Salafismus als überstrapazierte Kategorie
Von Klaus Hummel (wissenschaftlicher Angestellter im Landeskriminalamt Sachsen) und Dr. Michail Logvinov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden
Einleitung
Wie bereits frühere Fälle der Regimetransformation zeigen auch die Umwälzungen in der arabischen Staatenwelt, wie wenig die modernen Sozialwissenschaften befähigt sind, zuverlässige Prognosen über Umstürze oder grundlegende Veränderungen und ihre Folgen zu liefern. Das gilt nicht nur für den gefeierten „Arabischen Frühling“, der längst winterliche Züge trägt, sondern vor allem für die politische Landschaft im postrevolutionären Ägypten, in Tunesien oder in Syrien. Nur wenige Beobachter hatten dort eine politische Kraft auf der Rechnung, die von Ränke schmiedenden Autokraten und allgegenwärtigen Geheimdiensten lange als apolitisches Gegengewicht zum (militanten) Islamismus gefördert wurde: Die Salafisten, für deren verstorbene Galionsfigur Nasir al-Din al-Albani „die beste Politik“ noch darin bestand, sie sein zu lassen.1 Dennoch wurde gut ein Jahrzehnt nach seinem Ableben die salafistische „Partei des Lichts“ (Hizb al-Nur) ins ägyptische Parlament gewählt. In Nordafrika sollten die Dschihad propagierenden „Unterstützer der Scharia“ (Ansar al-Scharia) aufkommen, während sich in Syrien eine heterogene Front dschihadistischer Akteure mit ganz unterschiedlichem Tiefgang auf ideologische Bausteine salafistischer Lesart beruft.2 Selbst in Deutschland laufen inzwischen bärtige junge Männer mit knöchelfreiem Beinkleid und – immer häufiger – deutschen Namen Sturm gegen die Schmähung ihres Propheten Muhammad, wenn rechtspopulistische Gruppierungen mit Provokationen auf sich aufmerksam machen wollen – eine Entwicklung, die die Politik zum Anlass nahm, eine erst kürzlich identifizierte religiöse Gemeinschaft von Salafisten als besonders gefährlich zu etikettieren.
Der unter Wissenschaftlern uneinheitlich verstandene und von denen, die sich auf dem Weg der „frommen Vorfahren“ (al-salaf al-salih) wähnen, abgelehnte Salafismusbegriff ist als Aufhänger für ideologisierte Debatten bestens geeignet. Bislang dominiert auf der diagnostischen Ebene eine Tendenz, sich der Komplexität des Phänomens durch Generalisierung zu entziehen. Die Problemanalyse geht auf der „therapeutischen“ Ebene mit einem Lösungsansatz einher, der den Gefahren des Dschihadismus und Terrorismus durch „klare Kante“ gegen „salafistische Bestrebungen“ begegnen will.3 Kaum Beachtung findet demgegenüber eine konflikttheoretische Perspektive, die die Existenz salafistischer und islamistischer Tendenzen in Deutschland als Herausforderung sieht, sich als pluralistische, von Diversität geprägte Gesellschaft in Anbetracht weltpolitischer Umbrüche und des sozialen Wandels über gemeinsame Werte und Normen auszutauschen und zu verständigen.4 Dies geschieht nicht, um vorhandene Probleme kleinzureden, sondern um diese nicht noch größer als bisher werden zu lassen und damit dem nachzukommen, was moderne Gesellschaften auszeichnet: eine Fähigkeit zur Konfliktregulierung und -transformation, die sie bei neuen sozialen Phänomenen auch neu unter Beweis zu stellen hat.
Bedrohung Salafismus?
