeutet. So könne eine Inhaftierung als gottgewollte und sinnvolle Prüfung in einer „Gesellschaft irregeleiteter Ungläubiger“ verstanden werden. In diesem Sinne rufen verschiedene islamistische Propagandamagazine regelmäßig zur Unterstützung und Freilassung inhaftierter Jihadisten auf und es existieren Verhaltensanleitungen für inhaftierte Jihadisten, die etwa dazu auffordern, Außenkontakte auszunutzen, um versteckte Botschaften zu übergeben, keine „erniedrigenden“ Arbeiten auszuführen und Glaubensregeln zu befolgen.20Ein siebenstufiges Modell für Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten beschreibt Sinai, der betont, dass die identifizierten sieben Stufen nicht kausal aufeinander aufbauen und nicht linear verlaufen müssen:

  1. Persönliche Vorbedingungen wie Gewalterfahrungen, antisoziale Einstellungen, Persönlichkeitskrisen, mangelndes Selbstwertgefühl, Suche nach Orientierung in Verbindung mit dem Schock der Inhaftierung.
  2. Kontextuelle Ermöglichungsfaktoren wie extremistische Netzwerke und Subkulturen, Ideologien, charismatische Anführer und Zugang zu extremistischen Quellen.
  3. Identifizierung mit einer bestimmten Ideologie, Aufgabe oder Gruppe.
  4. Intensivierung der Ideologie durch persönliche Kontakte.
  5. Die militante Haltung als „Krieger“ für eine bestimmte Sache wird voll und ganz übernommen.
  6. Nach Haftentlassung wird entweder eine Tat geplant und durchgeführt oder zunächst eine Terrorausbildung durchlaufen.
  7. In einer folgenden Wiederinhaftierung wiederholt und verstärkt sich der beschriebene Zyklus.21

Nach Sinai ist eine islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten immer multifaktoriell bedingt und könne in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufen. Neben dem Erklärungsansatz von Gefangenenradikalisierung als Folge von persönlichen Krisen verweist Hamm auf ein weiteres Phänomen von Radikalisierung: Wenn Stress und Gewalt in überbelegten oder schlecht geführten Haftanstalten vorkommen, steigt der Wunsch, sich den Autoritäten zu widersetzen, wodurch „identities of resistance“ entstehen können. Dadurch kann der Islamismus, wahrgenommen als „Religion der Unterdrückten“, unter Umständen an Attraktivität gewinnen.22

2.2 Der Blick ins europäische Ausland – Islamistische Radikalisierung in französischen Haftanstalten

„Die meisten Häftlinge sind isoliert und psychologisch fragil. Ihr Alltag ist langweilig und unangenehm, sie müssen auf engstem Raum mit anderen Leuten zusammenleben. Sie sind auf der Suche nach ihrer Identität, nach einem Projekt für die Zeit nach dem Knast. Wenn sich dann ein selbsternannter Imam für sie interessiert, dann können sie schnell in dessen Bann geraten.“ (Aussage eines französischen Gefängnisseelsorgers, Foudil Benabadji23).
Der europaweit bekannte Soziologe Farhad Khosrokhavar bezeichnet Haftanstalten in Frankreich als Schmelztiegel, in dem die Identitätskrise der Nachkommen nordafrikanischer Einwandererfamilien auf besonders günstige Entfaltungsmöglichkeiten für islamistische Radikalisierungsprozesse trifft.24 Nach seinen Angaben machen Muslime in französischen Haftanstalten ca. die Hälfte der Häftlinge aus, obwohl der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung Frankreichs bisher lediglich bei ca. acht bis neun Prozent liegt.25 In den Einzugsgebieten der großen französischen Städte wiederum, z.B. in und um Lyon und Marseille soll der Anteil muslimischer Inhaftierter in Haftanstalten bei bis zu 70 Prozent liegen.
Innerhalb von französischen Haftanstalten unterscheidet Khosrokhavar in drei Kategorien radikalisierter Akteure:

