Migrantenkriminalität: Zum Stand der Dinge (Teil 1)

Von Prof. Dr. Bijan Nowrousian, Münster

1 Einleitung


Kriminalität von Tätern mit Migrationshintergrund – es dürfte wenige Themenfelder geben, die in Deutschland derart umstritten sind, politisch, medial wie wissenschaftlich.

 

Grund dafür ist zum einen, dass das Thema ein Politikum ersten Ranges darstellt – mit einer Vielzahl von verschiedenen Aspekten, Facetten und Bezügen. Sei es die Einwanderungs- und Integrationspolitik, sei es die Verfolgungspraxis der deutschen Strafjustiz, sei es die Frage nach der Nennung der Täterherkunft in den Medien: Immer spielt die Frage mit hinein, ob es ein echtes, vielleicht gar gravierendes Problem mit Migrantenkriminalität gibt oder ob es sich bei alledem nicht eigentlich eher um Vorurteile handelt, möglicherweise sogar um Rassismus. Zum anderen besteht der Grund dafür aber auch in derart weit voneinander divergierenden Ansichten zu diesem Themenkomplex, dass man sich manchmal fragen kann, ob überhaupt noch über dieselbe Wirklichkeit geredet wird: Auf der einen Seite die Überzeugung, es handele sich um ein Scheinproblem, bei dem zwei Phänomene (Zuwanderung und Kriminalität) „in irrationaler Weise miteinander verbunden“ würden,2 auf der anderen Seite Stimmen, die von einer ernsten, ja geradezu dramatischen Herausforderung sprechen. Hoch bedeutsam und hoch umstritten – so wohl lässt sich die Thematik mit ihren verschiedenen Sichtweisen auf den Punkt bringen. So oder so gilt dann aber: An einer Debatte der Frage kommt man nicht vorbei. Diese Bedeutung ist daher auch Grund genug für den Versuch, den Stand der Dinge zu bilanzieren. Und das ist hiesiges Ziel. Oberste Richtschnur hierbei ist die strikte Orientierung an Fakten. Präsentiert werden soll also der objektive Befund, wie er sich in der Gesamtschau der wissenschaftlichen Debatte ergibt.


Allerdings: „Alle Wissenschaftler sind Menschen.“3 Der Verfasser will daher gar nicht erst den Versuch unternehmen, so zu tun, als würde er quasi oberhalb politisch-weltanschaulicher Diskussionen in einer Sphäre der reinen Wissenschaft und der reinen Objektivität operieren. Denn auch, wenn Forschende zuweilen so tun als ob: Eine solche Sphäre existiert schlichtweg nicht. Es soll und muss zwar das Ziel jeder ernsthaften und an der Wahrheit interessierten Befassung sein, sich um Objektivität und Unvoreingenommenheit so gut wie nur irgend möglich zu bemühen, doch ganz frei von politischen Bezügen und von eigenen weltanschaulichen Ansichten kann sich kein Akteur machen – bei keinem Thema, aus keinem Lager und in keiner Profession. „Zu begründen, was sie vorweg begründet“4 – das ist in hohem Maße das, was Wissenschaftler oft alleine leisten und eben auch nur leisten können, unaufhebbar.


Völlig nutzlos ist Wissenschaftlichkeit bei alldem indes nicht. Das zu schlussfolgern wäre genauso falsch wie an die reine Sphäre der objektiven Erkenntnis zu glauben. Denn Überzeugungen und Standpunkte stehen zwar durchaus schon am Anfang der wissenschaftlichen Wahrheitssuche und nicht erst als deren Ergebnis am Ende. Aber, zumindest richtig betrieben, kann wissenschaftliche Wahrheitssuche dann doch mehr bieten als eine bloße Wiederholung des ohnehin schon Geglaubten – und damit zu neuen Erkenntnissen führen oder auch dazu, das schon Geglaubte besser zu fundieren. Und die Offenlegung der Leidenschaften, die einen bei der Wahrheitssuche leiten, ist dabei ein wichtiger Schritt, die Voreingenommenheit, die damit unvermeidbar verbunden ist, zu erkennen, zu reflektieren – und so zumindest zu minimieren.5


