Wissenschaft  und Forschung

TerrorMANV – Massenanfall von Verletzten bei Terrorlagen

3 Ein TerrorMANV unterscheidet sich qualitativ und quantitativ deutlich von einem zivilen MANV

Nach Oberstarzt Prof. Willy, Unfallchirurg am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, muss ein islamistischer Terroranschlag qualitativ und quantitativ auf einem anderen Bedrohungsniveau als ein gewöhnlicher Massenanfall von Verletzten verortet werden.20 So habe die statistische Auswertung von islamistischen Anschlägen weltweit ergeben, dass bei islamistisch-terroristischen Anschlägen der Anteil von Schwer- bis Schwerstverletzten deutlich höher liegt als bei einem gewöhnlichen Massenanfall von Verletzten. Abhängig von den verwendeten Wirkmitteln sind Verletzungen durch Explosionen oder Schusswaffen multidimensional und dementsprechend schwieriger zu behandeln. Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), leicht herzustellende Selbstlaborate aus Aluminiumpulver und Kaliumpermanganat oder industrieller Sprengstoff, in Koffern, Rucksäcken oder auch in Sprengstoffwesten bzw. -gürteln – womöglich mit Nägeln, Schrauben, Muttern, Splittern versetzt, um einen möglichst hohen und drastischen Personenschaden zu erzielen – haben eine höhere Schadenswirkung als gewöhnliche Verletzungen von MANV, beispielsweise durch Autounfälle verursacht.21 So benötigt statistisch ausgewertet mindestens ein Viertel aller Opfer eines terroristischen Anschlags eine Operation und häufig sind die Blutungen lebensbedrohlich.22

Aus islamistisch-terroristischen Anschlägen wie in Madrid am 11.3.2004, in deren Folge 191 Menschen starben und über 2.050 Menschen – teilweise schwer – verletzt wurden, wurde abgeleitet, dass im Falle eines Attentats die Indikation für eine CT-Untersuchung „sehr schnell und großzügig“ gestellt werden sollte.23 So wird in Israel – wo islamistisch-terroristische Attentate statistisch deutlich regelmäßiger als in Europa stattfinden – insbesondere die CT-Angiografie bei TerrorMANV sehr häufig genutzt, um eine geringe Rate nicht therapeutischer Laparotomien – Öffnen der Bauchhöhle zur Durchführung eines abdominal-chirurgischen Eingriffs an den inneren Organen – und übersehener Abdominalverletzungen zu bewirken.

Typische Verletzungen von islamistischen Terroranschlägen sind – bei Verletzungen durch USBV – „blast inuries“, Verletzungen durch Explosionen, so beispielsweise Verletzungen des Trommelfells (bis zu 75%), der Lunge (40%) und des Auges (15%). Medizinisch ist nach Explosionen immer ein Barotrauma – Schädigungen und Funktionsstörungen des Körpers, die durch physikalische Druckdifferenzen bedingt sind – in Erwägung zu ziehen. Verletzte Trommelfelle sind ein guter Indikator dafür, wobei ein intaktes Tympanon das Barotrauma nicht ausschließt. Ein abdominales Barotrauma ist die Hauptursache für ein späteres Versterben.

4 Die vier Stufen einer Verletzung durch Sprengstoffexplosionen

Terroranschläge stellen deutsche Ärzte und Kliniken vor neue Herausforderungen, weil es bei Explosionen von Sprengsätzen – bei islamistischen Anschlägen häufig mit Metallsplittern versetzt, um eine Schrapnellwirkung zu erzielen – zu vier Verletzungsmustern kommt, an welche die deutsche Medizin noch nicht gewöhnt ist, erklärt Heinz-Johannes Buhr von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine- und Viszeralchirurgie (DGAV).24

Die Detonation eines Sprengsatzes führt zunächst zu einem exponentiellen und sofortigen Anstieg des Luftdrucks. Dadurch entstehen Hochgeschwindigkeitsdruckwellen, die kleine Blutgefäße in Leber, Lunge, Niere und allen weiteren Organen zerstören können.25 Nach Angaben von Buhr ist ein solches Barotrauma „eine ganz neue Form des Politraumas, das wir bisher nur von zu tiefen Tauchgängen kennen und das von außen kaum zu erkennen ist“.26 Seiner Auffassung nach kennen sich höchstens acht Prozent der deutschen Chirurgen mit einem solchen Barotrauma aus. Besser vertraut seien deutsche Ärzte mit der zweiten Stufe der Explosions­verletzung, in der es zu perforierenden und penetrierenden Verletzungen durch umherfliegende Trümmerteile komme. In der dritten Phase wirft die Druckwelle den Betroffenen durch die Luft, der Aufprall führt zu stumpfen Verletzungen, Schädel-Hirn-Traumata oder Schürfungen – ähnlich wie bei einem Motorradunfall. In der letzten Stufe kommt es zu Verbrennungen oder Rauchgasverletzungen, zusätzlich würde bisher zu selten an Infektionen gedacht, so Buhr. Verletzte von Sprengstroffexplosionen sterben in der Regel an Verletzungen des Thorsos und des Abdomens.