Dass eine religiöse Strömung mit Radikalisierung bzw. „Dschihadisierung“ in Verbindung gebracht wird, hätte noch vor wenigen Jahren kritische Fragen darüber gerechtfertigt, ob hier nicht eine Kategorie konstruiert und vorschnell mit der Frage politischer Gewalt korreliert wird. Heute aber ist die Situation längst eine andere: In verschiedenen und viel zitierten Varianten kursiert eine Formel, nach der zwar nicht jeder Salafist ein (islamistischer) Terrorist sei, aber alle (islamistischen) Terroristen Kontakt zu Salafisten hätten oder Salafisten seien. Angereichert wird diese Wendung zumeist mit sicherheitsbehördlichen Erkenntnissen, die in Form von Verfassungsschutzberichten, durchgesickerten oder frei zugänglichen Einschätzungen der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Auch zivilgesellschaftliche Akteure verschreiben sich dem Thema, warnen vor Salafisten und ihrer Gefahr für die Demokratie oder für das friedliche Zusammenleben. Medien greifen die Problematik dann oft anlassbezogen auf und verweisen auf das Treiben salafistischer „Hassprediger“ in entsprechenden Milieus. Die öffentliche und akademische Diskussion ist somit von der Gefahrenperspektive auf ein Phänomen geprägt, das zumeist ohne fundierte empirische Grundlage als „Nährboden der Radikalisierung“ oder „Einstiegsdroge“ in den islamistischen Terrorismus verstanden wird.
Die steile Karriere des Salafismusbegriffes macht nur wenige Beobachter der Szene skeptisch. Einer von ihnen ist der Islamismusexperte Yassin Musharbash. In seiner auch öffentlich geäußerten Zurückhaltung, sich in alarmistischer Weise über Salafismus auszulassen,5 ist eine wissenschaftlich gebotene Grundhaltung zu erkennen, welche sich eher fragend als allwissend gibt und sich in einer Frage widerspiegelt, die unlängst in Buchform gegossen wurde: „Salafisten: Bedrohung für Deutschland?“6 Aus Sicht der Autoren ist die vorschnell versicherheitlichte Frage mit „Ja“ zu beantworten. Denn je mehr ‚der‘ Salafismus mit dem islamistischen Terrorismus in Verbindung gebracht wird, desto mehr rückt das Phänomen in den Vordergrund der sicherheitspolitischen Kontroversen, was zusätzliche, über die eigentliche Gefahrendimension hinausgehende, unbedachte Risiken mit sich bringt. Einerseits wird damit die vereinfachte Vorstellung von einem salafistischen Kollektivakteur transportiert, die der Komplexität des zugrunde liegenden Phänomens nicht gerecht wird (s.u.). Andererseits erscheint die Unterscheidung von Gewalt befürwortenden und moderateren bzw. Gewalt ablehnenden Salafisten angesichts des beschworenen salafistischen Bedrohungsszenarios nachrangig. Die vermutete Nähe von Salafismus und Dschihadismus wird somit auch zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.7
Gefährliche Nähe
Auf den ersten Blick ist die politische, mediale und zunehmend auch akademische Konjunktur des Salafismusthemas im Kontext des Dschihadismus bzw. Terrorismus verständlich, denn das öffentliche Interesse für Antworten auf brennende Frage wird immer größer: Warum gibt es so viele junge Deutsche mit unterschiedlichen biografischen Hintergründen, die in steigender Zahl mit islamistischen Gewaltgruppen kokettieren oder sich für den Dschihad engagieren, wobei sie andere zu Tode bringen, selbst zu Tode kommen bzw. nach ihrer Rückkehr eine schwer einschätzbare Gefahr darstellen? Tatsächlich zeigt sich, dass die Übergänge zwischen dem geforderten „Praktizieren“ des Islam und der Auswanderung in die Gebiete des Dschihad fließend geworden sind. Unbestreitbar ist auch die Nähe dschihadistischer Gewaltakteure aus Deutschland zu einem salafistisch geprägten Umfeld, dem sie entstammen und/oder dessen Sprache sie sprechen, und die Sprache des zeitgenössischen Dschihad ist zweifelsohne der des Salafismus zum Verwechseln ähnlich – Grund genug also, von einer gegebenen Nähe auszugehen?
Mit dem versicherheitlichten Paradigma der Salafismusanalyse ist die Annahme verbunden, dass Einstellungen (wenn auch nicht notwendigerweise) zu politisch motiviertem Gewalthandeln führen. Dabei sagt die Popularität salafistischer Ideologiefragmente in einem scheinbar rasch expandierenden einheimischen Milieu mit zahlreichen Predigern, Moscheen oder Hilfsorganisationen noch nicht viel über die ideologischen Ausrichtungen und die Strategien verschiedener Akteure oder ihre Gewohnheiten des Medienkonsums aus, die doch in Anbetracht von Online-Radikalisierung und Cyber-Dschihad so wichtig erscheinen. Zugleich erhält man kaum Aufschluss darüber, ob nicht umgekehrt „der“ Salafismus die anvisierte Zielgruppe der dschihadistischen Einflussnahme darstellt. Die Annahme, dass das Milieu von Neu- und Wiederbekehrten den zentralen Schauplatz dschihadistischer Bemühungen um Diskurshoheit und Mobilisierung darstellt, ist jedoch mehr als plausibel.