Der Verfasser will daher zunächst und ganz bewusst vor der Befassung mit dem Forschungsstand die verschiedenen Bezüge des Themas „Migrantenkriminalität“ zu politischen Debatten und damit die Bedeutung des Themas als Politikum skizzieren, und dabei auch und gerade seinen eigenen politischen Stand- und Startpunkt offenlegen. Sodann wird versucht, im besten Bemühen um Objektivität den Debatten- und Erkenntnisstand zum Thema zu bilanzieren. Zum Abschluss soll auf das Thema als Politikum erneut eingegangen werden, und zwar dann mit pointierten Thesen, die sich nun, hoffentlich, zumindest auch aus den Ergebnissen der Bilanzierung herleiten.


Schon jetzt lädt der Verfasser ein zur kontroversen Debatte. Denn die Wahrheit entsteht gerade aufgrund des je eigenen Blickwinkelns erst „im Diskurs unter Gegnern“6. Der Verfasser erbittet dabei aber auch bereits hier die gleiche Redlichkeit im Offenlegen der außerwissenschaftlichen Startpunkte und Bezüge und damit die gleiche Redlichkeit darin, objektive Richtigkeit stets und unbedingt anzustreben, nicht aber zu behaupten, man habe sie erreicht.

 

2 Migrantenkriminalität als Politikum I: Themen

 

2.1 Ausländerfeindlichkeit und Rassismus

Sollte es eine erhöhte Migrantenkriminalität gar nicht geben, so wäre zu fragen, ob ein Insistieren auf diesem Thema nicht selbst Ausdruck von Ressentiments, Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus sein könnte. In diese Richtung wird nicht nur im politischen Raum argumentiert. Namentlich Singelnstein hat den Vorwurf rassistischer Motive bei der Befassung mit einer seiner Meinung nach zumeist bloß angeblichen höheren Migrantenkriminalität auch im wissenschaftlichen Diskurs wiederholt geäußert.7 Umgekehrt müssten diejenigen, die in der Behauptung höherer Kriminalitätsraten bei Einwanderern lediglich Ressentiments und Rassismus erblicken, sich den Vorwurf gefallen lassen, notwendige Debatten sachwidrig verhindern und weltanschauliche Gegner mit Diffamierungen mundtot machen zu wollen, sofern das Problem tatsächlich existiert.

2.2 Einwanderungspolitik

Sollte es ein erhöhtes Maß an Kriminalität bei Migranten oder bestimmten Migrantengruppen tatsächlich geben, läge auf der Hand, dass dies auf Fehler in der Einwanderungspolitik hinwiese. Bei gelungener Einwanderung und Integration dürfte die Kriminalitätsbelastung von Migranten und deren Nachfahren nicht höher sein als die der Einheimischen, zumindest nicht höher als die der Einheimischen gleicher sozialer Schichtung. Eine höhere Kriminalitätsbelastung wiese daher auf Fehler in diesem Politikfeld hin, auch wenn sich die spezifischen Fehler aus einer solchen erhöhten Belastung noch nicht ohne Weiteres herleiten ließen. Ein differenzierterer Blick auf höher belastete Migrantengruppen könnte freilich Rückschlüsse auch auf Letzteres durchaus ermöglichen – etwa hinsichtlich der Herkunftsstreuung oder des Bildungsstands oder der kulturellen Prägung von Migrantengruppen, soweit diese Faktoren sich auch bei der Kriminalitätsbelastung als erhöhend erweisen sollten.

2.3 Justizpolitik

Zu diskutieren wäre im Falle einer erhöhten Kriminalitätsbelastung bei Migranten oder bestimmten Migrantengruppen auch die Justiz- und Kriminalpolitik. Denn es stünde zumindest als Frage im Raum, ob mit einer härteren Verfolgungs- und Sanktionierungspraxis das Problem zumindest hätte minimiert werden können – selbst wenn auch hier zunächst nur ein Zusammenhang naheliegen würde, konkrete Schlüsse auf verfehlte Verfolgungspraktiken aber nicht ohne Weiteres möglich wären. Ein Zusammenhang zwischen einer erhöhten Kriminalitätsbelastung von Migranten, so vorhanden, und der Justizpolitik bestünde aber allemal; und um solche generellen Zusammenhänge soll es in dieser Auflistung zunächst nur gehen.

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