Islamismus – Die Herausforderungen einer Weltanschauung

Das Gedankengebäude des Islamismus


Islamisten interpretieren die Welt im Kontext einer religiösen Weltanschauung, welche ihrerseits einen dauerhaften Kampf zwischen Gut und Böse unterstellt. Diese Vorstellung wird konsequent mit den entsprechenden Schlussfolgerungen in die politische Ideologie eingebunden. Gott als Schöpfer aller Menschen soll von allen Menschen verehrt werden. Seine Gesetze müssen befolgt werden, damit ein Zustand seelischer Befriedung erreicht werden kann. Nur dadurch kann der Mensch in der Wahrnehmung der Islamisten seinen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung wiedererlangen.12 Die Universalität des Islam und die damit verbundene Da`wa/ Ausweitung des Glauben sind damit, so Hassan al-Banna, eine Rettungsaktion für die Menschheit,13 denn der Islam sei die Religion aller, die Recht, Gerechtigkeit und Freiheit wollen.14
Daraus ergibt sich die Ablehnung nationalstaatlicher Grenzen, denn die einzige Grenze ist damit jene zwischen den Mu´minun/ Gläubigen und den Kafirun/ Ungläubigen. Dem universalistischen Anspruch und der Absolutheit der göttlichen Wahrheit wird durch die Islamisten darüber hinaus die Souveränität Gottes als einzig gültige entnommen. Die Hakimiya/ Herrschaft wird ausschließlich vom einzigen Souverän getragen, so dass das Prinzip der Hakimiyat Allah15/ Gottesherrschaft eine der wichtigsten Säulen der islamistischen Ordnung darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz verstanden, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Schari´a. Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der Moslem hat sich diesen unterzuordnen.16 Hier baut der Islamismus eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich im Bezug auf die Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird, das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jegliche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Qutb.17 Tatsächlich ist der extremistische Islamismus mit Demokratie nicht vereinbar.
Diese Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaftlicher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden.18 Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von vermeintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Die Weltanschauung des Islamismus vertritt eine dualistische Weltsicht, die die menschliche Geschichte als einen permanenten Kampf zwischen Gut und Böse interpretiert.

Der Djihad oder die Idee vom heiligen Kampf


Djihad leitet sich vom arabischen Wortstamm „Djahada“ ab, womit alle möglichen Aktivitäten gemeint sind, die infolge von Anstrengung, und Maximaleinsatz zustande kommen. Dagegen ist der Begriff Heiliger Krieg während der Synode in Clermont am 27. November l095 n. Chr., als Papst Urban II. die Christen mit den Worten „Gott will es“ zum Heiligen Krieg aufrief, geprägt worden.19 Die Verbindung von Djihad und Heiligem Krieg ist eine moderne Projektion eines christlichen Konzeptes auf den Islam, jedoch entspricht diese Projektion die tatsächlich Perzeption des Djihad-Konzeptes durch die Mehrheit der Islamisten. Beschäftigt man sich mit der Literatur über den Djihad, so wird man feststellen, dass unterschiedliche Positionen vertreten werden, die sich im Prinzip in zwei Kategorien unterteilen lassen:

  1. Djihad ist Krieg gegen Ungläubige, mit dem Ziel, sie zu bekehren oder, wenn dies nicht möglich ist, sie zu vernichten;
  2. Djihad hat mit Krieg nichts zu tun und bedeutet lediglich Anstrengung auf dem Pfad des Glaubens.

