Besondere Verhaltensmuster von straffällig gewordenen Patienten

Eine Untersuchung im Hochsicherheitstrakt eines Maßregelvollzugs

Zusammenfassung

Das Forschungsprojekt mit Mehrfachtätern (Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Totschlag, Mord) beinhaltete neben der Hirnstromableitung (Ereigniskorrelierte Potentiale: N100: Maß der Orientierungsreaktion und Bildeinordnung bei der selektiven Aufmerksamkeit; N200: Indikator für Bildänderungen beziehungsweise Neuheit; P200: imfalle ein Bild aufgrund schwacher physikalischer Charakteristika intensiver betrachtet oder „durchmustert„ werden muß; P300: Bezug zu Aufmerksamkeit, unerwartete Ereignisse, große subjektive Bedeutung für die Person (bspw. Hören des eigenen Namens) u.a. die Erfassung des Blutdrucks, der Schwitzaktivität, der Frustrationstoleranz (Belastbarkeit in sozialen Konfliktsituationen), der Aggressivität („spontan„: phantasiert, verbal/körperlich, Unbeherrschtheit, Sadismus, „Sich-Stark-Fühlen„ in der Gruppe; „reaktiv„: entschiedenes Durchsetzungsstreben bei gleichzeitig stark ausgeprägter konformistischer Grundhaltung; „Erregbarkeit„: Affizierbarkeit, welche Zorn- und Wutausbrüchen vorausgeht, Affektsteuerungsfähigkeit und Frustrationstoleranz; „Selbstaggression„: Misstrauen gegenüber anderen, depressive Verstimmtheit, negative Einstellung zum Leben, Ressentiments; „Aggressionshemmung„: allgemeine Gehemmtheit in Zusammenhang mit einer verbesserten Impulssteuerung (Gegensatz zu spontaner Aggression), entweder Tendenz zu selbstquälerischer Gewissensaktivität bzw. (oder) Rücksichtslosigkeit im Sozialbereich), des Neurotizismus (ängstlich, bedrückt, zu Schuldgefühlen neigend, geringe Selbstachtung, angespannt, irrational, schüchtern, launisch und emotional) und Psychotizismus (aggressiv, kalt, egozentrisch, unpersönlich, impulsiv, antisozial, unempathisch, kreativ, verhärtet), sowie der Extraversion (gesellig, lebhaft, aktiv, assertiv, reizsuchend, sorglos, dominant, optimistisch, wagemutig).

Es wurden 21 männliche forensische Patienten getestet, um eine mögliche unterschiedliche Sensibilität bei dieser klinischen Stichprobe hinsichtlich emotionaler Fotos (Motivansichten von Opfern) im Unterschied zu einer Kontrollpopulation zu ergründen. Diese Bilder standen in einem direkten thematischen Bezug zu den real verübten Gewaltdelikten. Die klinische Stichprobe zeigte sich - entgegen vieler anderer Untersuchungen - als durchaus „zugänglich-sensibel„ für die gewaltbesetzten Bildmotive (Elektroenzephalogramm-Auswertung), allerdings „nur„ unterhalb der (bewußten) Wahrnehmungsschwelle (vor-bewußt, un-bewußt). Weiter reagierten die Patienten mit (tendenziell) kleinerer Schwitzaktivität, einem höheren Blutdruck und zeigten stärkere Ausprägungen an Aggressivität und Neurotizismus, sowie eine verminderte Toleranz gegenüber Frustration (Fragebogen) im Vergleich zu den gesunden Kontrollgruppenteilnehmern.

