Korruption als Staatsraison?

Dr. Wolfgang Hetzer,
European Anti-Fraud Office, Brüssel

Bertold Brecht wollte vor geraumer Zeit wissen, was der Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer solchen ist. Wer das für einen naiven Spruch zur Erheiterung von Gymnasiasten hält, möge sich von den Herren Christopher Freiherr von Oppenheim und Matthias Graf von Krockow zum Abendessen einladen lassen. Ihre zukünftigen Gastgeber haben die Privatbank Sal. Oppenheim vor 220 Jahren zwar nicht gegründet. Als bis vor kurzem persönlich haftende Gesellschafter dieser Bank könnten Sie aber eine Antwort geben. An ihrer Expertise besteht kein Zweifel. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat vor kurzem Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue aufgenommen. Die beiden Haupt-Familienstämme haben von „ihrer„ Bank, die mittlerweile von der Deutschen Bank übernommen wurde, ein Darlehen über 680 Millionen Euro erhalten. Knapp die Hälfte soll ohne Sicherheiten ausbezahlt worden sein. Die Zinssätze sollen zum Teil nur 1,5 Prozent betragen haben. Nachdem die deutsche Finanzaufsicht (Bafin) hiervon erfahren hatte, mussten die genannten Herren und zwei weitere Angehörige der Führungsspitze zurücktreten. Allen war mit dem Entzug der Zulassung zur Leitung einer Bank gedroht worden.
Sal. Oppenheim war in eine Schieflage geraten, weil die Bank hohe „Klumpenrisiken„ bei dem insolventen Karstadt-Konzern Arcandor und dessen Großaktionärin Madeleine Schickedanz hatte. Darüber hinaus hat sie sich stark in geschlossenen Immobilienfonds engagiert, die zusammen mit dem Vermögensverwalter Josef Esch aufgelegt worden waren. Einige dieser Immobilienobjekte waren an Karstadt vermietet worden. Sie haben nach der Insolvenz deutlich an Wert verloren. Auf Drängen der Deutschen Bank wurden die Geschäftsbeziehungen zu Esch inzwischen beendet.
(Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 33 vom 9. Februar 2010, S. 17)

Angesichts weiterer aktueller Ereignisse könnte man die Frage von Brecht geringfügig erweitern. Sie lautete dann so:
Manche werden sich mit dieser „alt-neuen„ Frage nicht beschäftigen wollen. Sie mag Ihnen polemisch, albern und absurd erscheinen. Andere werden sie dagegen als rhetorisch empfinden, weil sie eine Unterscheidbarkeit für konstitutiv ausgeschlossen halten. Eine weitere Gruppe mag hinter der Fragestellung eine politische Absicht wittern und so verstimmt sein, dass sie selbst den Versuch einer Beantwortung ablehnt. Einige werden es einfach nicht für möglich halten, dass aus Killern Banker geworden sind oder dass Inhaber hoher und höchster Staatsämter sich einem mafiotischen Schweigegebot (Omérta) unterwerfen, indem sie die Herkunft von Spenden beharrlich und gesetzwidrig mit der Behauptung verschweigen, sie hätten den großzügigen Gebern ein entsprechendes „Ehrenwort„ gegeben. Es liegt auch der Verdacht nahe, dass hinter solch einer Frage Sozialneid und Minderwertigkeitsgefühle stehen und man deshalb wirtschaftliche und politische Erfolge zum Feindbild verzerrt. Wie auch immer: Ergiebiger als derartige Spekulationen könnte die Erinnerung an konkrete Vorgänge sein. Die Bayerische Landesbank muss ca. 3,7 Milliarden Euro abschreiben. Sie ist wegen des Verdachts des völlig überteuerten Kaufes einer österreichischen Bank jetzt sogar in das Visier der Staatsanwaltschaft München geraten. In dem Ermittlungskomplex sind auch Vorwürfe wegen Parteienfinanzierung und der Zahlung von Bestechungsgeldern an Politiker laut geworden. Gegenwärtig ermitteln Staatsanwälte auch in Norddeutschland und bundesweit gegen sechs frühere und amtierende Vorstände der HSH Nordbank. Schadenersatzklagen werden vorbereitet und parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind in seit Monaten um Aufklärung bemüht. Die in München beheimatete Bank Hypo Real Estate (HRE) hat sich – auch mit ihrer Tochter (Depfa) – international in hochriskanten Geschäften engagiert und bedarf staatlicher Unterstützung in Höhe von ca. 100 Milliarden Euro. Mittlerweile ist die Verstaatlichung erfolgt. Der amtierende Ministerpräsident von Niedersachsen hat behauptet, dass die pflichtwidrige Vernichtung von Kapital eine Straftat sei. Man wird nicht nur deshalb darüber reden müssen, ob es sich hier um einzelne Fälle rechtswidrigen Verhaltens handelt oder ob die Folgen, die heute unter dem verniedlichenden Begriff „Finanzkrise„ debattiert werden, in Wahrheit der organisierten Kriminalität (OK) zuzurechnen sind.
Besonders lebhaft könnte es werden, wenn man auch noch die Rolle von Regierungen in manchen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union (EU) im Zusammenwirken mit Finanzinstituten und Wirtschaftsunternehmen berücksichtigte. Zurzeit sind bekanntlich die Spannungen in der Eurozone und die Schulden Griechenlands die beherrschenden Themen an den Finanzmärkten. Das Vertrauen der Märkte in diesen Mitgliedstaat der EU ist dahin, seit bekannt wurde, dass die jeweiligen Regierungen über Jahre mit falschen Zahlen geringere Schulden vortäuschten. Inzwischen vermutet man sogar, dass die Investmentbanken mit speziellen Finanzprodukten dazu Beihilfe geleistet haben. Hier stellt sich die Frage, ob ein derartiges kollusives Zusammenwirken, sollte es jemals beweisbar sein, nicht als eine der höchsten Formen der OK anzusehen wäre. In der Öffentlichkeit wird bis jetzt dagegen regelmäßig verharmlosend von „Tricks„ gesprochen, also von lässlichen kleineren „Sünden„. Diese Ausdrucksweise ist in jeder Hinsicht unangemessen. Bei Staatsfinanzen werden große Summen häufig in anderen Währungen wie USD oder Yen aufgenommen, zwischenzeitlich in Euro getauscht, etwa zum Bezahlen fälliger Rechnungen, und vor der Fälligkeit wieder in die Ursprungswährung zurückgewechselt. Bei diesen Tauschgeschäften („Swaps„) sollen Investmentbanken nicht mit aktuellen sondern mit fiktiven Wechselkursen gearbeitet und dadurch Kredite außerhalb der offiziellen Schuldenstatistik geschaffen haben, nicht nur in Griechenland, sondern schon vor Jahren in Italien.