5 TerrorMANV indiziert einen medizinischen Strategiewechsel: Hin zur Kriegschirurgie

Für Szenarien von islamistisch-terroristischen Anschlägen, beispielsweise mit Sprengstoff, muss die präklinische Strategie komplett verändert werden: Nicht mehr DCS, Damage Control Surgery, – die Individualversorgung mit möglichst optimalem Ergebnis für den Einzelnen – ist nach Terroranschlägen und dadurch hervorgerufene Verletzungen strategisch entscheidend, sondern, TASC, Tactical Abbreviated Surgery. Bei TASC steht die Lebensrettung möglichst vieler Patienten im Vordergrund, das funktionelle Ergebnis ist sekundär, was übersetzt beispielsweise mehr Amputationen bedeutet. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie spricht hierbei davon, „den Schalter umzulegen“, was auch aus „psychologischer Sicht heikel“ sei: „Wir verlassen hier unsere reguläre Chirurgie und gehen in Richtung Kriegschirurgie“.27 Die Kriegschirurgie ist nach Angaben von Oberstarzt Prof. Dr. Friemert, Leiter der AG Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie eine „Medizin der absolut reduzierten Mittel, die Behandlung kann nur auf einem extrem niedrigen und reduzierten Niveau durchgeführt werden, was zu einer erheblichen Veränderung des Behandlungsergebnisses führt. So sind im Rahmen der kriegschirurgischen Behandlung sehr viel häufiger Amputationen der Extremitäten erforderlich, als rein medizinisch notwendig wäre.“28 Man kann sagen, dass auf Grund des internationalen Terrorismus und der damit verbundenen Anschläge Kriegsverletzungen nach Deutschland und nach Europa zurückgekehrt sind.

Nach Angaben von Prof. Friemert liegen rein medizinisch zur Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen in den zivilen Kliniken kaum Erfahrungen vor.29 Schuss- und Explosionsverletzungen im Rahmen von islamistisch-terroristischen Anschlägen sind penetrierende Verletzungen, die eine völlig andere Blutungsdynamik aufweisen als „normale“ schwere Unfälle und damit in der Frage der taktisch-strategischen Behandlung, vor allen Dingen bei einem Massenanfall von solchen Verletzten, anders zu handeln ist, als dieses das medizinische System in Deutschland gewohnt ist. Sowohl in der Präklinik als auch in der Klinik sind völlig andere taktische Entscheidungen zu treffen, die den besonderen Rahmenumständen eines Terrorattentates geschuldet sind. Dieses hat einerseits mit den Verletzungen (penetrierende Verletzungen, hohe Blutungsraten, hohes Versterben) zu tun, wie aber auch mit dem Unterschied eines terroristischen Anschlags an sich.30 Verletztenlagen durch islamistisch-terroristische Anschläge unterscheiden sich signifikant von einem gewöhnlichen Massenunfall z.B. durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Während letztere klar definiert und endlich ist, ist bei einem terroristischen Anschlag lange nicht klar – aufgrund der operativen Gefahr eines second hit – wann dieser vorbei ist und wie viele Patienten tatsächlich behandelt werden müssen.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie sind für die medizinische Versorgung der Opfer von islamistisch-terroristischen Anschlägen sowohl gefäßchirurgische Kompetenz als auch Bluttransfusionen entscheidend. Dabei zeigte der islamistisch-terroristische Anschlag am 19.12.2016 nach ihren Angaben eine „echte Versorgungslücke“, da alleine für einen behandelten Patienten mit einem Injury Severity Score (ISS) 109 Blutprodukte zur Transfusion benötigt wurden, mit der Konsequenz: „Hochgerechnet auf die mögliche Gesamtzahl blutet eine Großstadt leer!“31 Verbunden mit der vitalen Bedeutung von ausreichender Kapazität für Bluttransfusionen wird nach Sprengstoffexplosionen immer auch ein Screening der Patienten auf Hepatitis B und C sowie auf HIV empfohlen. Als Begründung hierfür erklärt die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, dass nicht nur der Selbstmordattentäter, sondern auch andere Personen, deren Körperteile nach einer Sprengstoffexplosion buchstäblich wie Geschosse durch die Luft fliegen können, mit ansteckenden Krankheiten infiziert sein könnten. So gab es beim islamistisch-terroristischen Anschlag in London am 7.7.2005, bei dem in U-Bahnen und einem Bus 56 Menschen starben und über 700 verletzt wurden, Patienten, die Knochenfragmente von anderen Opfern in ihrem Körper hatten.

6 Die operative Möglichkeit eines second hit und die strategische Konsequenz: Patienten und Helfer vom Ort des Anschlags entfernen

Anders als bei gewöhnlichen MANV ist bei islamistischen Terroranschlägen operativ-taktisch mit einem zeitversetzten, zweiten Anschlag, einem second hit zu rechnen. Um aufgrund eines möglichen second hit die Gefahr für die Patienten und Rettungskräfte so niedrig wie möglich zu halten, muss man sich am Ort des Terroranschlags auf das Stoppen lebensbedrohlicher Blutungen beschränken, wofür unbedingt Tourniquets in ausreichender Anzahl benötigt werden. Danach muss der Patient umgehend in eine sichere bzw. zumindest teilsichere Zone verbracht werden. Die eigentliche notärztliche Versorgung des Patienten kann in einem Fall von TerrorMANV erst in der Klinik geleistet werden, was dem aus der Kriegsmedizin entlehnten Prinzip „treat to proceed“ und „treat what kills first“ entspricht.32 Der Zeitansatz der benötigt wird, um nach einem islamistischen Terroranschlag die Verletzten abzutransportieren, um sie danach medizinisch umfassend zu versorgen, betrug beim islamistischen Terroranschlag am 19.12.2016 in Berlin beim ersten Verletzten über eine Stunde. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie verweist auf das Beispiel Israel: Dort treffen die Sicherheitskräfte und Helfer durchschnittlich spätestens zehn Minuten nach einem Anschlag ein, nach einer Viertelstunde befindet sich der erste Schwerverletzte auf dem Weg in die Klinik. Nach einer halben Stunde sind alle Schwerverletzten abtransportiert und bereits nach 50 Minuten ist der Ort des Anschlags komplett geräumt.33