Historischer Abriß

Pinel (1809) beschrieb die Antisoziale Persönlichkeitsstörung als erster und hob die beeinträchtigte Affektivität und spontane Neigung zur Impulsivität hervor (Degenerationstheorie). Rush (1812) betonte das nicht vorhandene Moralempfinden, verbunden mit Verwahrlosung, mangelnder Rücksichtnahme und Aggressivität. Prichard (1835) vermutete einen organischen oder konstitutionellen Hintergrund. Die Ausarbeitungen von Koch (1893) über „Psychopathische Minderwertigkeit„ führten zur globalen Verwendung des Begriffes „Psychopathie„.
Schneider (1923) unterstrich jedoch die Notwendigkeit einer differenzierteren Betrachtung und unterschied die „Stimmungslabilen„ von den „Explosiblen„ und von den „Gemütlosen„. Partridge (1930) grenzte die Psychopathie von der Soziopathie ab, wobei er bei ersterer eine genetische Ursache vermutete. Cleckley (1941) sah in der „antisozialen Psychopathie„ eine maskierte Psychose, die zwar nicht manifest wird, jedoch die Persönlichkeit grundlegend verändert. Robins (1966) gelang es, Vorurteilen entgegenzuwirken, indem er für eine weniger voreingenommene Auseinandersetzung mit den persönlichkeitsspezifischen und psychosozialen Vorläufern einer „sociopathic personality„ im Erwachsenenalter eintrat. Diesem Forscher zufolge werden die Wurzeln für eine spätere manifeste Soziopathie bereits in der Schulzeit gelegt. Demnach stellt das Ausmaß antisozialer und aggressiver Verhaltensweisen in der Kindheit und Jugend den entscheidenden Prädiktor für eine spätere soziopathische Persönlichkeitsauffälligkeit dar. Viele Studien berichten von einem Mangel an Angsterleben (Lykken, 1957, 1984, 1995; Saß, 1988; Lilienfeld, 1994). Fallanalysen von Herpertz und Saß (1999) und Marneros (2002) lassen vermuten, dass sich diese Klientel wenig tolerant zeigt gegenüber empfundener Langeweile und demnach potentiell mehr nach neuer Stimulation suchen würden („sensation seeking„), als dies für die Normalbevölkerung der Fall sei. Ein weitgehend unsteter Lebenswandel bedinge zudem Stimmungsschwankungen und Somatisierungen. Des Weiteren läge eine manifeste Abhängigkeitsproblematik vor.

