TerrorMANV – Massenanfall von Verletzten bei Terrorlagen

Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1

1 Einführung

Die Analyse der geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate seit dem 11.9.2001 in Europa zeigt, dass sich sowohl die Sicherheitsbehörden als auch die Rettungskräfte qualitativ und quantitativ auf besonders schwere und besonders viele Verletzungen bei den Opfern der Terroranschläge einstellen müssen. Beim islamistisch-terroristischen Anschlag in Madrid am 11.3.2004 wurden beispielsweise 191 Menschen getötet und über 2.050 Menschen verletzt, beim islamistisch-terroristischen Anschlag in London am 7.7.2005 wurden 56 Menschen getötet und über 700 – Hunderte von ihnen durch die kinetische Energie der Detonationen schwer, u.a. in Form von abgetrennten Gliedmaßen – verletzt.2

Bei den multiplen und zeitversetzten islamistisch-terroristischen Anschlägen am 13.11.2015 in Paris starben 130 Menschen, mehr als 350 wurden verletzt, 100 davon schwer.3 Durch die islamistischen Terroranschläge in Brüssel am 22.3.2016 wurden – zeitversetzt durch drei Selbstmordattentate am Flughafen Brüssel-Zaventem sowie in der Brüsseler Innenstadt, im U-Bahnhof Maalbek – 35 Menschen getötet und mehr als 300 – teilweise schwer – verletzt.4 Beim islamistisch-terroristischen Anschlag in Nizza am 14.7.2016 nutzte der Attentäter Mohamed Bouhlel auf der Promenade des Anglais einen LKW und Schusswaffen, um 86 Personen zu töten und mehr als 400 – zum Teil schwer – zu verletzen.5 Der islamistische Terrorist Anis Amri tötete am 19.12.2016 mit einem LKW zwölf Menschen, über 55 wurden verletzt, einige davon lebensgefährlich.6 Der usbekische Flüchtling Rachmat Akilow fuhr am 7.4.2017 mit einem gestohlenen LKW in der Stockholmer Innenstadt gezielt in eine Fußgängerzone, wobei fünf Menschen getötet sowie 14 weitere – teilweise schwer – verletzt wurden.7 Beim islamistischen Terroranschlag in London am 22.3.2017 auf der Westminster-Brücke und auf dem Gelände des Westminsterpalastes im Londoner Regierungsviertel starben sechs Menschen, über 40 Personen wurden verletzt.8 Beim Anschlag des britischen homegrown Jihadisten Salman Abedi, einem 22 Jahre alten Studenten, auf eine Konzertveranstaltung in Manchester, die vor allem von Jugendlichen besucht wurde, starben 23 Menschen und 116 wurden – teilweise schwer – verletzt.9 Unter den Todesopfern des Sprengstoffanschlags waren auch Kinder und zwölf der Verletzten waren jünger als 16 Jahre. Das jüngste bei dem Anschlag getötete Kind war acht Jahre alt.10 Der islamistische Terroranschlag am 3.6.2017 durch drei islamistische Terroristen mit einem Lieferwagen und Messern auf der London Bridge tötete acht Menschen und verletzte 48, teilweise schwer.11 Diese beispielhaft ausgewählten Fälle von islamistisch-terroristischen Anschlägen verdeutlichen das enorme qualitative und quantitative Niveau von Verletzungen, in Hunderten Fällen mit Todesfolge. Diese beispielhaft aufgeführten Fälle werden medizinisch als Massenanfall von Verletzten (MANV) durch terroristische Anschläge, kurz TerrorMANV, bezeichnet und stellen ein operative Herausforderung für die Sicherheitskräfte, Rettungskräfte, Notärzte und die Kliniken dar, die als historisch bewertet werden muss.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie ist die deutsche Unfallchirurgie auf einen Massenanfall von Verletzten (MANV), wie beispielsweise durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn, gut vorbereitet.12 Dieses qualitative und quantitative Maß an medizinischer Vorbereitung treffe allerdings noch nicht auf einen MANV im Terrorfall (TerrorMANV) zu, so die aktuelle Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.13 Nach Angaben des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie Prof. Dr. Dr. Hoffmann ist die deutsche zivile Unfallchirurgie durch die lange Phase des Friedens nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr auf das qualitative und quantitative Niveau von Verletzungsmustern wie Schussverletzungen durch Kriegswaffen, Explosionsverletzungen durch Nagelbomben, Hieb- und Stichverletzungen in allen Körperregionen durch Stichwaffen vorbereitet.14 Deutschland ist, was das Rettungssystem und die Unfallversorgung bei gewöhnlichen MANV betrifft, hervorragend aufgestellt. Doch Maschinenpistolen, Sprengsätze und Nagelbomben – als typische Mittel von islamistisch-terroristischen Anschlägen – verursachen andere Verletzungen als Autounfälle und erfordern daher auch ein anderes Eingreifen von Rettungskräften und Ärzten. Während es bei Verkehrsunfällen besonders darauf ankommt, die Atmung zu stabilisieren, steht bei Sprengstoffexplosionen im Vordergrund, Blutungen zu stillen. Etwa 90 Prozent der Opfer von Terroranschlägen sterben demnach, weil sie verbluten.15