  • diejenigen, die schon eine deutliche Vergangenheit als islamistische Terroristen haben (verurteilt wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“);
  • diejenigen, die den Schutz einer Führerpersönlichkeit suchen, um Repressalien von Bandenchefs oder anderen Personen zu entkommen, die ihre besonders geschwächte Position ausnutzen wollen. Diese Akteure radikalisieren sich – zumindest anfangs – aus strategischen Gründen. Später kann allerdings die Gruppendynamik dafür sorgen, dass sie zu wirklichen Radikalisierten werden;
  • diejenigen, die auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Islamismus profitieren wollen, um an Prestige bzw. an Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Der Islamismus ist für diese Personengruppe ein Sprungbrett zu „Ruhm im Gefängnis“.26

So spiegeln sich in der Radikalisierung in französischen Haftanstalten Hauptentwicklungen der französischen Gesellschaft. Die islamistische Radikalisierung in Haftanstalten hängt auch von den jeweiligen Haftbedingungen ab, so dass die Organisation einer Haftanstalt, ja selbst ihre Architektur Radikalisierungsprozesse begünstigen oder hemmen kann. So sollen Haftanstalten mit einer „liberalen“ Verwaltung, wie beispielsweise in Clairvaux, die den Haftbedingungen geschuldete Frustration und die Radikalisierung, zu denen sie führen kann, in Grenzen halten. Umgekehrt kann nach Angaben von Khosrokhavar in Haftanstalten, die als besonders streng gelten, die Folge von Demütigungen und Frustrationen ebenso zur Radikalisierung beitragen wie eine institutionelle Taubheit, mit der die Behörden auf Forderungen und Bitten reagieren, wie beispielsweise Zugang zu Unterhaltung, Sport und Unterbringung in Zellen mit höchstens zwei Inhaftierten, normale Bedingungen für die Ausübung ihres Glaubens (z.B. das gemeinsame Freitagsgebet) und weniger drakonische Einschränkungen beim Besuch von Familienangehörigen. Gemäß Khosrokhavar können in französischen Haftanstalten inhaftierte Muslime aus einer Reihe von Gründen – unter anderem auf Grund der zu geringen Anzahl an Anstaltsgeistlichen – oftmals nicht das gemeinsame Freitagsgebet verrichten, was zu tiefer Frustration und Viktimisierung („innere Unterdrückung“) führt.
Der muslimische Gefängnisseelsorger Foudil Benabadji bezeichnet muslimische Inhaftierte als „leichte Ziele“ für selbsterklärte Imame, die den orientierungslosen, frustrierten jungen Männern ein Lebensprojekt ausmalten. Weiter spricht Benabadji von einem „Do-it-yourself-Islam“, der den oftmals ohne Vater aufgewachsenen Männern ein Gefühl von Bedeutung gebe, das ihnen in ihrer Kindheit und Jugend fehlte. Sie sähen sich als „heilige Krieger“, als Teil eines großen missionarischen Werkes. So hätten die islamistisch Radikalisierten als die entwurzelten Kinder der französischen Banlieue den Eindruck, die Verbindung zu ihren Vorfahren wiederzufinden, zu „einem Ur-Islam zurückzukehren“.27

3 Maßnahmen von Prävention und Deradikalisierung


Durch die obigen Ausführungen stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit von Maßnahmen der Deradikalisierung und Prävention im Bereich des Islamismus, um die Gefahr eines Anwerbens von Mitinhaftierten zu verhindern. Da der Strafvollzug in Deutschland seit der Föderalismusreform im September 2006 in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt, unterliegt auch der Bereich der Extremismusprävention in deutschen Justizvollzugsanstalten den Bundesländern.

