TerrorMANV – Massenanfall von Verletzten bei Terrorlagen
Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1
1 Einführung
Die Analyse der geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate seit dem 11.9.2001 in Europa zeigt, dass sich sowohl die Sicherheitsbehörden als auch die Rettungskräfte qualitativ und quantitativ auf besonders schwere und besonders viele Verletzungen bei den Opfern der Terroranschläge einstellen müssen. Beim islamistisch-terroristischen Anschlag in Madrid am 11.3.2004 wurden beispielsweise 191 Menschen getötet und über 2.050 Menschen verletzt, beim islamistisch-terroristischen Anschlag in London am 7.7.2005 wurden 56 Menschen getötet und über 700 – Hunderte von ihnen durch die kinetische Energie der Detonationen schwer, u.a. in Form von abgetrennten Gliedmaßen – verletzt.2
Bei den multiplen und zeitversetzten islamistisch-terroristischen Anschlägen am 13.11.2015 in Paris starben 130 Menschen, mehr als 350 wurden verletzt, 100 davon schwer.3 Durch die islamistischen Terroranschläge in Brüssel am 22.3.2016 wurden – zeitversetzt durch drei Selbstmordattentate am Flughafen Brüssel-Zaventem sowie in der Brüsseler Innenstadt, im U-Bahnhof Maalbek – 35 Menschen getötet und mehr als 300 – teilweise schwer – verletzt.4 Beim islamistisch-terroristischen Anschlag in Nizza am 14.7.2016 nutzte der Attentäter Mohamed Bouhlel auf der Promenade des Anglais einen LKW und Schusswaffen, um 86 Personen zu töten und mehr als 400 – zum Teil schwer – zu verletzen.5 Der islamistische Terrorist Anis Amri tötete am 19.12.2016 mit einem LKW zwölf Menschen, über 55 wurden verletzt, einige davon lebensgefährlich.6 Der usbekische Flüchtling Rachmat Akilow fuhr am 7.4.2017 mit einem gestohlenen LKW in der Stockholmer Innenstadt gezielt in eine Fußgängerzone, wobei fünf Menschen getötet sowie 14 weitere – teilweise schwer – verletzt wurden.7 Beim islamistischen Terroranschlag in London am 22.3.2017 auf der Westminster-Brücke und auf dem Gelände des Westminsterpalastes im Londoner Regierungsviertel starben sechs Menschen, über 40 Personen wurden verletzt.8 Beim Anschlag des britischen homegrown Jihadisten Salman Abedi, einem 22 Jahre alten Studenten, auf eine Konzertveranstaltung in Manchester, die vor allem von Jugendlichen besucht wurde, starben 23 Menschen und 116 wurden – teilweise schwer – verletzt.9 Unter den Todesopfern des Sprengstoffanschlags waren auch Kinder und zwölf der Verletzten waren jünger als 16 Jahre. Das jüngste bei dem Anschlag getötete Kind war acht Jahre alt.10 Der islamistische Terroranschlag am 3.6.2017 durch drei islamistische Terroristen mit einem Lieferwagen und Messern auf der London Bridge tötete acht Menschen und verletzte 48, teilweise schwer.11 Diese beispielhaft ausgewählten Fälle von islamistisch-terroristischen Anschlägen verdeutlichen das enorme qualitative und quantitative Niveau von Verletzungen, in Hunderten Fällen mit Todesfolge. Diese beispielhaft aufgeführten Fälle werden medizinisch als Massenanfall von Verletzten (MANV) durch terroristische Anschläge, kurz TerrorMANV, bezeichnet und stellen ein operative Herausforderung für die Sicherheitskräfte, Rettungskräfte, Notärzte und die Kliniken dar, die als historisch bewertet werden muss.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie ist die deutsche Unfallchirurgie auf einen Massenanfall von Verletzten (MANV), wie beispielsweise durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn, gut vorbereitet.12 Dieses qualitative und quantitative Maß an medizinischer Vorbereitung treffe allerdings noch nicht auf einen MANV im Terrorfall (TerrorMANV) zu, so die aktuelle Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.13 Nach Angaben des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie Prof. Dr. Dr. Hoffmann ist die deutsche zivile Unfallchirurgie durch die lange Phase des Friedens nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr auf das qualitative und quantitative Niveau von Verletzungsmustern wie Schussverletzungen durch Kriegswaffen, Explosionsverletzungen durch Nagelbomben, Hieb- und Stichverletzungen in allen Körperregionen durch Stichwaffen vorbereitet.14 Deutschland ist, was das Rettungssystem und die Unfallversorgung bei gewöhnlichen MANV betrifft, hervorragend aufgestellt. Doch Maschinenpistolen, Sprengsätze und Nagelbomben – als typische Mittel von islamistisch-terroristischen Anschlägen – verursachen andere Verletzungen als Autounfälle und erfordern daher auch ein anderes Eingreifen von Rettungskräften und Ärzten. Während es bei Verkehrsunfällen besonders darauf ankommt, die Atmung zu stabilisieren, steht bei Sprengstoffexplosionen im Vordergrund, Blutungen zu stillen. Etwa 90 Prozent der Opfer von Terroranschlägen sterben demnach, weil sie verbluten.15
Unkalkulierbare Gefahrensituationen am Ort des Geschehens und schwere Verletzungsmuster, wie komplexe Schuss- und Explosionsverletzungen, sowie die hohe Anzahl hochgradig lebensgefährlich Verletzter an möglicherweise mehreren Orten zu verschiedenen Zeitpunkten stellen die Rettungskräfte, Notärzte und die Kliniken nicht nur vor organisatorische, sondern auch vor neue medizinische als auch taktisch-strategische Herausforderungen.16 Bereits rein quantitativ würden islamistische Anschläge größeren Ausmaßes Kliniken und Rettungsdienste in vielerlei Hinsicht überfordern.17
2 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 19.12.2016 in Berlin aus der Sicht der Unfallchirurgie
Aus der Sicht der Unfallchirurgie „habe man vergleichsweise noch Glück gehabt“, da es sich um einen einzelnen Attentäter handelte, der Anschlag also räumlich und zeitlich begrenzt war und die durch den Lastwagen verursachten Verletzungsmuster denen bei einem schweren Verkehrsunfall ähnelten, erklärt Dr. von Lübken, Flottillenarzt am Bundeswehrkrankenhaus Ulm.18 Eine Bewertung des islamistisch-terroristischen Anschlags am 19.12.2016 in Berlin ergibt, dass alle bei dem Attentat verletzten Patienten individualmedizinisch versorgt werden konnten und dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen, so dass die insgesamt 59 Verletzten auf 27 Krankenhäuser verteilt werden konnten, in denen das angeforderte Personal zeitnah für die medizinische Behandlung zur Verfügung stand. Bei der medizinischen Versorgung habe man keine Abstriche machen müssen, von den zwölf Todesfällen wäre aus rechtsmedizinischer Sicht keiner durch medizinische Maßnahmen zu verhindern gewesen. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie kommt im Vergleich zu Szenarien durch islamistisch-terroristische Anschläge wie in Paris (13.11.2015), Brüssel (22.3.2016), Madrid (11.3.2004) oder New York (11.9.2001) allerdings zur Einschätzung, dass die Rettungskräfte, Notärzte und Kliniken in Deutschland noch nicht für solche qualitativen und quantitative Ausmaße vorbereitet seien.19
Islamistisch-terroristischer Anschlag am 19.12.2016 in Berlin. (Bildrechte bei Wikimedia Commons)
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