Kleine Geschichte des Linksextremismus – 1983 bis 2023

Von Dr. Udo Baron, Hannover

 

4 Weiterstadt 1993 – Der letzte Anschlag der Roten Armee Fraktion (RAF)


Es ist die Endphase des Linksterrorismus in der Bundesrepublik wie ihn die Revolutionären Zellen (RZ), die Bewegung 2. Juni und die Rote Armee Fraktion (RAF) verkörperten, als am 27. März 1993 frühmorgens ein Sprengsatz die noch im Bau befindliche Justizvollzugsanstalt Weiterstadt erschütterte. Drei Unterkunftsgebäude und der Verwaltungstrakt wurden zerstört, der Rest der Anlage mehr oder weniger schwer beschädigt. Auf 80 bis 90 Millionen DM wurde der Schaden geschätzt. Drei Tage später bekannte sich ein Kommando Katharina Hammerschmidt – benannt nach einem verstorbenen Mitglied der RAF – zu der Tat. Laut der am Tatort aufgefundenen DNA-Spuren handelte es sich bei den Tätern um die bist heute flüchtigen RAF-Terroristen der dritten Generation Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Es sollte der letzte Terroranschlag der RAF sein. Am 20. April 1998 gab die Terrororganisation ihre Selbstauflösung bekannt. Zu Ende gingen damit fast dreißig Jahre voller Gewalt, die insgesamt 34 Menschenleben forderten. Ihre Akteure mussten sich eingestehen, dass sie mit ihrem Versuch, den demokratischen Rechtsstaat gewaltsam zu erschüttern, die Massen nicht mitreißen konnten und letztlich völlig isoliert waren.


Doch die RAF verschwand nicht gänzlich von der Bildfläche. In Gestalt von Staub, Klette und Garweg startete sie, wenn auch nicht mehr unter dem Label RAF, ein gutes Jahr nach ihrer Auflösungserklärung eine beispiellose Raubserie. So überfielen sie am 30. Juli 1999 einen Geldtransporter in Duisburg-Rheinhausen und erbeuteten dabei 1 Million DM. Wie schon in Weiterstadt, so hinterließen sie auch bei dieser Tat DNA-Spuren, die sie als Tatverdächtige ausweisen. Auf den ersten Überfall folgten bis Mai 2016 höchstwahrscheinlich noch 11 weitere Raubüberfälle, für die die Ermittler das RAF-Trio verantwortlich machen.


Aber wer oder was war die dritte Generation der RAF? Um diese Frage zu beantworten hilft es, einen Blick auf das Drei-Generationen-Schema zur historischen und strukturellen Einordnung der RAF zu werfen: um die verschiedenen Phasen terroristischer Aktivitäten der RAF anschaulicher zu machen, teilt die Forschung ihre Geschichte in drei Generationen ein, deren Übergänge weitgehend fließend sind.


Offiziell beginnt die Geschichte der RAF mit der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders am 14. Mai 1970 aus dem Institut für Soziale Fragen in Berlin durch die Konkret-Journalistin Ulrike Meinhof. Neben den beiden gehörten noch Gudrun Ensslin sowie Jan Carl Raspe, Holger Meins und der Rechtsanwalt Horst Mahler zu den Führungskadern der ersten Generation der RAF. Sie bildeten zu diesem Zeitpunkt ihre mittlerweile im Untergrund lebende Kommandoebene und entschieden alleine über Anschläge und Attentate. In Zuge der sog. Mai-Offensive 1972 mit Sprengstoffanschlägen u.a. auf das Axel-Springer-Verlagsgebäude in West-Berlin und auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Heidelberg, gelang es schließlich der Polizei bis Ende 1974 19 RAF-Mitglieder, darunter Baader, Ensslin, Meinhof, Mahler, Meins und Raspe, festzunehmen und damit das Ende der ersten Generation der RAF einzuläuten.