Daher existiert aktuell kein bundeseinheitliches Konzept zum Umgang mit Islamisten im Strafvollzug. Alle Bundesländer haben sich in den letzten Jahren mit der Thematik islamistischer Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten auseinandergesetzt und teilweise erhebliche Zusatzinvestitionen in diesem Bereich getätigt, jedoch sind die Maßnahmen entsprechend unterschiedlich und vielfältig:

  • Einschätzung von Risiko und Interventionsbedarf
  • Entdeckung von Radikalisierung
  • Risikoeinschätzung/Gefahrenprognose
  • Instrumente zur Risikoeinschätzung
    • Interventionen
    • Einzelne Interventionsangebote und Aktivitäten
    • Bildungsangebot
    • Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten
    • Glaubensbasierte Interventionen
    • Psychologische und kognitive Interventionen
    • Kreative und kulturelle Aktivitäten
    • Mentoren28
  • Das Personal des allgemeinen Vollzugsdienstes sollte über mehr als Grundkenntnisse zu islamistischer Radikalisierung und der Wichtigkeit des alltäglichen Hafterlebens für die Verhinderung von Radikalisierung und Maßnahmen der Deradikalisierung verfügen. Personal, das unmittelbar mit islamistischen Inhaftierten arbeitet, muss über vertiefte Kenntnisse im Bereich Radikalisierung, Prävention und Deradikalisierung verfügen.29Der Justizvollzug sollte die Unterschiedlichkeit von Profilen, Bedürfnissen und Risiken von Islamisten beachten.
  • Eine Risikoeinschätzung sollte bei Islamisten nicht allein auf aktuell verfügbaren (statistischen) Instrumenten beruhen, sondern muss durch genaues, individuelles Wissen über die Person ergänzt werden. Erhoben werden sollten Aspekte in Bezug auf Risiken für das Verhalten in und nach der Haft und auf Ansatzpunkte für eine Deradikalisierung.
  • Risikoeinschätzungen sollten regelmäßig – mindestens halbjährlich – aktualisiert und laufende Sicherheits- und Interventionsmaßnahmen regelmäßig an den aktuellen individuellen Stand angepasst werden.
  • Interventionsmaßnahmen sollten an die erhobenen individuellen Schutz- und Risikofaktoren angepasst sein. Angeboten werden können, in Abhängigkeit von individuellen Bedürfnissen, etwa Bildungs- Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, glaubensbasierte Interventionen, psychologische und kognitive Interventionen, kreative, kulturelle und sportliche Aktivitäten. Zudem können Familien mit einbezogen und Mentoren eingesetzt werden.
  • Religionsausübung sollte in angemessener Form gewährleistet werden. Die muslimische Gefängnisseelsorge sollte ausgebaut, nicht aber als direktes Mittel zur Deradikalisierung verstanden werden.30

In einzelnen Bundesländern wurden in den letzten Jahren und Monaten Strukturbeobachter in den Justizvollzugsanstalten ausgebildet, die islamistisch Radikalisierte anhand bestimmter Merkmale („IS“-Flaggen, spezielle Symbole, Kriegsmusik) erkennen und Netzwerke aufdecken sollen. Telefongespräche und Post werden überwacht, Zellen werden häufiger kontrolliert. Tatsächlich kursierten schon 2014 Aufnahmen mit Gesängen zur Lobpreisung des „Kalifen“ des „Islamischen Staates“ in Justizvollzugsanstalten.31


Justizvollzugsanstalt Kiel

Eine weitere Maßnahme einiger Bundesländer – derzeit in Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und Sachsen – ist pädagogischer Art: Mitarbeiter des Violence Prevention Network (VPN) führen mit Extremisten ein Anti-Gewalt- und Kompetenz-Training durch. Speziell für die Arbeit mit religiös motivierten Extremisten wurden muslimische Pädagogen und Islamwissenschaftler eingestellt und zu Anti-Gewalt- und Kompetenz-Trainern fortgebildet. Der Zugang zu den Inhaftierten wird durch die gemeinsame Religionszugehörigkeit deutlich erleichtert und in Gruppen- und Einzelsitzungen werden manipulative Mechanismen für die Häftlinge sichtbar gemacht und die islamistische Ideologie dekonstruiert.
Als Antwort auf die Frage – wie finden wir die richtigen Gefängnisseelsorger – müssen Erfahrungen aus Großbritannien berücksichtigt werde, wo teilweise Salafisten oder Wahhabiten die Aufgabe des Gefängnisseelsorgers übernahmen, so dass Imame und Gefängnisseelsorger mit einem „fragwürdigen“ Islamverständnis das Problem mit islamistisch radikalisierten Häftlingen in Haftanstalten verstärken können.32 Daher muss die Auswahl der Gefängnisseelsorger mit größter Sorgfalt erfolgen.