Ergebnis der vorliegenden Studie

Ausschließlich die klinische Stichprobe zeigte im Einklang mit einer Vielzahl anderer Studien vermindert amplitudige P300-Wellen insbesondere im frontalen Hirnbereich - der im Zusammenhang mit Planungskontrolle und Impulssteuerung diskutiert wird - im Unterschied zu den Versuchsteilnehmern der Normalpopulation. Zudem zogen die Gewaltbilder nicht nur bei den Gesunden, sondern ebenfalls bei den Patienten (!) eine intensive Verabeitung nach sich, wenn auch nur präattentiv (also vor-bewußt). Erwartungsgemäß zeigten die ASPS-Probanden gegenüber der Kontrollgruppe erhöhte Werte bei sämtlichen Aggressivitätsarten. Bezogen auf die Frustrationstoleranz ergeben sich deutlich verminderte Meßwerte. Dabei kristallisierte sich heraus, daß die Lösung einer Frustration stets an das Gegenüber delegiert wird. Die Patienten reagierten kaum in Richtung Autoaggressivität, erwiesen sich als weniger darin befähigt, einem Konflikt auszuweichen und wählten stattdessen eine aggressivere (Konfrontation, wenig konstruktive Auseinandersetzung) Reaktionsform. Frustrationen scheinen von Seiten der Psychopathen in einem höheren Ausmaß als Vorwurf erlebt zu werden. Zusammen mit der verminderten Frustrationstoleranz und den raptusartigen Impulsausbrüchen tendieren diese Menschen dementsprechend im Vergleich zur Normalpopulation zu einem aggressiveren Reaktionsstil. Rauchfleisch (1981; 1987; 1999) und Marneros (2002) sehen aggressive Verhaltensmuster in den frühkindlichen Erfahrungen stark mitdeterminiert und lassen als denkbar vermuten, dass diese Menschen es daher besonders fürchten, einer Situation passiv ausgeliefert zu sein (Angst vor Kontrollverlust).
Um der für sie unerträglichen Passivität zu entgehen, reagierten demnach die Personen mit ASPS mit einer Flucht nach vorne. Eysenck (1967; 1980; 1993) zufolge reagiert ein Soziopath in erhöhtem Maße in Richtung Extraversion, Neurotizismus sowie Psychotizismus. Dementsprechend war bei den getesteten ASPS-Probanden von einer stärkeren Ausprägung dieser Faktoren auszugehen. Deutlich erhöhte Scores bei der klinischen Stichprobe resultierten jedoch ausschließlich für den Faktor Neurotizismus. In Bezug auf Psychotizismus und Extraversion zeigten sich, entgegen der Vorannahme, (sogar) tendenziell erhöhte Werte bei den Kontrollprobanden. Gemäß Jurkovic und Prentice (1977) besitzt Neurotizismus von den drei Faktoren den geringsten Vorhersagewert in Bezug auf die Äußerung antisozialer Verhaltensweisen. Dennoch muss man das in der Untersuchung beobachtete Ergebnis nicht als ungewöhnlich ansehen. Laut Eysenck (zit. nach Hare, 1987) kann ein hoher Neurotizismus-Wert - neben der bereits vorhandenen neurotischen Prädisposition -, gleichermaßen durch eigene aktuelle biographische Erfahrungen (Festnahme, Inhaftierung) noch zusätzlich verstärkt werden.
Zudem ist anzunehmen, dass hier ein Selektionseffekt zum Tragen kam, da die Versuchsteilnehmer der klinischen Stichprobe ausschließlich aus dem MRV rekrutiert worden sind, was eine freiwillige Psychotherapie impliziert, die für die Gesamtheit der ASPS-Patienten nicht typisch sein dürfte, da diese gemeinhin keine Krankheitseinsicht (Herpertz, 2002) aufweisen. Ein weiterer Aspekt, der nach Eysenck (1967; 1980) gegen die Repräsentativität dieser Stichprobe sprechen könnte, bezieht sich auf den Umstand, dass diese Menschen inhaftiert wurden. Eysenck vermutet darin eine Selektion derer, die ihre Delikte ineffektiv geplant und ausgeführt haben und sich dadurch von der Gesamtheit abheben. Gegen dieses Postulat spricht jedoch, dass Personen mit ASPS per se impulsiv handeln und daher das Fehlen von guter Planung eher als ein zusätzliches Indiz für das manifeste Vorliegen dieser Störung zu werten ist. Entscheidend bleiben jedoch die geringen Psychotizismusscores, da diese als stärkste Prädiktoren (Eysenck und Eysenck, 1987) hinsichtlich antisozialen Verhaltens fungieren. Mit Bezug auf die Ergebnisse des EPQ in der vorliegenden Studie kann angeführt werden, dass Eysencks (1967; 1980) Postulate bislang auch in anderen Untersuchungen (Farrington et al. 1982; Perez, 1986) nicht gestützt werden konnten.
Eine weitere Problematik liegt in der heterogenen Ausgestaltung der von den ASPS-Probanden verübten Straftaten, wie dies auch bei der hier vorliegenden klinischen Stichprobe der Fall gewesen ist. Eysenck und Eysenck (1987) gehen davon aus, dass unterschiedliche Persönlichkeitstypen auch entsprechend persönlichkeitsspezifische Delikte begehen würden, und fordern daher äußerst homogener Probandengruppen. In der hier vorgestellten Studie wurde zwar anhand der Einträge im Vorstrafenregister eine Homogenität (gleiche Deliktart) sichergestellt; dies schließt jedoch nicht aus, dass gegebenenfalls noch zusätzliche Straftaten verübt worden sind, die (teilweise) nicht aktenkundig wurden, bzw. nicht zur Anzeige kamen.
Eine mögliche Erklärung für die in der vorliegenden Studie auf Seiten der ASPS-Patienten gefundene geringe Extraversionsausprägung liefern Heskin et al. (1977) mit ihrer Untersuchung. Die Forscher beobachteten bei Korrelationsanalysen, dass die Extraversion proportional zu der Dauer der Sicherungsverwahrung abnahm.

Fazit:

Wenn hirnphysiologisch „nur der Zugriff„ (ähnlich wie eine fehlerhafte Festplatte eines PC, die jedoch noch alle Informationen gespeichert hat) auf die Emotionalität (Sensibilität) bei diesen Patienten gestört (blockiert) ist, gibt es noch Hoffnungen in Bezug auf eine wirkungsvolle therapeutische Einflußnahme. Vor dem Hintergrund, daß sich die Anzahl der Patienten im Maßregelvollzug (MRV) in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren verfünffacht hat erscheint es sinnvoll, die Genese breitgefächert (mehrdimensional) zu beleuchten und neue Erkenntnisse zeitnah in den Therapieprozeß miteinzubinden. Schließlich wird die Rückfallquote bei Mord (und gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge) nach erfolgter Therapie im MRV mit 0 bis 0,3 -, andernfalls - also ohne Therapie-, mit 40 bis 70 % angegeben (beziffert).