Unkalkulierbare Gefahrensituationen am Ort des Geschehens und schwere Verletzungsmuster, wie komplexe Schuss- und Explosionsverletzungen, sowie die hohe Anzahl hochgradig lebensgefährlich Verletzter an möglicherweise mehreren Orten zu verschiedenen Zeitpunkten stellen die Rettungskräfte, Notärzte und die Kliniken nicht nur vor organisatorische, sondern auch vor neue medizinische als auch taktisch-strategische Herausforderungen.16 Bereits rein quantitativ würden islamistische Anschläge größeren Ausmaßes Kliniken und Rettungsdienste in vielerlei Hinsicht überfordern.17

2 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 19.12.2016 in Berlin aus der Sicht der Unfallchirurgie

Aus der Sicht der Unfallchirurgie „habe man vergleichsweise noch Glück gehabt“, da es sich um einen einzelnen Attentäter handelte, der Anschlag also räumlich und zeitlich begrenzt war und die durch den Lastwagen verursachten Verletzungsmuster denen bei einem schweren Verkehrsunfall ähnelten, erklärt Dr. von Lübken, Flottillenarzt am Bundeswehrkrankenhaus Ulm.18 Eine Bewertung des islamistisch-terroristischen Anschlags am 19.12.2016 in Berlin ergibt, dass alle bei dem Attentat verletzten Patienten individualmedizinisch versorgt werden konnten und dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen, so dass die insgesamt 59 Verletzten auf 27 Krankenhäuser verteilt werden konnten, in denen das angeforderte Personal zeitnah für die medizinische Behandlung zur Verfügung stand. Bei der medizinischen Versorgung habe man keine Abstriche machen müssen, von den zwölf Todesfällen wäre aus rechtsmedizinischer Sicht keiner durch medizinische Maßnahmen zu verhindern gewesen. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie kommt im Vergleich zu Szenarien durch islamistisch-terroristische Anschläge wie in Paris (13.11.2015), Brüssel (22.3.2016), Madrid (11.3.2004) oder New York (11.9.2001) allerdings zur Einschätzung, dass die Rettungskräfte, Notärzte und Kliniken in Deutschland noch nicht für solche qualitativen und quantitative Ausmaße vorbereitet seien.19


Islamistisch-terroristischer Anschlag am 19.12.2016 in Berlin. (Bildrechte bei Wikimedia Commons)

3 Ein TerrorMANV unterscheidet sich qualitativ und quantitativ deutlich von einem zivilen MANV

Nach Oberstarzt Prof. Willy, Unfallchirurg am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, muss ein islamistischer Terroranschlag qualitativ und quantitativ auf einem anderen Bedrohungsniveau als ein gewöhnlicher Massenanfall von Verletzten verortet werden.20 So habe die statistische Auswertung von islamistischen Anschlägen weltweit ergeben, dass bei islamistisch-terroristischen Anschlägen der Anteil von Schwer- bis Schwerstverletzten deutlich höher liegt als bei einem gewöhnlichen Massenanfall von Verletzten. Abhängig von den verwendeten Wirkmitteln sind Verletzungen durch Explosionen oder Schusswaffen multidimensional und dementsprechend schwieriger zu behandeln. Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), leicht herzustellende Selbstlaborate aus Aluminiumpulver und Kaliumpermanganat oder industrieller Sprengstoff, in Koffern, Rucksäcken oder auch in Sprengstoffwesten bzw. -gürteln – womöglich mit Nägeln, Schrauben, Muttern, Splittern versetzt, um einen möglichst hohen und drastischen Personenschaden zu erzielen – haben eine höhere Schadenswirkung als gewöhnliche Verletzungen von MANV, beispielsweise durch Autounfälle verursacht.21 So benötigt statistisch ausgewertet mindestens ein Viertel aller Opfer eines terroristischen Anschlags eine Operation und häufig sind die Blutungen lebensbedrohlich.22