(Zitiert nach: Einecke, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 31 vom 8. Februar 2010, S. 15)

Nach Auffassung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugmann ist aber Spanien der eigentliche „Brandherd„. Und zwar wegen des galoppierenden Defizits, der Rekordarbeitslosigkeit von fast 20 Prozent, nicht endender Rezession, schwerer Strukturprobleme und mangelndem Reformwillen. Und natürlich wegen seines Gewichts. Die Wirtschaftsleistung Spaniens ist ungefähr viermal größer als die Griechenlands. Manch ein Experte glaubt daher, dass Spanien das größte Risiko für die Eurozone darstellt. Die Probleme dort seien aber beherrschbarer als in Portugal oder Griechenland. Aus der Sicht von Teilen der österreichischen Presse hat Griechenland zudem vor allem ein strukturelles Problem. Gemeint ist der „Klientilismus„. Der Begriff ist nichts anderes als eine euphemistische Umschreibung für konstitutive Korruption. Andreas Papandreou, der Vater des derzeitigen Ministerpräsidenten Georgios Papandreou und Gründer der sozialistischen Partei kam 1981 mit einem erdrutschartigen Sieg an die Macht, weil sich die linksliberalen Massen über ihn endlich Zugang zur Macht erhofften. Sie bekamen ihn. Festanstellungen im öffentlichen Dienst seien als Wahlgeschenke verteilt worden und hätten den Verwaltungsapparat zu einem der ineffektivsten und korruptesten Europas aufgebläht. EU-Subventionen hätten den Konsum über Importe angekurbelt. Die Wettbewerbsfähigkeit sei zurückgeblieben. Man habe Privatisierungen defizitärer Staatsbetriebe verschleppt. Immer mächtiger werdende Gewerkschaften hätten Strukturreformen vereitelt. Georgios Papandreou müsse die „Sünden„ seines Vaters und die der konservativen Vorgängerregierung unter Kostas Karamanlis jetzt „abbüßen„. Allein 2009 sind vor der Wahl noch schnell 100.000 Staatsdiener eingestellt worden. Die Niederlage an der Wahlurne war dennoch massiv. Skandale in Milliardenhöhe hätten die allgemeine Meinung in Griechenland bestätigt, dass derjenige, der Zugang zur Macht hat, den Staat als Selbstbedienungsladen betrachte.
(Insgesamt zitiert nach: Die Presse am Sonntag vom 14. Februar 2010, S. 7)
Das würde gewaltige Probleme aufwerfen. Sie wären mit konventionellen strafrechtlichen Mitteln nicht lösbar. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden„ noch so weit vorhanden ist, dass die durch politische Korruption bewirkte Beleidigung der Millionen nicht privilegierter Bürger die für grundlegende Umgestaltungen erforderliche Energie erzeugen kann. Man könnte zudem die Frage behandeln, ob es inzwischen Finanzinstitute gibt, die so groß sind, dass sie als „systemrelevant„ gelten und deshalb mit Hilfe des Steuerzahlers aus der selbstverschuldeten Bredouille gerettet werden müssen. Dann müssten wir auch darüber reden, ob wir mittlerweile eine „Systemkriminalität„ haben. Eine besondere Art der Delinquenz also, die auf dem Boden wirtschaftlicher Inkompetenz und politischer Nachlässigkeit eine Kultur der Verantwortungslosigkeit geschaffen hat. In Wahrheit vielleicht eine „Unkultur„, in welcher der Rechtsstaat zum Fetisch von Sonntagsrednern degeneriert ist, und in der Betrug und strukturelle Erpressung zum Funktionsmodus angeblicher Leistungseliten geworden sind. Vor diesem Hintergrund mag man sogar darüber diskutieren, ob ein System als solches überhaupt noch relevant ist oder sein darf, wenn es derartige Entwicklungen ermöglicht hat. Wir müssen uns dabei nicht auf die virtuelle Welt der Finanzindustrie beschränken. Es lohnt auch ein Blick auf die „Realwirtschaft„. Dabei geht es nicht nur um die zum Teil offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Teilen der Wirtschaft und Bereichen der Politik wie etwa die endemische Unfähigkeit zur Beherrschung der Grundrechenarten. Es geht auch um die praktische Relevanz des „Ja, aber„, des „Nein, aber„ und des entschiedenen „Sowohl als auch„, also um die Angst vor klaren und kategorischen Entscheidungen und Handlungen.
Ein Beispiel: Der deutsche Manager Utz Claasen wurde vor einiger Zeit gefragt, ob die Wirtschaft ohne „Beziehungspflege„ auskommt. Seine Antwort lautete folgendermaßen:
„Ja, aber man darf hier nicht pharisäerisch sein. Ganz klar, man kann, soll, muss ohne Korruption auskommen. Punkt. Ich selbst habe aber immer wieder in Branchen gearbeitet, in denen das im Hinblick auf die Kundenseite einigermaßen unproblematisch war: Autos, Strom, Analysewaagen. Es mag Geschäftsfelder und Regionen in der Welt geben, in denen die Marktgegebenheiten ganz andere sind. Ich würde nicht voreilig Menschen verurteilen wollen, die in solchen Regionen und solchen Märkten tätig sind und sich an diesen bestimmten Gegebenheiten orientieren müssen.„
(Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 28. März 2008, S. 32).

