Wissenschaft  und Forschung

TerrorMANV – Massenanfall von Verletzten bei Terrorlagen

7 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 14.7.2016 in Nizza aus der Sicht der Unfallchirurgie

Für seinen islamistisch-terroristischen Anschlag in Nizza am 14.7.2016 nutzte der Attentäter, Mohamed Bouhlel, auf der Promenade des Anglais einen LKW und Schusswaffen, um 86 Personen zu töten und mehr als 500 – zum Teil schwer – zu verletzen. Am Abend des 14.7.2016 befanden sich aufgrund der Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag ca. 30.000 Menschen auf der Strandpromenade von Nizza, um von dort aus ein Feuerwerk zu beobachten.34 Ab 22.23 Uhr fuhr der islamistische Terrorist mit einem weißen LKW vom Typ Renault Midlum 300 auf die eigentlich für den Verkehr gesperrte Strandpromenade. Zwischen den Straßennummern 11 und 147 überfuhr er auf einer Strecke von etwa zwei Kilometern mehrere hundert Menschen.35 Dazu schoss er mehrfach auf Passanten und Polizisten. Getroffen fuhr er noch etwa 300 Meter weiter, dann blieb der LKW unweit des Palais de la Méditerranée stehen, der Attentäter war tot. Aufgrund der unsicheren Lage beschlossen einige Ersthelfer, die ersten Verletzten in zivilen Fahrzeugen zum nächsten Krankenhaus zu fahren und nicht auf die Krankenwagen zu warten.36 Wenige Minuten später koordinierten Sicherheitskräfte 559 Rettungskräfte, davon 33 Ärzte, 58 Krankenschwestern und 468 Feuerwehrmänner. In folgende vier Kategorien wurden die Verletzten dabei eingeordnet: Dringender Notfall, Notfall, weniger dringender Notfall und Tote bzw. Sterbende. Um 23.30 Uhr, also eine Stunde nach dem islamistisch-terroristischen Anschlag wurde ein Notfallplan umgesetzt, der dafür sorgte, dass zusätzliche Ärzte und weiteres Personal auf die beteiligten Krankenhäuser verteilt wurden. Allerdings waren schon zahlreiche Ärzte und weiteres Personal in die umliegenden Krankenhäuser geeilt, informiert über die sozialen Medien und boten dort ihre Hilfe an. Um Mitternacht aktivierte das französische Gesundheitsministerium eine übergeordnete, koordinierende Einsatzzentrale, die den Einsatz von 250 weiteren Fachkräften – darunter auch Psychiater, Psychologen, Krankenschwestern und Verwaltungskräfte – koordinierte. Ab ca. 22.30 kamen viele neue dringende Notfälle in das Krankenhaus Pasteur 2. Der Triage-Prozess, aus dem Französischen, trier, sortieren, aussuchen, auf Deutsch als Sichtung bzw. Einteilung übersetzt, sprich die Priorisierung benötigter medizinischer Behandlung wurden im Krankenhaus Pasteur 2 von zwei Chirurgen und einem Anästhesisten durchgeführt. Die durchschnittliche Zeit für den Triage-Prozess lag bei 2 Minuten und 27 Sekunden, plus/minus 1 Minute und 45 Sekunden, was das dramatische quantitative Maß der zu behandelnden Schwerverletzten verdeutlicht. Da sich das Kinderkrankenhaus Lenval in unmittelbarer Nähe zum Tatort befand, wurden dort innerhalb von zwei Stunden 44 Patienten behandelt.37 Aufgrund der Tatsache, kurz zuvor die Fußball Europameisterschaft in Frankreich stattgefunden hatte, hatte das Kinderkrankenhaus Lenval zahlreiche Übungen im Bereich MANV absolviert. Von den 44 zu behandelnden Patienten waren 12 Erwachsene, fünf davon in einem solch kritischen Zustand, dass vier davon kurze Zeit später starben. Die verbleibenden 32 Patienten waren Kinder, acht davon in einem sehr kritischen Zustand, zwei starben.38 Die zu behandelnden Patienten wiesen Verletzungen auf, die denen von MANV aus Autounfällen ähnelten, also „gewöhnliche“ MANV-Verletzungen, keine Verletzungen, verursacht durch Sprengstoff, Splitter, Projektile. Die häufigste Todesursache war hämorrhagischer Schock und Schädeltrauma.39 Eine Post-Traumatische Belastungs-Störung (PTBS) wurden bei den Verletzten – bei den verletzten Erwachsenen ausgeprägter als bei den verletzten Kindern – diagnostiziert, aber auch das Krankenhauspersonal war davon betroffen.

8 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 22.5.2017 in Manchester aus der Sicht der Unfallchirurgie