Aus islamistisch-terroristischen Anschlägen wie in Madrid am 11.3.2004, in deren Folge 191 Menschen starben und über 2.050 Menschen – teilweise schwer – verletzt wurden, wurde abgeleitet, dass im Falle eines Attentats die Indikation für eine CT-Untersuchung „sehr schnell und großzügig“ gestellt werden sollte.23 So wird in Israel – wo islamistisch-terroristische Attentate statistisch deutlich regelmäßiger als in Europa stattfinden – insbesondere die CT-Angiografie bei TerrorMANV sehr häufig genutzt, um eine geringe Rate nicht therapeutischer Laparotomien – Öffnen der Bauchhöhle zur Durchführung eines abdominal-chirurgischen Eingriffs an den inneren Organen – und übersehener Abdominalverletzungen zu bewirken.

Typische Verletzungen von islamistischen Terroranschlägen sind – bei Verletzungen durch USBV – „blast inuries“, Verletzungen durch Explosionen, so beispielsweise Verletzungen des Trommelfells (bis zu 75%), der Lunge (40%) und des Auges (15%). Medizinisch ist nach Explosionen immer ein Barotrauma – Schädigungen und Funktionsstörungen des Körpers, die durch physikalische Druckdifferenzen bedingt sind – in Erwägung zu ziehen. Verletzte Trommelfelle sind ein guter Indikator dafür, wobei ein intaktes Tympanon das Barotrauma nicht ausschließt. Ein abdominales Barotrauma ist die Hauptursache für ein späteres Versterben.

4 Die vier Stufen einer Verletzung durch Sprengstoffexplosionen

Terroranschläge stellen deutsche Ärzte und Kliniken vor neue Herausforderungen, weil es bei Explosionen von Sprengsätzen – bei islamistischen Anschlägen häufig mit Metallsplittern versetzt, um eine Schrapnellwirkung zu erzielen – zu vier Verletzungsmustern kommt, an welche die deutsche Medizin noch nicht gewöhnt ist, erklärt Heinz-Johannes Buhr von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine- und Viszeralchirurgie (DGAV).24

Die Detonation eines Sprengsatzes führt zunächst zu einem exponentiellen und sofortigen Anstieg des Luftdrucks. Dadurch entstehen Hochgeschwindigkeitsdruckwellen, die kleine Blutgefäße in Leber, Lunge, Niere und allen weiteren Organen zerstören können.25 Nach Angaben von Buhr ist ein solches Barotrauma „eine ganz neue Form des Politraumas, das wir bisher nur von zu tiefen Tauchgängen kennen und das von außen kaum zu erkennen ist“.26 Seiner Auffassung nach kennen sich höchstens acht Prozent der deutschen Chirurgen mit einem solchen Barotrauma aus. Besser vertraut seien deutsche Ärzte mit der zweiten Stufe der Explosions­verletzung, in der es zu perforierenden und penetrierenden Verletzungen durch umherfliegende Trümmerteile komme. In der dritten Phase wirft die Druckwelle den Betroffenen durch die Luft, der Aufprall führt zu stumpfen Verletzungen, Schädel-Hirn-Traumata oder Schürfungen – ähnlich wie bei einem Motorradunfall. In der letzten Stufe kommt es zu Verbrennungen oder Rauchgasverletzungen, zusätzlich würde bisher zu selten an Infektionen gedacht, so Buhr. Verletzte von Sprengstroffexplosionen sterben in der Regel an Verletzungen des Thorsos und des Abdomens.