Letztlich wird in diesen Äußerungen die Notwendigkeit der Korruption auf den Märkten dieser Welt anerkannt. Gleichheit im Unrecht gibt es also doch. Moral, Ethik und Rechtstreue schrumpfen auf das Format eines Operntitels („Cosi fan tutte„) und dokumentieren einen Geisteszustand, der das Ergebnis eines Infantilisierungsschubes ist. Damit sind kindliche Wahrnehmungen natürlich nicht diskreditiert, weil Kinder es zumeist ernst meinen und glaubwürdig sind. Die hier zitierten Aussagen sind nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil schwerwiegende Vorwürfe gegen Mitarbeiter und Führungskräfte großer Unternehmen wegen untreuen und korrupten Verhaltens in der jüngsten Zeit nicht nur in Deutschland zu drastischen wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen geführt haben. Selbst namhafte und traditionsreiche Konzerne mit bislang hoher Reputation im In- und Ausland stehen im Feuer öffentlicher Kritik. Gegen etliche ihrer Angestellten finden auf nahezu allen Ebenen strafrechtliche Ermittlungen statt. Mittlerweile haben Gerichte eine ganze Reihe von Mitarbeitern verurteilt. Der Siemens-Konzern selbst wurde vor kurzem nach nicht sehr transparenten Beratungen in Deutschland auf der Grundlage des Ordnungswidrigkeitengesetzes mit einem Bußgeld in Höhe von 201 Millionen Euro belegt. Es ist sehr zweifelhaft, ob das kriminelle Unrecht, das innerhalb dieses Konzerns verwirklicht wurde, den Charakter einer „Ordnungswidrigkeit„ trägt. Fraglich ist, ob die Bestrafung einzelner Täter ausreicht. Die korrumpierende Anbahnung und Durchführung von Geschäften wurden mit krimineller Energie und systematischer Planung, mit Wissen und Wollen hochrangiger Manager über lange Zeit betrieben. Auch deshalb sollten die betroffenen Unternehmen selbst als Sanktionssubjekte behandelt werden. Im Wettbewerb um lukrative Aufträge haben sich Mitarbeiter und Führungskräfte ganzer Konzerne auf allen Hierarchieebenen so weit korruptiv verstrickt, dass zwischen einem „Businessplan„ und einer mafiotischen Tatvorbereitung nicht immer ein Unterschied bestand. Manche Wirtschaftsunternehmen haben sich in Hochburgen krimineller Machenschaften verwandelt. Dort waren Handlungsmuster der OK alltägliche Geschäftspraxis. Umso erstaunlicher ist, dass die bisherige strafrechtliche Aufarbeitung sich überwiegend auf nachgeordnete Mitarbeiter konzentriert und auf den Vorwurf der Untreue (§ 266 StGB) beschränkt. Das Landgericht München I hat am 28. Juli 2008 den früheren Siemens-Direktor Reinhard Siekaczek zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 108 000 Euro verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, Untreue begangen zu haben, indem er allein zwischen Juni 2002 und September 2004 in 49 Fällen Zahlungen von insgesamt knapp 50. 000 000 Euro durch ein undurchdringliches Geflecht von Scheinfirmen geschleust hatte. Damit sind weltweit Bestechungen finanziert worden. Der Verurteilte hatte sich dabei nicht persönlich bereichert, sondern die Beträge auf Aufforderung leitender Mitarbeiter als „nützliche Aufwendungen„ bewilligt. Das Wort „Schmiergeld„ soll verpönt gewesen sein. Korruption hieß: „Das Thema„. Als Siekaczek für die Anweisung entsprechender Gelder zuständig geworden war und wissen wollte, wofür sie im Einzelnen dienen sollten, hat er die Antwort erhalten: „Das wollen Sie nicht wirklich wissen.„ Die Manager hätten mit einem „Augenzwinkern„ darüber geredet. Sogar ein Zentralvorstand habe Wirtschaftsprüfer angewiesen, bestimmte korruptive Praktiken nicht zu durchleuchten .Ein Vorstand der Telekom-Sparte habe angekündigt, dass im Bedarfsfall der Korruptionsbeauftragte der Firma Siemens mit einem Vertreter der Justiz in die Sauna gehe. Dann sei der Fall geregelt. Die mit der Durchführung der Schmiergeldzahlungen Beauftragten habe das beruhigt. Es habe im Übrigen ständig neue Begründungen zur Erforderlichkeit von Bestechungshandlungen gegeben:
„Erst zahlte man, um den Auftrag zu bekommen, dann für die Einfuhrgenehmigung in das Land, später, damit der die Kunde die Ware überhaupt bezahlte. Oder: Mitarbeiter in Osteuropa oder Afrika sagten, es gibt Versprechungen, wenn Ihr nicht zahlt, ist unser Leben in Gefahr.„

Ohne Aufträge aus den Ländern, in denen man angeblich schmieren musste, wäre eine Milliarde Euro Umsatz weggefallen, also 25 Prozent allein in diesem Bereich. Das ganze Telefon-Netzwerk-Geschäft mit 50.000 Mitarbeitern wäre ohne Bestechung dem Tode geweiht gewesen, behauptet Siekaczek. Man sei „quer durch den Konzern„ so vorgegangen. Er selbst habe ein bereits bestehendes „Modell„ nur übernommen. Das soll keine „große Sache„ gewesen sein. Der Treuhänder in Liechtenstein habe nur ein Papier gewollt, das seine Berechtigung nachwies, für Siemens Konten zu eröffnen. Dies habe die Rechtsabteilung des Konzerns bestätigt. Allen Managern bis nach ganz oben, sei klar gewesen, dass sie etwas Strafbares tun. Das Gericht äußerte erhebliche Zweifel daran, dass der gesamte Zentralvorstand keine Kenntnis von dem Vorgehen hatte. Den Aussagen des Finanzvorstandes Joe Kaeser entnahm