Kriminalität

„Tottreten“

Fußtritte gegen den Kopf und ihre kriminalpolizeiliche Bearbeitung

3 Kriminologische Erkenntnisse

Gewaltkriminalität – und stärker noch speziell die Tötungsdelikte – ist ein Deliktsbereich, in dem Männer sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite in extremem Maße überrepräsentiert sind. Dies trifft noch viel mehr auf eine Angriffsform wie das Treten gegen einen am Boden liegenden Menschen zu. Die weitaus meisten dieser Taten werden von Männern zum Nachteil anderer Männer begangen. Sind Frauen an derartigen Taten beteiligt, handeln sie zumeist gemeinsam mit einem oder mehreren Männern.

Entgegen einer häufigen Annahme handelt es sich beim „Tottreten“ allerdings nicht typischerweise um die einer Gruppendynamik entspringende Eskalation einer Auseinandersetzung – vielmehr agierte im Gegenteil in über zwei Drittel der untersuchten tödlich verlaufenen Fälle ein Einzeltäter. In rund einem weiteren Viertel der Fälle handelten zwei Täter gemeinschaftlich, so dass ein Angriff von drei oder mehr Tatverdächtigen nur in 8,5 Prozent aller Fälle zu verzeichnen war.

Es handelt sich auch nicht um ein jugendspezifisches oder auch nur jugendtypisches Delikt – zwar ist ein erheblicher Teil der Tatverdächtigen noch im jugendlichen oder heranwachsenden Alter, doch waren zahlreiche Tatverdächtige bei der Tatbegehung auch weit älter. Anlass der Taten sind häufig objektiv nicht nachvollziehbare Eskalationen einer vorangegangenen verbalen Auseinandersetzung, die darüber hinaus häufig auf nichtigen Streitigkeiten beruhten. In vielen Fällen ist – wenig überraschend – ein erheblicher vorangegangener Alkoholkonsum des oder der Täter festzustellen.

4 Gefährdungsbewusstsein und Tötungsvorsatz

Für die strafrechtliche Beurteilung derartiger Angriffe ist es erforderlich, den subjektiven Hintergrund der Taten aus Sicht des resp. der jeweiligen Täter aufzuklären. Neben der Motivation ist dabei in erster Linie zu ermitteln, ob dem Täter im Zeitpunkt der Tat die abstrakte Gefährlichkeit der Tathandlung und der durch sie möglicherweise verursachten Folgen bewusst war und welche Erwartungen er gegebenenfalls im Hinblick auf derartige Folgen hatte, um anschließend den Vorsatz des Täters beurteilen zu können.

Da allerdings der Tat vorangehende Aussagen des jeweiligen Tatverdächtigen üblicherweise nicht vorhanden sind und nach der Tat im Hinblick auf die Gefahr einer strafrechtlichen Sanktionierung regelmäßig von einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit falscher, jedenfalls aber interessegeleitet unvollständiger Angaben auszugehen ist, kommt der Frage, ob ein empirisch abgesicherter Erfahrungssatz besteht, wonach in der Bevölkerung allgemein bekannt ist, dass ein kräftiger Tritt gegen den Kopf oder den Rumpf einer am Boden liegenden Person regelmäßig zum Tode führen kann, maßgebliche Bedeutung für die strafrechtliche Bewertung zu.

4.1 Gefährlichkeitseinschätzung und Verletzungserwartung

Die vor rund einem Jahrzehnt durch den Verfasser durchgeführte Befragung von 830 Personen (darunter 797 Männer) zwischen 17 und 29 Jahren (Durchschnittsalter 19,8 Jahre) ist weiterhin die einzige empirische Untersuchung zu diesem Thema. Zur größtmöglichen Verallgemeinerbarkeit der gewonnenen Ergebnisse waren die Befragten zuvor anhand verschiedener Parameter mittels einer kriteriengeleiteten Auswahl bestimmt worden; unter den Befragten waren sämtliche Bildungsschichten vertreten.

Hierbei erfolgte die Befragung auf zwei Ebenen: zunächst wurde die eher abstrakte Bewertung der Gefährlichkeit derartiger Gewalthandlungen (im Sinne der Möglichkeit der Verursachung schwerwiegender Folgen: Was könnte passieren?), sodann in einem weiteren Schritt die Einschätzung der wahrscheinlichen Folgen solcher Angriffsformen (Was wird wahrscheinlich passieren?) ermittelt.

4.1.1 Gefährlichkeitseinschätzung

Etwa ein Drittel der Untersuchungsteilnehmer (32,0 %) hielt Tritte gegen den Oberkörper für eine lebensgefährliche Angriffsform; weitere 46,1 % bewerten derartige Misshandlungen als „sehr gefährlich“. Lediglich ein Fünftel der Befragten (21,9 %) schätzte dies als „kaum gefährlich“ bis „gefährlich“ ein.

Der mit 90,0 % weit überwiegende Teil der Untersuchungsteilnehmer war sich jedoch dahingehend einig, dass Tritte gegen den Kopf des Opfers als lebensgefährlich einzuschätzen seien; nahezu alle anderen Befragten (9 %) halten diese Form der Misshandlung zumindest für „sehr gefährlich“.

Natürlich lässt eine solche quantitativ empirische Untersuchung allgemeiner Einschätzungen keine zwingenden Schlüsse auf die subjektive Bewertung eines konkreten Täters zu. Eine derart deutliche Gefährdungseinschätzung legt jedoch nahe, dass es sich bei der Lebensgefährlichkeit von Fußtritten gegen den Kopf des am Boden liegenden Opfers um eine allgemein bekannte Tatsache handelt, d.h. eine Tatsache, deren Kenntnis regelmäßig nicht positiv festgestellt werden muss, sondern deren möglicherweise ausnahmsweise vorliegende Nicht-Kenntnis gegebenenfalls gesondert zu prüfen ist.

4.1.2 Verletzungserwartung

Dieser Bewertung entsprechen auch die Antworten der Untersuchungsteilnehmer zu ihrer Erwartungshaltung hinsichtlich der durch derartige Tritte verursachten Verletzungen. Obwohl in dem eingesetzten Fragebogen wörtlich nur nach „Verletzungen“ gefragt worden war, ging ein Drittel der Befragten über die konkrete Fragestellung hinaus und gab an, den Tod des Opfers als wahrscheinliche Folge solcher Angriffe zu erwarten. Zahlreiche Untersuchungsteilnehmer äußerten zudem jeweils die Erwartung innerer Blutungen, von Verletzungen innerer Organe – insbesondere des Gehirns – sowie von Knochenbrüchen. Insgesamt deutlich über 40 % aller Befragten hielten somit bei einem Angriff durch Fußtritte gegen den Kopf eines am Boden liegenden Opfers tödliche Verletzungen nicht nur für möglich, sondern erwarteten diese sogar.