5 TerrorMANV indiziert einen medizinischen Strategiewechsel: Hin zur Kriegschirurgie

Für Szenarien von islamistisch-terroristischen Anschlägen, beispielsweise mit Sprengstoff, muss die präklinische Strategie komplett verändert werden: Nicht mehr DCS, Damage Control Surgery, – die Individualversorgung mit möglichst optimalem Ergebnis für den Einzelnen – ist nach Terroranschlägen und dadurch hervorgerufene Verletzungen strategisch entscheidend, sondern, TASC, Tactical Abbreviated Surgery. Bei TASC steht die Lebensrettung möglichst vieler Patienten im Vordergrund, das funktionelle Ergebnis ist sekundär, was übersetzt beispielsweise mehr Amputationen bedeutet. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie spricht hierbei davon, „den Schalter umzulegen“, was auch aus „psychologischer Sicht heikel“ sei: „Wir verlassen hier unsere reguläre Chirurgie und gehen in Richtung Kriegschirurgie“.27 Die Kriegschirurgie ist nach Angaben von Oberstarzt Prof. Dr. Friemert, Leiter der AG Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie eine „Medizin der absolut reduzierten Mittel, die Behandlung kann nur auf einem extrem niedrigen und reduzierten Niveau durchgeführt werden, was zu einer erheblichen Veränderung des Behandlungsergebnisses führt. So sind im Rahmen der kriegschirurgischen Behandlung sehr viel häufiger Amputationen der Extremitäten erforderlich, als rein medizinisch notwendig wäre.“28 Man kann sagen, dass auf Grund des internationalen Terrorismus und der damit verbundenen Anschläge Kriegsverletzungen nach Deutschland und nach Europa zurückgekehrt sind.

Nach Angaben von Prof. Friemert liegen rein medizinisch zur Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen in den zivilen Kliniken kaum Erfahrungen vor.29 Schuss- und Explosionsverletzungen im Rahmen von islamistisch-terroristischen Anschlägen sind penetrierende Verletzungen, die eine völlig andere Blutungsdynamik aufweisen als „normale“ schwere Unfälle und damit in der Frage der taktisch-strategischen Behandlung, vor allen Dingen bei einem Massenanfall von solchen Verletzten, anders zu handeln ist, als dieses das medizinische System in Deutschland gewohnt ist. Sowohl in der Präklinik als auch in der Klinik sind völlig andere taktische Entscheidungen zu treffen, die den besonderen Rahmenumständen eines Terrorattentates geschuldet sind. Dieses hat einerseits mit den Verletzungen (penetrierende Verletzungen, hohe Blutungsraten, hohes Versterben) zu tun, wie aber auch mit dem Unterschied eines terroristischen Anschlags an sich.30 Verletztenlagen durch islamistisch-terroristische Anschläge unterscheiden sich signifikant von einem gewöhnlichen Massenunfall z.B. durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Während letztere klar definiert und endlich ist, ist bei einem terroristischen Anschlag lange nicht klar – aufgrund der operativen Gefahr eines second hit – wann dieser vorbei ist und wie viele Patienten tatsächlich behandelt werden müssen.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie sind für die medizinische Versorgung der Opfer von islamistisch-terroristischen Anschlägen sowohl gefäßchirurgische Kompetenz als auch Bluttransfusionen entscheidend. Dabei zeigte der islamistisch-terroristische Anschlag am 19.12.2016 nach ihren Angaben eine „echte Versorgungslücke“, da alleine für einen behandelten Patienten mit einem Injury Severity Score (ISS) 109 Blutprodukte zur Transfusion benötigt wurden, mit der Konsequenz: „Hochgerechnet auf die mögliche Gesamtzahl blutet eine Großstadt leer!“31 Verbunden mit der vitalen Bedeutung von ausreichender Kapazität für Bluttransfusionen wird nach Sprengstoffexplosionen immer auch ein Screening der Patienten auf Hepatitis B und C sowie auf HIV empfohlen. Als Begründung hierfür erklärt die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, dass nicht nur der Selbstmordattentäter, sondern auch andere Personen, deren Körperteile nach einer Sprengstoffexplosion buchstäblich wie Geschosse durch die Luft fliegen können, mit ansteckenden Krankheiten infiziert sein könnten. So gab es beim islamistisch-terroristischen Anschlag in London am 7.7.2005, bei dem in U-Bahnen und einem Bus 56 Menschen starben und über 700 verletzt wurden, Patienten, die Knochenfragmente von anderen Opfern in ihrem Körper hatten.