Beim islamistischen Terroranschlag in Manchester am 22.5.2017 auf ein Popkonzert in der Manchester Arena in Manchester, das ca. 20.000 überwiegend jüngere Menschen besuchten, starben 23 Menschen – darunter auch Kinder – und 116 Verletzte wurden in Krankenhäuser gebracht. Dieser islamistisch-terroristische Anschlag war der schwerste seit denen in London am 7.7.2005. Der 22 Jahre alte als islamistischer Gefährder polizeibekannte Student Salman Abedi nutzte die Taktik eines Selbstmordattentats mit einem Koffer bzw. großen Rucksack, das USBV war mit zahlreichen Metallteilen wie Muttern und Schrauben präpariert.40 Bilder des Tatorts zeigten sehr viele Metallteile, die als Splitter eine schrapnellartige Wirkung entfalten hatten. Nach Quellenangaben der BBC musste ein Großteil der schwerer Verletzten sofort operiert werden, zahlreiche Körperteile von Patienten waren „völlig übersät mit Metallsplittern“.41 Familienangehörige von Verletzten sprachen nach dem Anschlag davon, dass zahlreiche Verletzte kritische Operationen überstehen mussten, in denen einerseits Körperteile amputiert und andererseits Metallsplitter – u.a. Schrauben und Muttern – entfernt werden mussten.42 Von den 116 Verletzten waren 63 schwerer bis lebensbedrohlich verletzt und benötigten nach Angaben von beteiligten Ärzten „lebensrettende Operationen” aufgrund von „life-changing injuries and will need care for years to come“, sprich lebensverändernde Verletzungen mit Folgen wie Amputationen, die jahrelange medizinische Versorgung notwendig machen.43

Die Aussagen von Ärzten verschiedener Krankenhäuser in Manchester „hospitals were on the brink of being overwhelmed by the extraordinary” number of people with critical injuries in the aftermath of the attack” verdeutlicht den qualitativen Unterschied von islamistischen Terroranschlägen durch Fahrzeuge gegenüber USBV.44 Der Anschlag in Manchester zeigt aus unfallchirurgischer Perspektive, dass Krankenhäuser der westlichen Welt – anders als diejenigen in Israel, die seit den 1980ern regelmäßig mit schwersten Verletzungen durch TerrorMANV konfrontiert sind – noch nicht auf den qualitativen und quantitativen Unterschied von TerrorMANV vorbereitet sind.

9 Analyse und Ausblick: Anpassen der Ausbildungs- und Trainingsinhalte an die besonderen Herausforderungen von TerrorMANV

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie hat einen Fünf-Punkte-Plan erarbeitet, mit dem das Bewusstsein der Rettungskräfte, Notärzte und Kliniken für die Bedrohung durch islamistisch-terroristische Anschläge geschärft und Kenntnisse zum Vorgehen in verschiedenen Szenarien transportiert werden sollen.45 Neben Konferenzen und regionalen Informationstagen zählt auch ein verschriftlichter Leitfaden für die Planung erforderlicher Maßnahmen, dazu wird das Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie um ein Schuss- und Explosionsregister erweitert. Daneben ist für Ende 2018 eine Neuauflage des „Weißbuch Schwerverletzten-Versorgung“ geplant, in der das Thema „Terror-Preparedness“ in einem eigenen Kapitel berücksichtigt sein wird. Dazu bietet die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie aktuell Kurse an, in denen es u.a. um die Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen sowie um das „innerklinische Management besonderer Lagen“ geht.46

Wichtig ist eine Adressatenanalyse auf möglichst breiter Ebene: Wer ist bzw. kann von den besonderen Anforderungen eines TerrorMANV betroffen sein? Durch die Rolle als Ersthelfer sind dies in der Regel die Polizei und Passanten als zivile Ersthelfer. Nach Angaben der DGU kann die Zivilbevölkerung, als Ersthelfer, bei stark blutenden Schuss- oder Explosionsverletzungen entscheidend unterstützen, indem sie stark blutende Gliedmaßen mit T-Shirts, Schals oder anderen Kleidungsstücken schnellstmöglich abbinden, noch bevor die Rettungskräfte eintreffen.47 Daneben spricht sie sich für Tourniquets in Verbandskästen aus und auch dafür, dass alle Erste-Hilfe-Kurse in Deutschland und Europa um diese Inhalte erweitert werden.48 Um diesen inhaltlichen, qualitativen Prozess zu unterstützen und zeitlich zu beschleunigen, muss dies gegebenenfalls die parlamentarische Gesetzgebung in Deutschland durchsetzen.

Auf einer sicherheitspolitischen, institutionellen Perspektive muss festgestellt werden, dass die Thematik TerrorMANV, ebenso wie zahlreiche andere mit dem islamistischen Terrorismus als Bedrohungsszenarien verbundene politische Problemfelder von absolut vitaler Bedeutung für die deutsche Zivilbevölkerung und die deutschen Sicherheitskräfte sind. Bildlich gesprochen: Eine schnellstmögliche, umfassende qualitative und quantitative Anpassung der deutschen Rettungskräfte, Ärzte und Kliniken einerseits und der (potentiellen) Ersthelfer andererseits, also der deutschen Polizei und der Zivilbevölkerung (u.a. im Rahmen von qualitativ und quantitativ veränderten Erste-Hilfe-Kursen, aber auch in Form einer ausführlichen und qualitativ hochwertigen Ausbildung und Weiterbildung von Erste-Hilfe-Multiplikatoren an Einrichtungen des öffentlichen Lebens, wie an Schulen, in Kirchen, in Behörden etc.) rettet Menschenleben. Aufgrund der Eindrücke der Bilder der islamistisch-terroristischen Anschläge in Manchester, London und Stockholm in den ersten Monaten des Jahres 2017 anders formuliert: Wenn dieser Änderungsbedarf im Bereich TerrorMANV jetzt nicht gesamtgesellschaftlich, institutionell vor allem von den zuständigen Ministerien für Inneres sowie Gesundheit – auf Bundesebene und auf Länderebene – schnellst möglich erkannt und umgesetzt wird, gefährdet dies zahlreiche Menschenleben!

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