der Vorsitzende Richter (Peter Noll) immerhin, dass bei Siemens ein „weithin erodiertes Rechtsbewusstsein„ und ein „System organisierter Unverantwortlichkeit„ herrschten. Das Gericht erinnert in seiner Urteilsbegründung aber daran, dass die Anklage nicht wegen Korruption erfolgt war. Dessen ungeachtet wurden 20 bis 30 Prozent auf die Preise aufgeschlagen. Man verlangte „Mondpreise„, um die Verantwortlichen schmieren zu können. In ersten Kommentaren wurde das Urteil als „Startschuss„ bezeichnet. Das Gericht habe gewichtige Indizien dafür erkannt, dass die höchste Führungsebene über das ausgeklügelte Bakschisch-System Bescheid wusste. Deshalb habe man auf einen „Deal„ über das Strafmaß verzichtet. Die Firma Siemens ist natürlich nicht die Wiege des Bösen. Das gilt auch für die Republik Österreich und das Vereinigte Königreich. Ein namhafter Vertreter der österreichischen Aristokratie, Alfons Graf Mensdorff-Pouilly, kann, nach kurzer Unterbrechung Anfang des Jahres 2010, wieder ungehindert von seinem Grundrecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen. Das britische Serious Fraud Office (SFO) hat im Februar 2010 nicht nur dessen Freilassung aus der Untersuchungshaft bestätigt, sondern auch mitgeteilt, dass das gesamte Verfahren wegen Korruptionsvorwürfen eingestellt wurde. Man verweist auf eine zwischen dem SFO, dem amerikanischen Justizministerium und dem britischen Rüstungskonzern BAE Systems erzielte Übereinkunft. Danach liege es nicht länger im öffentlichen Interesse, die Ermittlungen gegen Einzelpersonen fortzusetzen. Auch gegen den BAE Konzern insgesamt wurden die Ermittlungen eingestellt. Das ist bemerkenswert. Immerhin ging es um den Verdacht, bei der Beschaffung von Rüstungsgütern für BAE tätig gewesen zu sein. Man behauptete, dass in diesem Zusammenhang 107 Millionen Euro, davon 18 Millionen in Österreich, in korrumpierender Weise verteilt worden seien. Der Betroffene bestreitet diesen Vorwurf. Der Verteidigungsminister der Republik Österreich hat seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass das Verfahren in Österreich fortgeführt werden möge. Er kritisierte den „Deal zwischen SFO und BAE„ heftig und bezeichnete ihn als "Ablasshandel". (Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 32 vom 8. Februar 2010, S. 5)

Um was geht es? BAE Systems, der zweitgrößte Waffenhersteller der Welt, zahlt in den Vereinigten Staaten und Großbritannien Geldbußen ca. 400 Millionen USD, um langjährige Korruptionsermittlungen zu beenden. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, es habe sich durch Schmiergeldzahlungen einen Großauftrag in Höhe von 43 Milliarden USD für die Lieferung von „Tornado„ Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien erkauft. In Großbritannien zahlt der Konzern in einem kleineren Fall außerdem 30 Millionen Pfund Geldbuße im Zusammenhang mit der Lieferung von Radaranlagen an ein afrikanisches Land (Tansania). Damit wird ein Gerichtsprozess verhindert. Zwar hatte man zuvor öffentlich über höhere Geldbußen öffentlich spekuliert. Dennoch handelt es sich in den USA um eine der drei höchsten Bußgeldzahlungen bei Korruptionsverfahren. Ende 2008 hatte der Siemens Konzern übrigens einen ähnlichen Vergleich über 800 Millionen USD geschlossen.BAE Systems will mit der Vereinbarung den Ausschluss von amerikanischen Rüstungsaufträgen verhindern. Dies würde den Konzern in der Tat sehr hart treffen. Kein Land der Welt gibt mehr Geld für Waffen aus als die USA. BAE Systems ist mit einem Umsatz von 19 Milliarden Pfund und 105.000 Mitarbeitern der größte industrielle Arbeitgeber in Großbritannien. Sein Verwaltungsratsvorsitzender (Dick Oliver) bedauert die „Versäumnisse der Vergangenheit und übernimmt die volle Verantwortung„ dafür. Immerhin bekennt sich die Firma dazu, der amerikanischen Regierung gegenüber „falsche Angaben in Bezug auf regulatorische Mitteilungen und Vorhaben„ gemacht zu haben. Das SFO erwähnt in seiner Presseerklärung unterdessen noch nicht einmal mehr die Tatsache, dass jahrelang wegen Korruptionsverdacht ermittelt wurde. Das ist erstaunlich, geht der saudi-arabische Ermittlungskomplex, auf den der größte Teil der Bußzahlungen entfällt, doch bis auf die Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Der Verkauf der Flugzeuge war von der damaligen Premierministerin Thatcher eingefädelt worden. Frühen Korruptionshinweisen gingen ihre Regierung und deren Nachfolger nicht hinreichend entschlossen nach. Erst 2004 eröffnet das SFO ein Verfahren, dessen Fortführung einer ihrer Amtsnachfolger (Tony Blair) schließlich untersagte. Es gab konkrete Hinweise, dass auch Mitglieder des saudi-arabischen Königshauses Gelder angenommen haben könnten. Aus der Sicht der britischen Regierung hätte der Fortgang der Ermittlungen aber die Kooperationsbereitschaft des Herrscherhauses bei der Bekämpfung des Terrorismus gefährdet. Die Belange der Strafrechtspflege hätten deshalb im Interesse der nationalen Sicherheit zurückzutreten.
(Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 32 vom 8. Februar 2010, S. 12).