6 Die operative Möglichkeit eines second hit und die strategische Konsequenz: Patienten und Helfer vom Ort des Anschlags entfernen

Anders als bei gewöhnlichen MANV ist bei islamistischen Terroranschlägen operativ-taktisch mit einem zeitversetzten, zweiten Anschlag, einem second hit zu rechnen. Um aufgrund eines möglichen second hit die Gefahr für die Patienten und Rettungskräfte so niedrig wie möglich zu halten, muss man sich am Ort des Terroranschlags auf das Stoppen lebensbedrohlicher Blutungen beschränken, wofür unbedingt Tourniquets in ausreichender Anzahl benötigt werden. Danach muss der Patient umgehend in eine sichere bzw. zumindest teilsichere Zone verbracht werden. Die eigentliche notärztliche Versorgung des Patienten kann in einem Fall von TerrorMANV erst in der Klinik geleistet werden, was dem aus der Kriegsmedizin entlehnten Prinzip „treat to proceed“ und „treat what kills first“ entspricht.32 Der Zeitansatz der benötigt wird, um nach einem islamistischen Terroranschlag die Verletzten abzutransportieren, um sie danach medizinisch umfassend zu versorgen, betrug beim islamistischen Terroranschlag am 19.12.2016 in Berlin beim ersten Verletzten über eine Stunde. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie verweist auf das Beispiel Israel: Dort treffen die Sicherheitskräfte und Helfer durchschnittlich spätestens zehn Minuten nach einem Anschlag ein, nach einer Viertelstunde befindet sich der erste Schwerverletzte auf dem Weg in die Klinik. Nach einer halben Stunde sind alle Schwerverletzten abtransportiert und bereits nach 50 Minuten ist der Ort des Anschlags komplett geräumt.33

7 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 14.7.2016 in Nizza aus der Sicht der Unfallchirurgie

Für seinen islamistisch-terroristischen Anschlag in Nizza am 14.7.2016 nutzte der Attentäter, Mohamed Bouhlel, auf der Promenade des Anglais einen LKW und Schusswaffen, um 86 Personen zu töten und mehr als 500 – zum Teil schwer – zu verletzen. Am Abend des 14.7.2016 befanden sich aufgrund der Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag ca. 30.000 Menschen auf der Strandpromenade von Nizza, um von dort aus ein Feuerwerk zu beobachten.34 Ab 22.23 Uhr fuhr der islamistische Terrorist mit einem weißen LKW vom Typ Renault Midlum 300 auf die eigentlich für den Verkehr gesperrte Strandpromenade. Zwischen den Straßennummern 11 und 147 überfuhr er auf einer Strecke von etwa zwei Kilometern mehrere hundert Menschen.35 Dazu schoss er mehrfach auf Passanten und Polizisten. Getroffen fuhr er noch etwa 300 Meter weiter, dann blieb der LKW unweit des Palais de la Méditerranée stehen, der Attentäter war tot. Aufgrund der unsicheren Lage beschlossen einige Ersthelfer, die ersten Verletzten in zivilen Fahrzeugen zum nächsten Krankenhaus zu fahren und nicht auf die Krankenwagen zu warten.36 Wenige Minuten später koordinierten Sicherheitskräfte 559 Rettungskräfte, davon 33 Ärzte, 58 Krankenschwestern und 468 Feuerwehrmänner. In folgende vier Kategorien wurden die Verletzten dabei eingeordnet: Dringender Notfall, Notfall, weniger dringender Notfall und Tote bzw. Sterbende. Um 23.30 Uhr, also eine Stunde nach dem islamistisch-terroristischen Anschlag wurde ein Notfallplan umgesetzt, der dafür sorgte, dass zusätzliche Ärzte und weiteres Personal auf die beteiligten Krankenhäuser verteilt wurden. Allerdings waren schon zahlreiche Ärzte und weiteres Personal in die umliegenden Krankenhäuser geeilt, informiert über die sozialen Medien und boten dort ihre Hilfe an. Um Mitternacht aktivierte das französische Gesundheitsministerium eine übergeordnete, koordinierende Einsatzzentrale, die den Einsatz von 250 weiteren Fachkräften – darunter auch Psychiater, Psychologen, Krankenschwestern und Verwaltungskräfte – koordinierte. Ab ca. 22.30 kamen viele neue dringende Notfälle in das Krankenhaus Pasteur 2. Der Triage-Prozess, aus dem Französischen, trier, sortieren, aussuchen, auf Deutsch als Sichtung bzw. Einteilung übersetzt, sprich die Priorisierung benötigter medizinischer Behandlung wurden im Krankenhaus Pasteur 2 von zwei Chirurgen und einem Anästhesisten durchgeführt. Die durchschnittliche Zeit für den Triage-Prozess lag bei 2 Minuten und 27 Sekunden, plus/minus 1 Minute und 45 Sekunden, was das dramatische quantitative Maß der zu behandelnden Schwerverletzten verdeutlicht. Da sich das Kinderkrankenhaus Lenval in unmittelbarer Nähe zum Tatort befand, wurden dort innerhalb von zwei Stunden 44 Patienten behandelt.37 Aufgrund der Tatsache, kurz zuvor die Fußball Europameisterschaft in Frankreich stattgefunden hatte, hatte das Kinderkrankenhaus Lenval zahlreiche Übungen im Bereich MANV absolviert. Von den 44 zu behandelnden Patienten waren 12 Erwachsene, fünf davon in einem solch kritischen Zustand, dass vier davon kurze Zeit später starben. Die verbleibenden 32 Patienten waren Kinder, acht davon in einem sehr kritischen Zustand, zwei starben.38 Die zu behandelnden Patienten wiesen Verletzungen auf, die denen von MANV aus Autounfällen ähnelten, also „gewöhnliche“ MANV-Verletzungen, keine Verletzungen, verursacht durch Sprengstoff, Splitter, Projektile. Die häufigste Todesursache war hämorrhagischer Schock und Schädeltrauma.39 Eine Post-Traumatische Belastungs-Störung (PTBS) wurden bei den Verletzten – bei den verletzten Erwachsenen ausgeprägter als bei den verletzten Kindern – diagnostiziert, aber auch das Krankenhauspersonal war davon betroffen.

