Kriminalität

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Von Dr. Marwan Abou-Taam, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz 

Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Islam zur Herrschaft sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass unterschiedliche Ebenen des Argumentes zusammengeführt werden müssen, um eine haltbare Aussage treffen zu können: Die Beziehungsverhältnisse „Islam und Staat“, „Muslime und Staatlichkeit“, „Islam und Säkulare Verfassung“, „Muslime und Säkularismus“ sind verschiedene von vielen Variablen abhängige Komponenten, die in ihrer Beantwortung oftmals orts-, zeit- und esellschaftsabhängig sind. Weder der Koran noch die Tradition des Propheten äußern sich zur Gestaltung eines Staatswesesens. In diesem Sinne argumentierte der al-Azhar Gelehrte und Richter Ali Abd ar-Raziq im Rahmen einer Auseinandersetzung über die Beziehung von Herrschaft und Islam, dass man in der islamischen Offenbarung keine Aussagen über die Verfasstheit eines Staates finden kann, und führt fort:

„Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt für Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind reine politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten.“1


Obwohl im quranischen Text Könige und Königreiche diskutiert werden, wird die politische Konstituierung der frühen islamischen Gemeinde nicht festgelegt. Ferner werden in der Prophetentradition zwei Aussagen Mohammads als authentisch zitiert, die sehr verwirrend wirken, wenn man bedenkt, dass oft in der aktuellen islamischen Debatte die Untrennbarkeit von Religion und Politik betont wird. Mohammad soll von Gott vor die Wahl gestellt worden sein, König oder Diener werden zu wollen und er habe sich für letzteres entschieden.2 So gab es zu keiner Zeit eine offizielle staatsamtliche Bezeichnung des Propheten. Vielmehr betont Mohammad „... ihr wisst zu Dingen eurer Welt besser Bescheid.“ Erst im Jahr 661 entstand mit den Ummayaden in Damaskus die erste islamische Dynastie als Folge eines Bürgerkrieges und vieler Krisen, die sich mit der Frage der rechtgeleiteten Führung der Gläubigen auseinandersetzten. Nicht Medina oder Mekka sondern Damaskus, eine byzantinische Verwaltungsstadt, war nun die Hauptstadt der ersten islamischen Dynastie. Die Omayyaden gaben sich den Titel „Statthalter Gottes“, während Mohammad Diener und gesandter Gottes war.
Unter den Muslimen existierten seither verschiedene religiöse Auffassungen über die Bedeutung des Staates und seiner Wirkungsrationalität. Oft findet man in den Argumente eine staatsphilosophische Verknüpfung, wonach staatliche Ordnung eine Voraussetzung für die Erfüllung religiöser Pflichten sei. Ein Blick in den Koran macht jedoch deutlich, dass sich die Offenbarung nicht zu diesem Thema geäußert hat. An keiner Stelle des Korans wird eine islamkonforme Staatsform beschrieben. Die Frage der staatlichen Organisation, des Rechts und der Herrschaftskontinuität ist zwar erst mit dem Tod des Propheten aktuell geworden, jedoch werden oft Bezüge auf das Wirken Mohammads in Jathrib genommen. Diese Stadt, die heute Medina/Stadt des Propheten genannt wird, dient als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interpretationen des Islam bezüglich seines Verhältnisses zur Staat und Herrschaft. Sowohl Orthodoxe, Modernisierer als auch Islamisten beziehen sich auf die frühislamische Geschichte, und insbesondere auf die Rolle des Propheten in Jathrib, um daraus Argumente für ihre jeweilige Staatsauffassung abzuleiten. 