Auch in diesem Komplex sind international agierende Wirtschaftsunternehmen und Regierungen nicht wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in das Visier von Untersuchungen geraten. Sie sind selbstverständlich als solche auch keine „Mafia-Organisationen„. Gleichwohl könnten manche Beispiele die Frage provozieren, ob das Leistungsprinzip in der Wirtschaft, das Gesetzmäßigkeitsprinzip in der Verwaltung und das Legitimitätsprinzip in der Politik durch das „Gangsterprinzip„ ersetzt wurden. Diese Fragestellung mag Überraschung auslösen, weil ein ganz bestimmtes festgefügtes Bild von OK insbesondere in Gestalt der italienischen Mafia verbreitet ist. Deshalb wird man zunächst überhaupt keine Verbindungen oder Gemeinsamkeiten zwischen brutalen Rechtsbrechern und den Galionsfiguren der bürgerlichen Wohlanständigkeit, der geschäftlichen Tüchtigkeit und der politischen Redlichkeit erkennen. Das ist nicht verwunderlich. Eine öffentlichkeitswirksame Mythologisierung erschwert in der Tat die inhaltliche Bestimmung des Begriffs und die analytische Bearbeitung der vielfältigen Erscheinungsformen der OK. Definitorische Schwächen, kriminologische Defizite („Dunkelfeld„), wirtschaftliche Gegebenheiten, politische Ambitionen, behördliche Interessen und massenmediale Verzerrungen tragen ebenfalls zu einem diffusen Gesamtbild bei. In den öffentlich zugänglichen Darstellungen beschränkt man sich zumeist auf einige statistische Grunddaten und wenig aussagekräftige allgemeine Erläuterungen. Die vom Bundeskriminalamt (BKA) für Deutschland jährlich erstellten „Bundeslagebilder Organisierte Kriminalität„ gehen von einer im Mai 1990 entwickelten Definition aus, die mit unwesentlichen Abweichungen auch in anderen Ländern üblich ist. Sie kommt einem kriminalpolitischen Mantra gleich. Jeder Versuch, dem komplexen Phänomen der OK näher zukommen, wird von den Geräuschen begleitet, die beim Gebrauch einer tibetanischen Gebetstrommel zu hören sind. Der definitorische Sing-Sang schlägt unvermeidlich jedem entgegen, der sich mit OK beschäftigt. Sie soll sich durch folgende Elemente auszeichnen:

  • Planmäßige Begehung von Straftaten erheblicher Bedeutung.
  • Mehr als zwei Beteiligte.
  • rbeitsteiliges Zusammenwirken von längerer oder unbestimmter Dauer.
  • Gewinn- oder Machtstreben.
  • Gewerbliche- oder geschäftsähnliche Strukturen.
  • Gewalt oder andere zur Einschüchterung geeignete Mittel.
  • Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft.

Dieser Ansatz bewirkt, dass das Vorhandensein einer wie auch immer strukturierten Organisation weiter in den Hintergrund gedrängt wird. Der handelnde Akteur bleibt in dieser Definition diffus. Ethnische Aspekte sind ausgespart. Die drei Komponenten (Geschäftsstruktur – Gewalt – Einflussnahme) sind nicht kumulativ sondern alternativ miteinander verknüpft. Unklar bleibt, in welchem Verhältnis diese drei Modalitäten zu den von der Gruppierung begangenen Straftaten stehen.
Gleichzeitig hob man immer wieder hervor, dass die Existenz der OK jedenfalls in Deutschland unstreitig sei, beklagte aber, dass darunter nicht jene qualifizierte Form des Verbrechens verstanden werde, die von subtilen Tattaktiken und -techniken bestimmt ist und die sich ausschließlich am zu erwartenden Profit orientiert. Man schien zunächst übereingekommen zu sein, dass es OK auf jeden Fall gibt, um erst danach zu fragen, worin denn das Besondere dieser Kriminalitätsform liegt. Einerseits hat die zitierte Definition den Vorteil, dass sie vielfältige OK-Variationen abdeckt. Angesichts ihrer Unbestimmtheit ist das nicht überraschend. Andererseits ist kaum erstaunlich, dass die Weite der Definition Kritik ausgelöst hat. Fast alle Elemente der Definition sind interpretationsbedürftig. Aus polizeilicher Sicht ist die damit verbundene Flexibilität begrüßenswert. Aus grundrechtlicher Perspektive ist eine derart vage Definition jedoch fragwürdig, weil darauf weitreichende staatliche Maßnahmen gestützt werden können. Man hat sich auch auf europäischer Ebene um weitere Definitionen bemüht. Sie zeichnen sich zwar durch zahlreiche Gemeinsamkeiten aus, dürfen aber deshalb nicht als wechselseitige Bestätigung für die Richtigkeit des jeweiligen analytischen Ansatzes missverstanden werden. Insgesamt stellen sie kein genügend qualitativ orientiertes Raster zur Erkennung und Einordnung OK-verdächtiger Strukturen und Personen dar. Auf die geographisch verteilten Besonderheiten der Typologie der verschiedenen OK-Gruppen ist hier nicht angemessen einzugehen. Wichtiger ist die Einsicht, dass es bei alledem nicht um die Mafia als einer konkreten historischen und leider auch aktuellen Variante der OK in Italien oder in den USA geht. Wir reden über Systeme unkontrollierter, vielleicht sogar unkontrollierbarer Macht. „Mafia„ ist nur eine Metapher, welche für einen pathologischen Machtmissbrauch steht.
OK ist nicht nur ein Merkmal strukturschwacher Gesellschaften. Sie hat sich – in unterschiedlichen Formen – in allen politischen Systemen ausgebreitet. Oft wird behauptet, dass intakte Staatswesen mit einer funktionierenden Rechtsprechung, parlamentarischen Opposition und einer freien Presse effektive Abwehrmechanismen gegen eine kriminelle Unterwanderung ausbilden können. Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie beruhigend das ist, wenn man zu dem Ergebnis kommen müsste, dass sich OK als Wirtschaftsform und als „politisches Prinzip„ etabliert hat. Diese Fragen sind auf allen Etagen der wirtschaftlichen und politischen Hierarchien hochaktuell geworden. Sie müssen in einer Zeit beantwortet werden, in der die angebliche Unterscheidbarkeit von Gewinn und Beute die Überzeugungskraft eines Ammenmärchens hat.
Auch deshalb ist die Abkehr vom überkommenen Verständnis dieser Kriminalitätsform geboten. Bislang sind damit vor allem Schlagwörter und Klischees verbunden:
„Rauschgift„, „Rotlichtmilieu„, „Menschenhandel„, „Ausländer„, „Gewalt„, etc.