8 Der islamistisch-terroristische Anschlag am 22.5.2017 in Manchester aus der Sicht der Unfallchirurgie

Beim islamistischen Terroranschlag in Manchester am 22.5.2017 auf ein Popkonzert in der Manchester Arena in Manchester, das ca. 20.000 überwiegend jüngere Menschen besuchten, starben 23 Menschen – darunter auch Kinder – und 116 Verletzte wurden in Krankenhäuser gebracht. Dieser islamistisch-terroristische Anschlag war der schwerste seit denen in London am 7.7.2005. Der 22 Jahre alte als islamistischer Gefährder polizeibekannte Student Salman Abedi nutzte die Taktik eines Selbstmordattentats mit einem Koffer bzw. großen Rucksack, das USBV war mit zahlreichen Metallteilen wie Muttern und Schrauben präpariert.40 Bilder des Tatorts zeigten sehr viele Metallteile, die als Splitter eine schrapnellartige Wirkung entfalten hatten. Nach Quellenangaben der BBC musste ein Großteil der schwerer Verletzten sofort operiert werden, zahlreiche Körperteile von Patienten waren „völlig übersät mit Metallsplittern“.41 Familienangehörige von Verletzten sprachen nach dem Anschlag davon, dass zahlreiche Verletzte kritische Operationen überstehen mussten, in denen einerseits Körperteile amputiert und andererseits Metallsplitter – u.a. Schrauben und Muttern – entfernt werden mussten.42 Von den 116 Verletzten waren 63 schwerer bis lebensbedrohlich verletzt und benötigten nach Angaben von beteiligten Ärzten „lebensrettende Operationen” aufgrund von „life-changing injuries and will need care for years to come“, sprich lebensverändernde Verletzungen mit Folgen wie Amputationen, die jahrelange medizinische Versorgung notwendig machen.43

Die Aussagen von Ärzten verschiedener Krankenhäuser in Manchester „hospitals were on the brink of being overwhelmed by the extraordinary” number of people with critical injuries in the aftermath of the attack” verdeutlicht den qualitativen Unterschied von islamistischen Terroranschlägen durch Fahrzeuge gegenüber USBV.44 Der Anschlag in Manchester zeigt aus unfallchirurgischer Perspektive, dass Krankenhäuser der westlichen Welt – anders als diejenigen in Israel, die seit den 1980ern regelmäßig mit schwersten Verletzungen durch TerrorMANV konfrontiert sind – noch nicht auf den qualitativen und quantitativen Unterschied von TerrorMANV vorbereitet sind.