Daher scheint die Versicherheitlichung des Phänomens ohne fundierte empirische Forschungen auf eine falsche Fährte zu führen. Es suggeriert nämlich auf der einen Seite, dass politisch motivierte Gewalt nur aus einer Ideologie oder einer religiösen Gemeinschaft heraus erklärt werden kann, marginalisiert aber auf der anderen Seite die Bedeutung sozialer Radikalisierungsprozesse. Zudem bleibt die in anderen Phänomenbereichen längst erwiesene Tatsache ausgeblendet, dass Gewalt und Einstellungen auf verschiedene Art und Weise korrespondieren, weswegen Radikalisierungsprozesse unterschiedlich konturiert sein können.8 In der Folge entsteht eine konstruierte Nähe zwischen sozial-religiösen Deutungs- wie Verhaltensmustern und einer militanten Aktionsform, deren Bedrohung im politischen Diskurs nach dem 11. September 2001 praktisch allgegenwärtig ist. Die gefährliche Nähe zwischen Salafismus und Dschihadismus/Terrorismus erscheint in dieser Perspektive nicht mehr als empirisch belegter sozialer Fakt, sondern als sicherheitspolitisches Artefakt, als sozial gemachte Größe, die eine vermeintliche So-Sein-Relation zwischen der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit und dem zu untersuchenden Objekt herstellt.
Nicht das erste Mal in der Geschichte deutscher Terrorismusdebatten zeigt sich die Tendenz zur Politisierung und Dramatisierung sozialer Phänomene. Längst beschrieben ist der Effekt einer sogenannten Bedrohungs- und Bedeutungsspirale, die einerseits von unten nach oben wirkt, indem sie die Bereitschaft zur Regel-, System- und Normverletzung unterstellt, um in den Vorwurf der Gewaltbefürwortung oder der (ideellen) Unterstützung des Terrorismus zu münden. Das vermeintliche Ähnlichkeitsverhältnis wird zudem von oben nach unten durch die „verkehrte Kausalität“ produziert, die den Salafismus zum „geistigen Nährboden des Terrorismus“ macht.9 Auf diese Weise wird ein Alltagsmythos vom scheinbaren Nexus zwischen Salafismus und Terrorismus begründet, der beide Phänomene als zwei Seiten einer Medaille erscheinen lässt. Es ist die undifferenzierte Gleichsetzung bzw. das scheinbar alles erklärende Zueinander-in-Beziehung-Setzen, welches die Autoren mit der Wendung der gefährlichen Nähe im oben beschriebenen Sinne adressieren. Da eine theologisch unterlegte und auf unterschiedliche Akteure anwendbare Kategorie zum zentralen Erklärungsfaktor für Terrorismus avanciert, handelt es sich einerseits um eine konstruierte Nähe. Gleichzeitig handelt es sich um eine Nähe, die von populistischen und dschihadistischen Akteuren angesteuert und für eigene Zwecke instrumentalisiert wird. Auf einer weiteren Ebene wird gefährliche Nähe besonders durch das Internet scheinbar evident. Der Dschihad sei nur einen Mausklick entfernt und E-Mails oder Facebook-Einträge, die Attentäter wie Arid Uka oder Anders Breivik verschicken bzw. machen, bevor sie zur Tat schreiten, bringen virtuelle Freunde schnell in Misskredit und in Erklärungsnot. Bei beiden Einzeltätern waren es Internetbezüge, die im Falle Ukas den Salafismus und im Falle Breiviks die „English Defense League“ (EDL) als vermeintliche Netzwerke hinter den Tätern in die Schlagzeilen brachten. Somit wird die konstruierte Nähe auch gefährlich, wenn angebliche Sympathisantenszenen identifiziert werden, die als solche möglicherweise gar keinen Beitrag leisten bzw. dergestalt nicht existieren. Die Gefahr geht also nicht nur von der tatsächlichen Radikalisierung aus, sondern auch von der vorschnellen Etikettierung größerer Gemeinschaften.
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