Sie führen zu einer Stigmatisierung besonderer Art. In der öffentlichen Wahrnehmung gerät OK zur mythologischen „Unterwelt„, die fernab der bürgerlichen Gesellschaft ihr eigenes Leben nach geheimnisvollen Riten und Traditionen führt, weitab von den Zentren des sonstigen bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Daseins. Dieses Verständnis sorgt in der Welt bürgerlicher Wohlanständigkeit und in politischen Kreisen für Entlastung. Die „Mafia„, das sind immer nur die Anderen, Fremden, Fernen. Eine unheimliche Bedrohung, die von außen kommt. Eine Macht, die mit brutaler Energie in bislang behütete Lebenskreise eindringt. Eine Verschwörung zur Korrumpierung aller moralischen Werte. Diese Perspektive ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Sie erlaubt keinen Blick auf die etablierten inneren Verhältnisse in unseren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Regelkreisen. Deshalb wird das dramatische Ausmaß der Gefahr nicht erkannt. Vielleicht spielen auch psychologisch begründbare Widerstände eine Rolle. Sie treten immer dann auf, wenn schmerzhafte Prozesse der Selbsterkenntnis drohen. Der Satz „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt„ (Carl Schmitt) gilt möglicherweise auch im Hinblick auf das Phänomen der OK. Die neueren Nachrichten über kriminelles Geschehen auf allen Etagen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik müssten dennoch zu einer grundlegenden Revision der bisherigen Sichtweise führen. Heutzutage provoziert insbesondere die „Finanzkrise„ Fragen, die sich bis vor kurzem niemand vorstellen konnte. Bislang konzentriert sich das Augenmerk der Polizei und der Justiz in allen Mitgliedstaaten der EU leider immer noch auf besonders „primitive„ Formen vermeintlicher OK. Damit gerät vornehmlich gewalttätige Bandenkriminalität in den Blickwinkel. Im Hinblick auf die finanziellen Interessen der EU gehen die noch ernster zu nehmenden Gefährdungen jedoch von Personen und Strukturen aus, die andere spezifische Merkmale und Talente ausgebildet haben. Das kriminologisch und kriminalistisch traditionelle Verständnis von OK muss sich deshalb ändern. Unter dem Eindruck äußerst attraktiver Tatgelegenheiten, die sich angesichts der Höhe der in der EU und aus öffentlichen Haushalten zur Verfügung stehenden Mittel bieten, und wegen der anhaltenden Zeiten wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Umbruchs haben sich die Methoden kriminellen Handelns verfeinert. Die besonders gefährlichen Vertreter der OK greifen zu kaufmännischen Kalkulationen und identifizieren die höchsten Gewinnspannen und die geringsten Risiken mit unternehmerischer Weitsicht. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat die OK in den letzten Jahren mehrere qualitative Sprünge gemacht. Dadurch ist es ihr in zunehmendem Maße gelungen, das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU, die strukturellen Umwälzungen, die für einen offenen Binnenmarkt typischen Kontrolldefizite, die Vielzahl und Komplexität gesetzgeberischer Akte sowie die Anfälligkeit von Teilen der wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten für Korruption in allen Staaten planvoll auszunutzen. Aber nicht erst seit der Finanzkrise ist erkennbar, dass wir in Zeiten leben, in denen Lebenssinn sich in Gewinnmaximierung erschöpft. Die OK hat deshalb alle Chancen, weiter zu wachsen und zu gedeihen. Schon jetzt ist kaum noch zu klären, in welchem Maße zwischen (noch) legalen Unternehmen und der OK Deckungsgleichheit besteht. Die Finanzierungsbedürfnisse politischer Parteien, die Machtinteressen von Politikern und die Gewinnorientierung von Unternehmen sind in unheilvoller Weise zusammengewachsen. Insbesondere die Korruption hat sich zum verführerischsten und gefährlichsten Leitmotiv der Moderne entwickelt. Sie ermöglicht es gerade der OK auf Waffengewalt konventioneller Art zur Durchsetzung ihrer Absichten zu verzichten. Geld korrumpiert nicht nur. Es räumt jeden Weg geräuschlos frei. Damit schließt sich der Kreis: Jede Gesellschaft, innerhalb und außerhalb Europas, hat die OK, die sie verdient, weil sie an ihr und mit ihr verdient. OK und Korruption sind zu sicherheitspolitischen Problemen erster Ordnung geworden. Aus der Finanzkrise hat sich eine wirtschaftliche und aus dieser eine soziale Krise entwickelt. Die Globalisierung hat auf den Finanzmärkten eine kriminogene Kasinokultur entstehen lassen. Die Konsequenzen sind dramatisch. Dazu zählt die transnationale OK, die eine gesamtwirtschaftlich relevante Größe und eine globale Ausdehnung erreicht hat. Regierungen haben erlaubt, dass das System und seine wichtigsten Vertreter außer Kontrolle gerieten. Auch wenn man einige Unternehmen für zu korrupt gehalten hat, um erfolgreich zu sein, so hat man sie doch für so groß eingeschätzt, dass sie nicht scheitern können. Finanziers und Wirtschaftsführer haben ohne Regeln eine allgemeine Bereicherungsorgie veranstaltet. Banker, Fondsmanager und Vermögensverwalter haben ihre Dienstleistungen und ihre Seelen verkauft, um riesige Summen Geldes zu verdienen und es sich in die eigene Tasche zu stecken als das System kollabierte. Armeen von Rechnungsprüfern, Buchhaltern und Rechtsberatern haben sich legalen und illegalen Industrien wie Söldner zur Verfügung gestellt, um schmutzige Geschäfte zu verdecken bzw. ihnen den Anschein der Rechtmäßigkeit zu vermitteln. Ratingagenturen und Beratungsgesellschaften haben Unternehmen betrügerisches Verhalten gelehrt und ihnen anschließend Unbedenklichkeitstestate erteilt. „Offshore„ - Finanzzentren haben Geld jeder Herkunft akzeptiert und keine Fragen gestellt. In allem liegt der korrupte Kern der Finanzkrise, die für die OK geradezu ein Jungbrunnen ist. In der Koppelung mit mafiotisch organisierten und handelnden Unternehmen der Realwirtschaft entsteht so eine gesellschaftszerstörende Wucht. Sie wird sich weiter aufbauen und uns im schlimmsten Fall Verhältnisse bescheren, die wir seit langem für überwunden wähnten. Im Anfang war nicht das Wort. Alles begann mit Mord und Totschlag. Diese Art der „gesellschaftlichen Ausdifferenzierung„ ist nicht nur Geschichte. Sie dauert mit wechselnder Intensität an. Der Ursprung von Wirtschaftssystemen war Raub, Diebstahl und Erpressung, nicht Vertragsschlüsse nach Treu und Glauben. Mittlerweile hat sich anscheinend einiges geändert. Das zivile Recht moderiert den Austausch von Waren und Dienstleistungen. Es verhindert überwiegend die gewaltsame Durchsetzung der eigenen Absichten. Aus Überwältigung wird fairer Wettbewerb. Aus Völkermord, Sklaverei und krimineller Landnahme wird Kolonialismus. Aus Kolonialismus wird freier Welthandel. Aus dem Schlachtfeld wird der Gemeinsame Markt.