9 Analyse und Ausblick: Anpassen der Ausbildungs- und Trainingsinhalte an die besonderen Herausforderungen von TerrorMANV

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie hat einen Fünf-Punkte-Plan erarbeitet, mit dem das Bewusstsein der Rettungskräfte, Notärzte und Kliniken für die Bedrohung durch islamistisch-terroristische Anschläge geschärft und Kenntnisse zum Vorgehen in verschiedenen Szenarien transportiert werden sollen.45 Neben Konferenzen und regionalen Informationstagen zählt auch ein verschriftlichter Leitfaden für die Planung erforderlicher Maßnahmen, dazu wird das Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie um ein Schuss- und Explosionsregister erweitert. Daneben ist für Ende 2018 eine Neuauflage des „Weißbuch Schwerverletzten-Versorgung“ geplant, in der das Thema „Terror-Preparedness“ in einem eigenen Kapitel berücksichtigt sein wird. Dazu bietet die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie aktuell Kurse an, in denen es u.a. um die Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen sowie um das „innerklinische Management besonderer Lagen“ geht.46

Wichtig ist eine Adressatenanalyse auf möglichst breiter Ebene: Wer ist bzw. kann von den besonderen Anforderungen eines TerrorMANV betroffen sein? Durch die Rolle als Ersthelfer sind dies in der Regel die Polizei und Passanten als zivile Ersthelfer. Nach Angaben der DGU kann die Zivilbevölkerung, als Ersthelfer, bei stark blutenden Schuss- oder Explosionsverletzungen entscheidend unterstützen, indem sie stark blutende Gliedmaßen mit T-Shirts, Schals oder anderen Kleidungsstücken schnellstmöglich abbinden, noch bevor die Rettungskräfte eintreffen.47 Daneben spricht sie sich für Tourniquets in Verbandskästen aus und auch dafür, dass alle Erste-Hilfe-Kurse in Deutschland und Europa um diese Inhalte erweitert werden.48 Um diesen inhaltlichen, qualitativen Prozess zu unterstützen und zeitlich zu beschleunigen, muss dies gegebenenfalls die parlamentarische Gesetzgebung in Deutschland durchsetzen.

Auf einer sicherheitspolitischen, institutionellen Perspektive muss festgestellt werden, dass die Thematik TerrorMANV, ebenso wie zahlreiche andere mit dem islamistischen Terrorismus als Bedrohungsszenarien verbundene politische Problemfelder von absolut vitaler Bedeutung für die deutsche Zivilbevölkerung und die deutschen Sicherheitskräfte sind. Bildlich gesprochen: Eine schnellstmögliche, umfassende qualitative und quantitative Anpassung der deutschen Rettungskräfte, Ärzte und Kliniken einerseits und der (potentiellen) Ersthelfer andererseits, also der deutschen Polizei und der Zivilbevölkerung (u.a. im Rahmen von qualitativ und quantitativ veränderten Erste-Hilfe-Kursen, aber auch in Form einer ausführlichen und qualitativ hochwertigen Ausbildung und Weiterbildung von Erste-Hilfe-Multiplikatoren an Einrichtungen des öffentlichen Lebens, wie an Schulen, in Kirchen, in Behörden etc.) rettet Menschenleben. Aufgrund der Eindrücke der Bilder der islamistisch-terroristischen Anschläge in Manchester, London und Stockholm in den ersten Monaten des Jahres 2017 anders formuliert: Wenn dieser Änderungsbedarf im Bereich TerrorMANV jetzt nicht gesamtgesellschaftlich, institutionell vor allem von den zuständigen Ministerien für Inneres sowie Gesundheit – auf Bundesebene und auf Länderebene – schnellst möglich erkannt und umgesetzt wird, gefährdet dies zahlreiche Menschenleben!

Bildquelle: Wikimedia Commons.

 