Der arabische Wortstamm Djahada wird im Quran an diversen Stellen gebraucht und drückt sehr oft unterschiedliche Sachverhalte bzw. Aufforderungen an die Muslime aus. Die Sure Al Furkan benutzt den Ausdruck Djihad als eine Form des Dialoges, dort heißt es, „gehorche nicht den Glaubensverweigerern und setze dich mit ihm (Quran) ein gegen sie mit großem Einsatz“ (Quran 25:52) Dieser Vers wird umrahmt durch die Verse: „hätten Wir es gewollt, hätten Wir wahrlich in jede Stadt (Siedlung) einen Warner geschickt“ (Quran 25:51) und „Wir haben dich nur als Bringer froher Botschaft und als Warner gesandt“ (Quran 25:56) Aus den zitierten Versen und aus ihrem Kontext wird deutlich, dass hier der Prophet Mohammad aufgefordert wird, durch Dialog und Debatte mit den Argumenten und den Wundern des Qurans, seine Widersacher zu überzeugen und er soll dies mit großem Einsatz versuchen, was tatsächlich mit dem Begriff Djihad formuliert wird.
An anderer Stelle des Qurans wird vom gläubigen Muslim erwartet, dass er mit seinem Besitz und seiner Person Djihad betreibt. So lautet der Vers (Quran 49:15) „Die Gläubigen sind nur diejenigen, die an Allah und seinen Gesandten glauben und dann nicht zweifeln, sondern mit ihrem Besitz und ihrer Person sich ganz einsetzen (Djihad betreiben) auf dem Wege Gottes. Das sind die wahrhaft Gläubigen“ Aus diesem Vers kann man den bewaffneten Kampf ableiten. Man könnte jedoch die Aussage „sich ganz einsetzen auf dem Wege Gottes“ als eine Aufforderung zur Mobilisierung aller menschlichen Kräfte, Besitz und körperlicher Anstrengung im „Kampf“ gegen Ungerechtigkeit, Armut usw. verstehen, denn „[T]he greatest Djihad is to speak the word of truth to a tyrant.“20 Trotzdem hat der Djihad-Begriff in seinem quranischen Kontext eine militärische Dimension. Obwohl die quranischen Texte im Wesentlichen eine Unterscheidung zwischen Qital also Kampf und Djihad, was wie schon beschrieben meistens in Form von Bemühung, im Sinne Gottes, die göttlich vorgeschriebenen Ziele zu erreichen, benutzt wird, machen, kann Djihad eine kriegerische Form einnehmen.21
Insgesamt ist zu bemerken, dass der Quran in allen zitierten Stellen, die zum Kampf auffordern, nicht den Begriff Djihad benutzt, sondern das arabische Wort Qital, was in der Tat Kampf bedeutet. Dass Qital auch Djihad sein kann, ist eine Interpretation der quranischen Verse im Kontext gesellschaftlicher und historischer Gegebenheiten. Turner stellt in diesem Zusammenhang fest: “jihad, as signifying the waging of war, is a post-Koranic usage.”22
Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Djihad als eine fard kifaya/ kollektive Verpflichtung, die sich von den fard ´ayn/ individuellen Verpflichtungen insofern unterscheidet, als dass die fard kifaya vom Kalifen/ Herrscher im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch wurde frühzeitig der Djihad zum Mittel der Politik.23
Die Auffassung über die Pflicht der Muslime, Mission auch mit Mitteln des bewaffneten Djihad durchzuführen, wurde durch die autoritative Universität Al Azhar in Kairo revidiert. Al Azhar betonte, dass Waffengewalt grundsätzlich nur zur Selbstverteidigung erlaubt sei, sodass die Da´wa/Missionierung nur gewaltlos erfolgen darf.24 Damit verbunden ist die Tatsache, dass der Quran nach jener Interpretation keinen Zwang im Glauben erlaubt.25 Jedoch wurde diese Revidierung durch den Islamismus nicht nur zurückgewiesen, vielmehr fand eine Verschärfung des Konzeptes statt, die den Djihad zu den Säulen des Islam erklärte.
Bereits nach der Invasion Napoleons in Ägypten setzte bei den Muslimen ein Nachdenken über die Ursachen für Ihre Unterlegenheit gegenüber dem Westen ein. Bestimmte, sich religiös definierende Kreise, gelangen zu der Erkenntnis, dass die Muslime den Islam verfälscht hätten und dies der Grund ihrer Unterlegenheit sei. Wenn die Muslime wieder erfolgreich sein wollten, wie ihre Vorfahren unter Mohammad und in der Frühzeit des Islam, mussten sie zu den Fundamenten des Islam, d.h. zum unverfälschten Islam, wie ihn Mohammad gelehrt hatte, zurückkehren. Wenn der Islam die einzig wahre Religion ist, muss auch das auf ihm basierende Ordnungssystem das einzig wahre und folglich den anderen möglichen Modellen weitaus überlegene sein. Entsprechend begann Hasan al-Banna 1928 diese Gedanken politisch umzusetzen und eine islamistische Ideologie zu propagieren, indem er die Bewegung der Muslimbrüder gründete und als politisches Ziel die Errichtung eines islamischen Staates verkündete.26 Dort sollte die Schari´a vollständig angewendet werden. In seiner Abhandlung über den Djihad zieht er den Quran und die Hadithe/ mündliche Überlieferungen des Propheten selektiv heran und gelangt zu dem Ergebnis, dass Djihad eine Pflicht für jeden Muslim darstellt.27 Dabei verwendet er Djihad und Qital synonym.