Jathrib und das Wirken Mohammads


Die sozialpolitische Situation auf der arabischen Halbinsel unmittelbar vor dem Offenbarungsbeginn war geprägt von stammesorientierten Gemeinwesen, die ihrerseits in kleineren Klans und Großfamilien unterteilt waren. Im Zentrum jener patriarchalischen Struktur stand die Ehre, die unmittelbar mit der Blutrache verbunden war. Während die Nomaden mit ihren Tieren in der Wüste von Oase zur Oase umherzogen, betrieben die Stadtbewohner Handelskarawanen. Beduinische Wegelagerer kontrollierten die Handelsrouten, sodass das Verhältnis zwischen Nomaden und Städtern entsprechend von Raub- und Rachezügen bestimmt war. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm eröffnete Schutz und war Loyalitätsverpflichtung zugleich. Lebensentscheidend waren auch jene Allianzen zwischen den Stämmen, die dazu beigetragen haben, dass, trotz fehlender politischer Struktur, das soziale Gefüge stabil gehalten wurde.
In Mekka, also in der Geburtsstätte des Islams, lebte der Stamm der Qureischiten, die Haschemiten bildeten eine Großfamilie innerhalb dieses Stammes, aus der Mohammad hervorging. Sowohl die marokkanische als auch die jordanische Königsfamilien berufen sich bis heute auf die Abstammung aus der haschemitischen Familie und legitimieren ihre Macht durch das Verwandtschaftsverhältnis zum Propheten Muhammad.
Die von Mohammad gepredigte Religion des Islam zog ihre revolutionäre Kraft gerade daraus, das unverfälschte Alte zurückgebracht zu haben. Dabei verfolgt der Islam weder den jüdischen Traum von der Erlösung eines auserwählten Volkes noch der christlichen Versprechung von der individuellen Erlösung durch das Leiden Gottes. Auf einer undramatischen Art und Weise wird die Beziehung der Menschen zu Gott nüchtern und in vielen Teilen pragmatisch bestimmt. Gott wird in einer strikt monotheistischen Perspektive als der absolute, transzendente, in einem alles übersteigenden Anderssein unmittelbar wirkende interpretiert. Das Grundanliegen des Islam besteht also in der Transzendenz des einen Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde. Bald fand der Prophet Anhänger unter den jüngeren Mekkanern vornehmer Familien und den Sklaven. Bei den Stadtvätern Mekkas stieß er auf Ablehnung. Diese hatten Angst, dass der Stammessohn Muhammad durch seinen propagierten Monotheismus die gesonderte Stellung der Pilgerstadt Mekka als Handelsmetropole und religiöses Zentrum gefährdet. Muhammads Predigten hinterfragten den Götterkult und die Wallfahrtsfeste, die sich um das Heiligtum in Mekka konzentrierten und den führenden Familien wirtschaftliche Vorteile brachten.
Die Qureischiten beschlossen, Muhammad und seine Anhänger zu boykottieren. Als Muhammads Onkel Abu Talib im Jahre 619 starb, steigerten die Mekkaner den Druck auf Muhammad, schließlich beschlossen sie ihn zu töten. Daraufhin erlaubte er seinen Anhängern Mekka zu verlassen, um in Jathrib Schutz zu finden. Schließlich folgte er ihnen im Jahre 622 nach Jathrib auf die Aufforderung einiger Stämme hin, die einen Friedensrichter suchten. Jathrib bekam später den Namen Medina/, Die Stadt des Propheten. Diese Migration wird Hidjra genannt und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Heilsgeschichtlich bedeutet diese Auswanderung einen Einschnitt zwischen Islam und Djahiliyya. Es ist die Überwindung des „Nicht-Wissen“ und „Nicht-Wahrnehmen“ der Zeichen des Schöpfers und somit eine Manifestation des Wandels einer sozialen Situation, die durch die Realisierung einer neuen sozialen Verfassung in Medina verfestigt werden sollte. Hierin sehen die islamischen Gelehrten eine Parallele zur biblischen Geschichte Moses, die im Quran mit den Worten wiedergegeben wird: „Und wahrlich, wir entsandten schon Moses mit unsern Zeichen (und sprachen zu ihm:) Führe dein Volk aus den Finsternissen zum Licht und erinnere sie an die Tage Allahs‘. Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Standhaften und Dankbaren“.(Sure14,5)
Muhammad wurde in erster Linie von den Bewohnern Medinas als Schiedsrichter akzeptiert, um ihre Fehden zu schlichten. Diesbezüglich liefert die Charta (Sahifa) von Medina einen Einblick in die pragmatisch begründete Abmachung zwischen Mohammed und den Bewohnern der Stadt. Es entstand in Medina eine politische Solidargemeinschaft (Umma). Muslime, heidnische und jüdische Clans akzeptierten die richterliche Funktion von Muhammad. In der Sahifa findet man die Formulierung: „Immer wenn zwischen den Leuten dieser etwas geschieht oder zwischen ihnen Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies Gott und Mohammad, seinem Gesandten, vorzulegen.“ Diese Stellung des Propheten ist eine weitere Zäsur, die den Islam bis heute prägt, denn viele Muslime interpretieren den räumlichen Bruch mit Mekka als Befreiung vom Unglauben. Die neue Rolle des Propheten wird verstanden als die erste islamische Grundordnung, in der der ehemals von seiner Heimatstadt verkannte und abgelehnte Prophet zum Oberhaupt einer Gemeinde aufgestiegen ist. Tatsächlich lassen sich auch im Offenbarungstext Stellen finden, die diese Veränderung der Rolle Muhammads belegen. Während die Predigten Muhammads in Mekka vor der Hidjra sich mit der Beziehung der Menschen zu Gott, der Erwartung des Jüngsten Gerichtes sowie mit der Aufforderung zu sozialen Handlungen beschäftigten, zeugen die Aussagen des Propheten in Medina von einer praktisch orientierten Umsetzung der Botschaft innerhalb einer bestimmten Sozialordnung. Auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Phasen der Offenbarung. Maßgeblich für diese Veränderung war die historische Notwendigkeit, die sich aus dem Verhältnis des Propheten zum sozialen Komplex ergeben hat. Für den größten Teil der Muslime sind diese Veränderung und ihre Rahmenbedingungen ein zentraler Bestandteil der Offenbarung, ohne die die Texte des Korans kaum auslegbar sind. Obwohl oft das Wirken des Propheten in Medina herangezogen wird, um eine islamische Herrschaftsordnung zu bestimmen, muss man jedoch konstatieren, dass Muhammad zu keiner Zeit eine offizielle Amtsbezeichnung innehatte. Er hat keine Dynastie begründet und schuf keinerlei staatliche Strukturen.
Die Autorität Muhammads lässt sich auf Quranverse zurückführen, wonach die Gläubigen Gott und den Gesandten gehorchen sollten (Sure 4,80; Sure 5,92; Sure 8,1 etc.), denn „ […] Vielleicht lasst ihr euch führen! Aus euch soll eine Gemeinschaft derer entstehen, die zum Guten rufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche untersagen.“ In einem anderen Vers wird der Zirkel von Autoritätsträgern erweitert. In Sure 4 im Vers 59 heißt es, „O ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben.“ Die muslimischen Exegeten waren sich nie einig über die Interpretation des letzten Teils dieses Verses. Wer sind diejenigen, die Befehl unter den Muslimen haben? So sieht at-Tabari (839-923) darin die Grundlage einer islamischen Herrschaft gelegt.3 Andere Exegeten gehen jedoch davon aus, dass es sich hierbei um die Gefährten des Propheten handelt. 

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