Anmerkungen

  1. Dr. Stefan Goertz ist Dozent im Fachbereich Bundespolizei der Hochschule des Bundes in Lübeck.
  2. Goertz (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse, Definitionen, Taktik. Kriminalistik: Heidelberg, S. 94, 97.
  3. Ebd., S. 109.
  4. Ebd., S. 112.
  5. Ebd., S. 124.
  6. Ebd., S. 131.
  7. Goertz (2017): Der neue Terrorismus. Neue Akteure, neue Strategien, neue Taktiken und neue Mittel. Wiesbaden: Springer VS.
  8. https://www.nzz.ch/international/europa/schiesserei-in-london-verletzte-vor-dem-britischen-parlamentsgebaeude-ld.152898 ; 20.11.2017.
  9. https://www.tagesschau.de/ausland/manchester-anschlag-123.html ; 20.11.2017.
  10. http://www.spiegel.de/politik/ausland/manchester-was-wir-ueber-den-mutmasslichen-anschlag-wissen-und-was-nicht-a-1148867.html ; 20.11.2017.
  11. http://www.bbc.com/news/uk-england-london-40147164 ; 20.11.2017.
  12. Im Folgenden vgl. Goertz, S. (2017): Massenanfall von Verletzten und Bedrohungsszenarien durch den islamistischen Terrorismus. In: Deutsche Polizei 8/2017, S. 28-31; Goertz, S./Friemert, B. (2017): Massenanfall von Verletzten durch jihadistische Anschläge. In: Kriminalistik 8-9/2017, S. 504-511.
  13. Ebd.
  14. http://www.dguonline.de/fileadmin/published_content/2.Aktuelles/Presse/PDF/Pressemappe_2016_PK_Notfallkon ferenz.pdf; 20.11.2017.
  15. https://www.swr.de/swraktuell/rp/koblenz/fachtagung-von-aerzten-zu-terrormedizin-experten-fordern-fortbildungen-fuer-unfallchirurgen/-/id=1642/did=19078676/nid=1642/1a33pm6/index.html ; 20.11.2017.
  16. Ebd.
  17. https://www.springermedizin.de/dgch-2017/volumenersatz-und-schock/chirurgen-muessen-sich-gegen-terror-wappnen-/12187064 ; 20.11.2017.
  18. Im Folgenden vgl. ebd.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Goertz (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse, Definitionen, Taktik. Heidelberg: Kriminalistik, S. 91.
  22. https://www.springermedizin.de/dgch-2017/volumenersatz-und-schock/chirurgen-muessen-sich-gegen-terror-wappnen-/12187064 ; 20.11.2017.
  23. Ebd.
  24. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/66461/Terroranschlaege-Chirurgen-mahnen-Kliniken-sich-vorzubereiten ; 20.11.2017.
  25. Ebd.
  26. Für den folgenden Absatz vgl. ebd.
  27. Ebd.
  28. http://www.dguonline.de/fileadmin/published_content/2.Aktuelles/Presse/PDF/2017/2017_06_07_Pressemappe_Letter_of_Intent.PDF ; 20.11.2017.
  29. http://www.dguonline.de/fileadmin/published_content/2.Aktuelles/Presse/PDF/2017/2017_06_07_Pressemappe_Letter_of_Intent.PDF ; 20.11.2017.
  30. Im Folgenden vgl. Goertz, S. (2017): Massenanfall von Verletzten und Bedrohungsszenarien durch den islamistischen Terrorismus. In: Deutsche Polizei 8/2017, S. 28-31; Goertz, S./Friemert, B. (2017): Massenanfall von Verletzten durch jihadistische Anschläge. In: Kriminalistik 8-9/2017, S. 504-511.
  31. Ebd.
  32. Ebd.
  33. Ebd.
  34. Goertz (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik. Heidelberg: Kriminalistik, S. 124.
  35. http://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(16)32128-6.pdf; 20.11.2017.
  36. Im Folgenden vgl. ebd.
  37. http://thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(17)30655-4/fulltext ; 20.11.2017.
  38. Ebd.
  39. Ebd.
  40. http://www.bbc.com/news/uk-england-manchester-40008389 ; 20.11.2017.
  41. Ebd.
  42. https://www.theguardian.com/uk-news/2017/may/22/manchester-arena-police-explosion-ariana-grande-concert-england ; 20.11.2017.
  43. http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/more-half-manchester-terror-attack-10512019 ; 19.6.2017.
  44. http://www.standard.co.uk/news/uk/manchester-bombing-23-critical-care-horrific-injuries-arena-suicide-attack-a3550076.html ; 20.11.2017.
  45. https://www.springermedizin.de/dgch-2017/volumenersatz-und-schock/chirurgen-muessen-sich-gegen-terror-wappnen-/12187064 ; 20.11.2017.
  46. Ebd.
  47. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/70683/Versorgung-von-Terroropfern-Unfallchirurgen-und-Bundeswehr-stellen-5-Punkte-Plan-vor ; 20.11.2017.
  48. Ebd.