Kriminalität

Islamistische Videopropaganda und die Relevanz ihrer Ästhetik


So erhellend empirischen Untersuchungen dieser Art auch sind, ihr Erkenntnisgewinn oder Aussagegehalt bleibt doch beschränkt, wenn es um die Alltagspraxis ihrer Nutzung geht. Eine Praxis, die auch immer eine der kulturellen Einbettung und Handlungen ist, eine des realen Publikums, seiner Dispositionen und seines Umfelds. Die Pädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor5 spricht wie auch andere Experten in diesem Zusammenhang von einer Jugendprotestkultur. Und Wolfgang Schmidt bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: „Rap, Comics, die Computerspielindustrie, das Internet: All das vermischt sich mit der Ideologie der militanten Islamisten zu einer neuen ‚counter-culture‘“6 Zu ergänzen wären allerdings noch andere Vorbilder und „Ressourcen“: das Hollywood-Actionkino, Musikvideos, Werbeclips oder die Stilmittel populärer faktualer TV-Formate (Reportagen, Newssendungen).
Was bisherige Betrachtungen, Analysen und Bewertungen weitgehend ausblenden, sind aber eben die Rückgriffe und Anspielungen auf – sowie die Aneignungen von – popkulturellen Inhalte und Verfahren für die Gestaltung der inakzeptablen Thesen und Aufrufe. Verstörend und besorgniserregend wirken aktuelle jihadistische und salafistische Videos ja nicht nur wegen ihrer Gewaltdarstellungen oder der radikalen Geschichts-, Welt- und Menschenbilder, sondern auch wegen ihrer verführerischen Anmutung. Dieser erheblicher Wandel in der ästhetischen Qualität solcher Produktionen in den letzten Jahren strahlt wieder auf den Inhalt aus und stellt selbst eine neue, eigene Herausforderung dar.
Der Begriff der „Ästhetik“ meint in diesem Zusammenhang nicht, wie in der Alltagsverwendung des Begriffs, das (Kunst-)Schöne, sondern schlicht die sinnliche Erlebniserfahrung aufgrund mediengestalterischen bzw., mit Blick auf die Online-Videos, filmformalen und stilistischen Handwerks. Und, nochmals, ein Film kann auch und gerade allein über seine Ästhetik ansprechend sein, affektiv-emotional und damit rhetorisch (also manipulativ oder überredend) wirken, eine geistige Haltung andienen, aussagekräftig und dabei gerade nicht rational-argumentativ wiederlegbar sein. Extremistische Bewegung haben dieses Attraktionspotenzial schon immer verstanden und für sich genutzt, von den Nationalsozialisten bis zu heutigen Neo-Nazis etwa.7
Für die Analyse und Bewertung von Islamisten- und Jihadisten-Propaganda, aber auch zur Entwicklung von Präventionsinhalten und Gegen-Narrativen ist daher eine doppelte Blickerweiterung dringend nötig. Zum einen die des Gegenstandes: Neben den verschiedenen „Texten“ (schriftsprachliche, visuelle, audiovisuelle) sowie der Begleitkommunikation (Kommentare auf Plattformen wie YouTube oder Facebook als Einbettung und Reaktionen) sind die Referenzinhalte und die verschiedenen Arten des intertextuellen Verweise zu berücksichtigen: Wie und wo bedienen sich Demagogen bei der Pop- oder Subkultur, bei Spielfilmen, Computerspielen oder Rap-Videos, ihren jugendattraktiven Formen und ihrer „Sprache“, die ja unterhaltungsästhetische Bedürfnisse bedienen und die Zielgruppe an welcher Stelle „abholen“?
Dies führt – zum zweiten – zu einer breiteren, fachübergreifenden Herangehensweise, durchaus unter Einbezug bereits vorliegender empirischer Erkenntnisse. Dezidiert muss ein spezifisches medien-, kunst- und kulturwissenschaftliches Wissen und damit einhergehende analytische Fähigkeiten heran- und einbezogen werden. Ausgebildete Experten können entsprechend einen Beitrag leisten, indem sie mit ihrer Erfahrung und ihren Kenntnissen hinsichtlich u.a. Genre-Mustern, „Handschriften“ und einem klaren analytischen Beschreibungsvokabular Präsentations- und Argumentationsformen des „Pop-Jihadismus“ (abgeleitet aus dem nicht unbedingt negativ besetzten Begriff des „Pop-Islamismus“) systematisch aufdecken und vergleichen. Sie sind in der Lage die formale Rhetorik und Stilistik zu entschlüsseln, helfen somit die je besondere Attraktivität und Wirkungspotenziale einzuschätzen und zu verstehen oder über Kontinuität und Veränderungen in den Darstellungs- bzw. Inszenierungsweisen die Selbstwahrnehmung von Fundamentalisten samt ihren Widersprüchen herauszuarbeiten und Hilfestellung für die Konzeption von Gegenmaßnahmen zu leisten.8 Dies kann aber nicht neben, sondern nur zusammen mit jener Expertise erfolgen, die jetzt schon für die Beobachtung und Auswertung, die Analyse und Bewertung von Propaganda herangezogen wird: mit ArabistenInnen und IslamwissenschaftlerInnen, die theologische und kulturelle Aussagen und Referenzen übersetzen, einordnen und interpretieren – dies auch regionalspezifisch. Mit MedienwissenschaftlerInnen, die die technischen und sozialen Verbreitungswege, Rezeptions- und Interaktionsweisen untersuchen und das medienkonvergente Zusammenspiel der unterschiedlichen Kommunikationswege und ihrer Gattungen analysieren. Mit SoziologInnen und MedienpädagogInnen, die Erfahrung auf den Gebieten der Radikalismus- und Extremismusforschung mitbringen. Und PraktikerInnen aus dem Bereich Design, Werbung und PR, die schließlich wissen, wie man welche Hörer-, Leser- und Zuschauergruppen gezielt in Kampagnen und crossmedialen Aktionen adressiert, Aufmerksamkeit und Interesse schafft, über längeren Zeitraum hinweg entwickelt und vertieft – Fachleute, die Markenidentitäten etablieren, Bilder in den Köpfen verankern und, im Idealfall, zum Handeln bewegen wollen. Nichts anderes zu tun versuchen schließlich radikalislamistische Propagandisten, und die Verbindung zwischen PR bzw. Werbung und Propaganda ist schon immer eine enge gewesen, wenn nicht gar die Unterschiede zwischen den Begriffe ohnehin in Frage steht.9
Die qualifizierte Beschäftigung mit Salafisten- und Jihadistenvideos als qualitative formalästhetische Untersuchung jenseits oberflächlicher Beschreibungen ist in diesem Gesamtzusammenhang denn auch mehr als bloße geistige Spielerei. Tatsächlich kann sie sogar für die nachrichtendienstliche und polizeiliche Auswertungs- und Ermittlungsarbeit parallel zur technischen digitalen Multimediaforensik von konkretem Nutzen sein. So wenn neben Geräteprofilen oder in Bilddateien eingelagerten Geodaten wiederkehrende Inszenierungs- und Gestaltungsmuster, die kontinuierliche Verwendung von Effektblenden und -filtern oder eine charakteristische Farbdramaturgie auf dieselbe Urheberschaft schließen lassen. Wie der Pinselstrich des Malers oder der individuelle Ausdrucksstil einer Schriftstellerin (bzw. des Verfassers von Erpresser- oder Bekennerschreiben) können Videos analog zu Spielfilmen mit ihren „Autoren“ neben der medialen Sprache, die manipulativen emotional-rhetorischen Formeln (etwa des Pathos') und die allgemeinen Codes des Zeichensystems eine eigene Handschrift präsentieren: die Auswahl der Mittel und ihre je spezifische, etwa kombinatorisch-kompositionelle Anwendung, egal ob und wie diese intendiert oder durchdacht, hochprofessionell oder nur amateurhaft ist.
Von der „Ästhetik“ von Islamisten- und Jihadisten-Videos zu sprechen, bedeutet also keine Verharmlosung oder Nobilitierung von Ideologen, Fundamentalisten und Extremisten und ihrer Aufmerksamkeits- und Ideologiearbeit. Im Gegenteil: es verweist auf die „weichen“ Mittel und Mechanismen der Verblendung und Verführung, hebt deren heikle Relevanz hervor, hilft bestimmte Kreise und Milieus besser zu verstehen, Gegenpositionen zu entwickeln und zu festigen oder gar vorbeugend zu agieren. Gerade weil illegitime Propaganda geistig so hässlich ist, ist die versierte kritische Betrachtung ihrer profanen Sinnlichkeit unvermeidlich.