4 Fazit und Ausblick


„Wenn mehr islamistische Gefährder in Haft kommen, erhöht sich das Sicherheitsrisiko für die Bediensteten, vom Mitarbeiter auf der Station bis zum Imam.“ René Müller, Chef des Bundesverbandes der Strafbediensteten33
Justizvollzugsanstalten können Weichen für die Zukunft der Inhaftierten stellen. Die islamistischen Terroranschläge der letzten Jahre haben gezeigt, dass sie Brutstätten für islamistische Radikalisierungsprozesse sein können. Daher muss gerade dort verstärkt Präventions- und Deradikalisierungsarbeit stattfinden.
Nach Auskunft des Bundeskriminalamts befinden sich im Augenblick über 150 islamistische Gefährder in deutschen Justizvollzugsanstalten und die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann wies zudem auf Hunderte noch laufende Ermittlungsverfahren hin. Daher rechne sie in den nächsten Jahren „mit einer Welle von Extremisten in unseren Justizvollzugsanstalten“.34 Zu den islamistischen Gefährdern hinzu kommen noch zahlreiche weitere Inhaftierte, die als „relevante Personen“ gelten, gemeint sind damit islamistische Sympathisanten oder Unterstützer. René Müller, Chef des Bundesverbandes der Strafbediensteten, fordert angesichts der aktuellen und künftigen Islamisten und islamistischen Terroristen in deutschen Justizvollzugsanstalten mehr Schulungen und Fortbildungen für das Personal.35 Darüber hinaus fordert er, dass die Bundesländer sich regelmäßig über Radikalisierung-Tendenzen und die Entwicklung von Inhaftierten austauschen sollten. Wenn ein Inhaftierter sich in einem bayerischen Vollzug radikalisiert, entlassen wird und einige Zeit später in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen wieder inhaftiert wird, dann wüssten die dortigen Kollegen nichts von dessen Tendenzen, falls die Person vorher nicht dem Verfassungsschutz aufgefallen ist, so Müller. Ein möglicher islamistischer Gefährder könne also im Vollzug nicht nahtlos weiter kontrolliert werden. Wenn Inhaftierte nicht beim Verfassungsschutz und länderübergreifend bei den Justizbehörden erfasst seien, sei dies europaweit schon gar nicht zu leisten.36Die Jihad-Rückkehrer aus Syrien und dem Irak, deren Zahl in den Justizvollzugsanstalten augenblicklich und künftig zunimmt, gelten nach Aussage von muslimischen Gefängnisseelsorgern bei vielen muslimischen Inhaftierten als Helden und Vorbilder, denen man gerne zuhört.37 Wenn diese Jihad-Rückkehrer dann nicht von ihren Erlebnissen traumatisiert und desillusioniert sind, sondern an ihrem religiös-ideologischen Fanatismus festhalten, kann sich die Gefahr einer islamistischen Radikalisierung schnell multiplizieren. Hinzu kommen diejenigen islamistisch radikalisierten Inhaftierten, die zwar nicht in Syrien oder dem Irak waren, aber dennoch islamistisch-radikale Ansichten vertreten und in Justizvollzugsanstalten agitieren.


Justizvollzugsanstalt Bützow

Abschließend ist festzuhalten, dass islamistische Radikalisierungsprozesse in Justizvollzugsanstalten augenblicklich und zukünftig von großer Relevanz für die Sicherheitsbehörden und den Justizvollzug sind und sein werden. Dringend notwendig ist dabei sowohl ein bundesländerübergreifender Austausch von Informationen über Radikalisierer und Radikalisierte als auch bundesländer- und länderübergreifende Programme und Maßnahmen von Prävention und Deradikalisierung.