Hassan al-Banna erlebte die Einflussnahme der Briten in Ägypten sehr intensiv und empfand die Hinwendung Ägyptens zum Westen als Abweichung von den islamischen Lehren.28 Daher verstand er den Djihad als Widerstandsrecht gegen bestehende Regime bzw. Krieg gegen Ungläubige.29 Das neue Konzept des Djihads, also Djihadismus, wurde von führenden fundamentalistischen Ideologen dahingehend interpretiert, dass der Djihad ein Krieg gegen die Ungläubigen sei, der als Pflicht für jeden Muslim gilt und im Prinzip keine Beschränkungen, weder in der Wahl der Mittel noch der Ziele kennt. Dabei werden auch individuelle Morde, was die Orthodoxie verbietet, als eine legitime Form des Djihad verstanden.
Eine weitere Radikalisierung erfuhr die Muslimbruderschaft durch die Gedanken von Sayyid Qutb. Er hat das Konzept von Haus des Friedens und Haus des Krieges aus seinem historischen Kontext rausgerissen und neubelebt. Seine zentralste Idee war, dass es die Aufgabe des Menschen sei, stellvertretend für seinen Souverän zu regieren. Demnach war Djihad nicht nur ein Verteidigungskrieg zum Schutz des islamischen Machtgebiets Haus des Friedens, vielmehr ging es darum, den Zustand der Djahiliya zu bekämpfen und den Westen abzuwehren.30 Der Djihad wurde gegen die muslimischen Gesellschaften erklärt, die nach Meinung der Fundamentalisten in den Zustand der Djahilija zurückgefallen seien. Somit wurde die klassische Auffassung im 20. Jahrhunderts, insbesondere mit dem Erscheinen des Fundamentalismus neu interpretiert und wesentlich abgewandelt, so dass nun auch Formen deregulierter Kriegführung, wie etwa Terrorismus, religiös gerechtfertigt werden,31 mit dem erklärten Ziel, die alte islamische Ordnung, wie sie zu Zeiten des Propheten Mohammad Bestand hatte, wiederherzustellen und den Islam zu alter Größe zurückzuführen. Seine Vorstellung einer islamischen Ordnung, die auch unter den heutigen Islamisten verbreitet ist, fasste er unter dem Begriff al-nizam al-islami/ islamische Ordnung zusammen.32 Damit wird ein auf islamischen Grundsätzen basierendes Staatswesen verstanden, dessen wichtigstes Zeichen die Anwendung der Schari´a, also des islamischen Rechts ist, eine Forderung die nichts an Aktualität verloren hat.33
Ähnlich wie Hassan al-Banna argumentierten auch seine Nachfolger. Hier sind ideologisch gesehen zwei Personen maßgeblich für die Entstehung des heutigen Djihadismus verantwortlich. Zum einen der Pakistani Abulala al-Maududi und zum anderen der 1966 hingerichtete Ägypter Sayyid Qutb.34
Al-Maududi sowie Qutb setzten sich mit einer ähnlichen und aus ihrer Sichtweise sicherlich noch schlimmeren Lage der islamischen Welt ausein-ander. Die Implementierung des Nationalstaates als politische Organisations-form in den Ländern des Islam erbrachte keinerlei Verbesserung der Situa-tion nach dem Ende der Kolonial- bzw. Mandatsherrschaft. Im Gegenteil, es etablierten sich auf partielle Teile der Bevölkerung gestützte Regime, die nicht in der Lage waren, mit den Ansprüchen der Moderne Schritt zu halten und nicht einmal die innere Lage stabilisieren konnten, es sei denn mit repressiven Methoden. Schuld an dieser Entwicklung waren allerdings aus der islamistischen Sicht nicht nur die ungläubigen Regierungschefs, sondern auch der Westen, der durch die Errichtung von Nationalstaaten, eine fortgesetzte Einflussnahme und Schwächung der islamischen Welt erreichen wollte. Aus dieser Ansicht heraus entwickelte sich die neue und sehr radikale Auslegung des Djihad-Konzeptes. Djihad sollte zur Überwindung und Beseitigung bestehender Regime und gegen die Einflussnahme des Westens geführt werden, um den Islam zu alter Stärke zurückzuführen. Der Djihadismus ist heute die zentralste Handlungslogik des international agierenden Terrorismus islamischer Prägung. Die Islamisten erfüllen ihrer Meinung nach einen göttlichen Auftrag.