Anmerkungen

  1. Wie die Logos der Medienstellen al-Furqan, al-I’tisam und Mu’assaat Ajnad oder das Signet des IS darf gemäß des IS-Vereinsverbots des Bundesinnenministers Anfang September 2014 das HMC-Kaligrafiemarke als Kennzeichen nicht mehr zur öffentlichen Verbreitung verwendet werden.
  2. Vgl. dazu etwa Keazor, Henry / Wübbena, Thorsten (2005): Video Thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen. Bielefeld: Transcript.
  3. Erstmals 1983 beschrieben von W. Phillips Davison („The Third-Person Effekt in Communication“, in: Public Opinion Quarterly, 47. Jg, Nr. 1, S. 1-15). Siehe dazu u.a. auch: Brosius, Hans-Bernd / Dirk Engel (1997): „Die Medien beeinflussen vielleicht die anderen, aber mich doch nicht“. Zu den Ursachen des Third-Person-Effekts. In: Publizistik, 42. Jg., Nr. 3, S. 325–345. Speziell zur Mediengewaltdarstellung: Eisermann, Jessica (2001): Mediengewalt. Die gesellschaftliche Kontrolle von Gewaltdarstellungen im Fernsehen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
  4. Rieger, Diana / Frischlich, Lena / Bente, Gary (2013): Propaganda 2.0 – Psychological Effects of Right-Wing and Islamic Extremist Internet Videos (Reihe Polizei + Forschung), München: Luchterhand.
  5. Kaddor, Lamya (2015): Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen. München, Berlin, Zürich: Pieper.
  6. Schmid, Wolfgang (2012): Jung, deutsch, Taliban. Berlin: Christoph Links Verlag, S. 14.
  7. Vgl. u.a. Glaser, Stefan / Pfeiffer, Thomas (Hg.) (2013): Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Unterhaltungswert: Hintergründe – Methoden – Praxis der Prävention. Schwalbach i. Ts.: Wochenschau Verlag.
  8. Verwiesen sei hier beispielhaft auf: Kanzog, Klaus (2001): Grundkurs Filmrhetorik. München: Diskurs Film Verlag; Keutzer, Oliver et al. (2014): Filmanalyse. Wiesbaden: Springer VS; Hill, Charles A. / Helmers, Marguerite (Hg.) (2004): Defining Visual Rhetorics. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum.
  9. Vgl. dazu etwa: Kunczik, Michael (2002): Public Relations. Konzepte und Theorien. 4. Auflage. Köln u. a.: Böhlau.
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