Heutzutage muss man Menschen nicht mehr vernichten, damit sie jeweiligen Interessen nicht im Wege stehen. Gewaltanwendung wird durch Verführung abgelöst. Zahlungsanweisungen machen Kriegserklärungen überflüssig. Im Medium des Geldes wandeln sich Gegensätze in Kooperation. Moralische Grundsätze werden im Verhältnis zur Höhe vermögenswerter Zuwendungen geschmeidig interpretiert. Machtfragen lassen sich einvernehmlich behandeln. Die Überzeugungskraft von Argumenten wird unerheblich. Selbst die „historische Gerechtigkeit„ von Staatsgründungen lässt sich durch Entnahmen aus Reptilienfonds befördern. Im politischen Alltagsgeschäft bietet sich ein breites Spektrum zur Emanzipation von wirtschaftlichem Sinn, fachlichem Verstand und demokratischer Kontrolle. Der Instrumentenkasten ist übervoll. Er enthält lukrative Posten, Gefälligkeiten, Gesetzesinitiativen, Subventionen und Versorgungszusagen. In einer Welt, in der materieller Wohlstand zum Lebenssinn geworden ist und zwischen Arbeit und Einkommen kein Zusammenhang mehr besteht, ist Korruption allgegenwärtig. Sie hat eine unverzichtbare Scharnierfunktion. Rechtstreue und Loyalität zählen nicht mehr zu den wichtigsten Funktionsprinzipien von Gesellschaften als Solidarverband. Solange aber die Beteiligten nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dass sie innerhalb einer korrumpierten Beziehung ihre Selbstachtung riskieren, bleiben alle Debatten über Korruptionsbekämpfung eine nutzlose Leidenschaft. Diese Hinweise bleiben natürlich folgenlos, wenn mangelnder Respekt für die eigene Würde zur Entwertung aller Beziehungen führt, die durch Arbeit und Solidarität geprägt sein sollten. Dennoch: Die korrumpierende Annahme von Geld ist und bleibt ein Angriff auf die Selbstachtung. Wer das nicht einsieht, ist durch Strafdrohungen selbstverständlich nicht zu beeindrucken. Brutale Gewalt wird unterdessen durch die „geometrische„ Ordnung des Geldes abgelöst. Genau darin steckt eine ganz besondere anarchische Kraft. Sie könnte dereinst ganze Staaten zum beschriebenen Beginn der Geschichte zurückschleudern. Das mag dann geschehen, wenn die Masse der Rechtsunterworfenen und arbeitenden Menschen verstanden hat, dass ihr Selbstwertgefühl und ihr sozialer Achtungs- und Sicherheitsanspruch sowohl durch gesellschaftsübliche Korrumpierung als auch durch Legalisierungsstrategien der OK missachtet werden.
Die gegenwärtige Lage der Weltwirtschaft provoziert mittlerweile Beschreibungen und Einordnungen, die nach Naturkatastrophen üblich sind. Insbesondere die Finanzkrise setzt man gerne mit einem Tsunami gleich: unvorhersehbar, unbeherrschbar und verheerend. Dabei sind die weltweit entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden nicht nur das Ergebnis von Fahrlässigkeit, sondern auch des vorsätzlichen Handelns einzelner Menschen und Organisationen. Die Finanzwelt, die Wirtschaft und die Politik haben am Aufbau eines Systems mitgewirkt, welches Risiken geschaffen hat, die in ihrem Umfang und in ihrem Schadenspotential in der neueren Wirtschaftsgeschichte ohne Beispiel sind. Diese Entwicklung fand unter den Augen von Behörden und politisch Verantwortlichen statt. Sie endete in einer Allianz von Versagern und Verbrechern. Ihre Wirkungskraft überschreitet alle denkbaren Möglichkeiten eines Mafia-Clans. Sie gefährdet das Gemeinwohl und die Stabilität von Regionen. Die Zerstörungskraft der in der Finanzindustrie entstandenen Strukturen ist offensichtlich. Unklar ist, wer für die eingetretenen Folgen verantwortlich ist und ob Einzelpersonen oder Unternehmen zivilrechtlich haftbar gemacht oder strafrechtlich belangt werden können. Die bisherigen Anstrengungen sind nicht ermutigend. Maßgebende Akteure in der Weltwirtschaft sind durch ethische und rechtliche Differenzierungen nicht ansprechbar. Sollte dies nicht zu ändern sein, könnte staatliche Rechtspflege durch gesellschaftliche Selbstverteidigung ersetzt werden. Damit sind „Aussichten auf den Bürgerkrieg„ (Enzensberger) eröffnet. Bis dahin haben wir aber hoffentlich noch genügend Zeit, um über den einen oder anderen anregenden Vorschlag nachzudenken. Das Mitglied des Deutschen Bundestages Peter Gauweiler, der für die Christlich-Soziale Union (CSU) den Wahlkreis München-Süd vertritt, hat jüngst einen Erlass gegen Extremisten und Radikale im Bankgewerbe gefordert. Die deutsche Verfassung garantiere den Schutz des Eigentums als „Verantwortungseigentum„. Genau dieses entschwinde seit Jahren durch Investmentbanking, Hedgefonds und die Blickverengung auf „Shareholder Value„. Durch wahnsinnige Spekulationen von Bankern sei so viel anvertrautes Eigentum in Deutschland zerstört worden wie nie zuvor. Menschen, die mit anderer Leute Geld umgehen, spielten Schicksal und ersetzten fehlenden Durchblick bei ihren Investments durch „Ratings„ und verschleierten ihre Unkenntnis durch Zweckgesellschaften. Sie bilanzierten heiße Luft – mit Bilanzwerten ohne marktmäßige Belege und berechneten nach solchen „Bilanzen„ ihre extremen Boni. Gauweiler glaubt, dass der amerikanische Präsident Obama dem Geschwätz von Finanzdienstleistern außerhalb der Realwirtschaft ein Ende gemacht hat. Dessen Vorschlag, den Kreditinstituten den nicht kundenbezogenen, eigennützigen Eigenhandel und Geschäfte mit Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften zu untersagen, sei völlig richtig. Ein Investmentbanking, welches das Eigentum seiner Kunden zerstückelt, verbrieft, verwettet und verspielt, hält Gauweiler für „organisierten Kundenverrat„.