Bildrechte: GdP Schleswig-Holstein und Redaktion.

Anmerkungen

  1. ORR Dr. Stefan Goertz ist Dozent im Fachbereich Bundespolizei der Hochschule des Bundes in Lübeck.
  2. www.sueddeutsche.de/politik/attentat-in-strassburg-tatverdaechtiger-sass-etliche-jahre-im-gefaengnis-auch-in-deutschland-1.4249809; 8.1.2019.
  3. www.spiegel.de/politik/ausland/terror-in-kopenhagen-und-paris-parallelen-der-attentate-a-1018903.html; 8.1.2019.
  4. Kienle, S. (2016): Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten am Beispiel Bayern, S. 10.
  5. de.statista.com/statistik/daten/studie/372757/umfrage/auslaenderanteil-in-gefaengnissen-in-ausgewaehlten-laendern/; 8.1.2019.
  6. www.deutschlandfunkkultur.de/ideologisierung-in-gefaengnissen-imame-und-seelsorge-als.1008.de.html; 8.1.2019.
  7. www.welt.de/politik/deutschland/article173794804/Islamisten-in-Haft-Wachsende-Zahl-von-Gefaehrdern-alarmiert-Gefaengnispersonal.html; 8.1.2019.
  8. Goertz, S. (2017): Islamistischer Terrorismus, S. 32.
  9. Goertz 2017, S. 63-64.
  10. Khosrokhavar, F. (2016): Radikalisierung, S. 183.
  11. Kienle 2016, S. 26-27.
  12. Baran, Z. (2005): Fighting the war of ideas. In: Foreign Affairs 84/6, S. 68-78.
  13. Kienle 2016, S. 28.
  14. Vgl. Logvinov, M. (2012): Islamistische Radikalisierung als Wissensobjekt? Zur Erklärungskraft wissenschaftlicher Ansätze und sicherheitsbehördlicher Hypothesen. In: Kriminalistik 66 (4), S. 241.
  15. www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online10.pdf; S. 92.
  16. Ebd., S. 93.
  17. www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/270445/gefaengnisse-als-orte-der-radikalisierung-und-der-praevention; 8.1.2019.
  18. Ebd.
  19. www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online10.pdf; S.93.
  20. Ebd., S. 27.
  21. Sinai, J. (2014): Developing a model of prison radicalisation. In: Silke, A. (Hrsg.): Prisons, Terrorism and Extremism. Critical issues in management, radicalisation and reform. Political violence. S. 45-46.
  22. Hamm, M. (2012): Prisoner Radicalisation in the United States. Prison Service Journal, (203), S. 4–7.
  23. Zit. n. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/muslimische-haeftlinge-in-frankreich-alleingelassen-in-der-zelle-13010391.html; 8.1.2019.
  24. Khosrokhavar 2016, S. 186-188.
  25. Ebd.
  26. Ebd., S. 193-194.
  27. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/muslimische-haeftlinge-in-frankreich-alleingelassen-in-der-zelle-13010391.html; 8.1.2019.
  28. www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online10.pdf; S. 35-48.
  29. Ebd., S. 53.
  30. Ebd.
  31. www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/270445/gefaengnisse-als-orte-der-radikalisierung-und-der-praevention18-21; 8.1.2019.
  32. www.dailymail.co.uk/news/article-3546919/Prison-imams-free-spread-hatred-jails-Preachers-distributing-extremist-literature-including-homophobic-misogynistic-leaflets.html; 8.1.2019.
  33. www.welt.de/politik/deutschland/article173794804/Islamisten-in-Haft-Wachsende-Zahl-von-Gefaehrdern-alarmiert-Gefaengnispersonal.html; 8.1.2019.
  34. Ebd.
  35. Ebd.
  36. www.dw.com/de/gewerkschaftschef-islamistische-radikalisierung-%C3%BCberfordert-gef%C3%A4ngnisse/a-46720898; 8.1.2019.
  37. www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/270445/gefaengnisse-als-orte-der-radikalisierung-und-der-praevention18-21; 8.1.2019.