(Gauweiler, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 4. Februar 2010, S. 2).

Man könnte es noch knapper sagen: Die Finanzindustrie, die Wirtschaft und die Politik sind teilweise eine Domäne der OK geworden. Durch die Kombination von Brecht und Gauweiler scheint sich ein Kreis zu schließen. Das wäre ein Befund, der überraschender kaum sein könnte. Er könnte sogar Mut machen, zeigt er doch, dass man aus sehr unterschiedlichen persönlichen und politischen Perspektiven zum gleichen Ergebnis kommen kann. Es wird auch Zeit. Die Zeichen stehen an der Wand, wie neuere Untersuchungen zeigen, in denen die Veränderungen in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einstellungen in der Bevölkerung wissenschaftlich untersucht werden
(Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 8„, 2010).
Vier von fünf Befragten sind mittlerweile der Auffassung, dass sie die sich aus der Finanzkrise ergebende Wirtschaftskrise selbst „ausbaden„ müssen. Der Gesamtumfang des Desasters wird aber erst dann sichtbar werden, wenn auch die zwangsläufige „Fiskalkrise„ durchschlägt, die bislang nur durch aberwitzige Staatsverschuldungen verzögert werden konnte. Entsprechende Ahnungen über das Bevorstehende haben nach dem Eindruck des Forscher Heitmeyer schon jetzt eine Spaltung der Gesellschaft bewirkt, die immer größer werde
(Heitmeyer, in: Der Spiegel Nr. 14 vom 3. April 2010, S. 70).
Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung erwarten nach den jüngsten Untersuchungen eine Zunahme von Armut und sozialem Abstieg. Die meisten gehen davon aus, dass sie ihren Lebensstandard nicht mehr halten können. Diese „Statusangst„ mache anfällig für die Abwertung anderer. Mehr als 80 Prozent sollen sogar „wütend„ über die finanziellen Folgen der Krise sein. Die Wut speist sich auch aus der (wahrgenommenen) Tatsache, dass die Politik nichts aus der Krise lernt. Regierungen haben offenbar nicht die Kraft, wirklich wirkungsvolle Regeln für den Finanzmarkt durchzusetzen. Angesichts eines mangelnden sichtbaren Wutausbruchs glaubt Heitmeyer, dass es kein Ventil gibt und spricht von einer „wutgetränkten Apathie in der Bevölkerung„, ein Umstand, der durch das Fehlen eines konkreten Objekts für diese Wut erklärt wird. Man habe sich aber schon auf die Suche nach „Sündenböcken„ begeben und erkläre diejenigen für schuldig an der Wirtschaftskrise, die den Sozialstaat gezielt ausnutzen. Besonders die Langzeitarbeitslosen geraten ins Visier und werden zum neuen „Feindbild„. Jede Gesellschaft stabilisiere sich durch die Abwertung von Randgruppen. Das Schicksal der Arbeitslosen erhöht bei den anderen die Anpassungsbereitschaft. Verlustängste bewirken wirtschaftlichen Fortschritt. Es entsteht „systemische Brutalität„. Der autoritäre Kapitalismus habe es geschafft, seine Verwertungskriterien ohne Widerstand der ganzen Gesellschaft überzustülpen. Unterdessen glaube die Mehrheit der Menschen, dass unsere „Kernnormen„ erodieren. Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness zählen nichts mehr. Die Folge ist gesellschaftliche Desintegration, für Heitmeyer der beunruhigendste Befund seiner jüngsten Untersuchungen. Viele Menschen seien von der Politik enttäuscht und wendeten sich ab. Sie merken, dass die Demokratie die Kontrolle gegenüber dem Kapital verliert, das seinerseits die Kontrolle übernimmt und gnadenlos ausübt. Die Mehrheit der Bevölkerung traut der Politik nicht mehr zu, dass sie die großen Probleme lösen kann. Eine tiefgreifende politische Resignation hat zu einer „Demokratie-Entleerung„ geführt. Das demokratische System befinde sich in den Anfängen eines unmerklichen Verrottungsprozesses. Es versteht sich von selbst, dass diese Entwicklung nicht mit strafrechtlichen Kategorien zu beschreiben ist. In jedem Fall kommt Strafverfolgung auch zu spät, wenn der schwerwiegendste Schaden eingetreten ist, den eine staatlich verfasste Gemeinschaft erleiden kann: Vertrauensverlust gegenüber den Eliten. Dieses Vertrauen wird möglicherweise dann wieder hergestellt werden können, wenn man Brecht und Gauweiler gemeinsam auf den Barrikaden sieht. Bis dahin wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Schade.