Die zweite Generation der RAF organisierte sich um Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Sie trat mit der Botschaftsbesetzung in Stockholm am 24. April 1975 auf den Plan und endete mit der Verhaftung ihrer Kommandoebene um Klar, Mohnhaupt, Adelheid Schulz und Helmut Pohl Ende 1984. Die Befreiung der inhaftierten RAF-Mitglieder, die sog. Big Raushole wie sie es nannten, war für die zweite Generation der RAF zwischen 1972 und 1977 ihr alles andere überragende Ziel. Diese Phase war geprägt von einer zunehmend brutaler und rücksichtsloser agierenden RAF für die vor allem die Offensive '77 als zentrale Wegmarke des bundesrepublikanischen Linksterrorismus steht. Dieser sog. Deutsche Herbst begann bereits im Frühjahr und zwar am 7. April 1977 mit dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Er setzte sich am 30. Juli mit der Ermordung des Vorstandssprechers der Dresdner Bank Jürgen Ponto fort und mündete zum einen am 5. September 1977 in die Entführung es Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und zum anderen in die Ermordung seines Fahrers und seiner drei Personenschützer. Es folgte am 13. Oktober 1977 die Entführung der Lufthansamaschine Landshut mit 87 Passagieren an Bord durch palästinensische Terroristen. Als die Bundesregierung nicht auf ihre Forderungen nach Freilassung der inhaftierten RAF-Kader einging und stattdessen am 18. Oktober die Lufthansamaschine durch die GSG 9 erstürmen ließ, begingen Baader, Ensslin und Raspe in der JVA Stuttgart-Stammheim umgehend Selbstmord. Noch am selben Tag erschossen daraufhin seine Entführer Hanns Martin Schleyer.


Anders als die zweite Generation fokussierte sich die dritte Generation der RAF nicht mehr auf die Freipressung inhaftierter Mitglieder sondern auf präzise geplante Angriffe gegen den Staat. Zugleich versuchten sie sich international noch intensiver zu vernetzen. Dabei setzten sie auf eine enge Kooperation vor allem mit der französischen Terrororganisation Action Directe (AD). Ihr Ziel war es, den bewaffneten Kampf zu internationalisieren und die Kräfte in den Metropolen in einer Front zu konzentrieren. Ihren Ausdruck fand diese verstärkte Zusammenarbeit in der Offensive `85/`86 mit der Ermordung des französischen Generals René Audran am 25. Januar 1985 und des Managers der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, am 1. Februar 1985. Auf diese Taten folgte am 8. August 1985 der Sprengstoffanschlag auf die Rhein-Main-Airbase in Frankfurt am Main, bei der drei Menschen getötet und 26 teilweise schwer verletzt wurden sowie die tödlichen Anschläge u.a. auf den Siemens-Manager Karl-Heinz Beckurts, den Diplomaten im Auswärtigen Amt Gerold von Braunmühl und am 30. November 1989 auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG Alfred Herrhausen. Mit der Ermordung des Chefs der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder endete 1992 die gezielte Gewalt der RAF gegen Menschen.


Mit den Überfällen des flüchtigen RAF-Trios und der Suche nach ihnen hat die Vergangenheit des deutschen Linksterrorismus wieder ein stückweit Einzug in die Gegenwart gehalten. Wie die RAF zu ihrer aktiven Zeit mit diversen Banküberfällen, so versuchen auch ihre verbliebenen Relikte durch Beschaffungskriminalität ihren Lebensunterhalt (und mögliche weitere Aktionen?) zu finanzieren. Allein die drei Buchstaben RAF elektrisieren die Öffentlichkeit nach wie vor und garantieren gesellschaftliche und mediale Aufmerksamkeit. Zu prägend war die Gewaltbereitschaft der RAF in ihrer aktiven Zeit, zu prägend ihre Verbrechen, als das sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft so schnell verlieren könnte. Zudem harrt diese Phase der bundesrepublikanischen Geschichte weiter ihrer Aufarbeitung. Viel zu viele Fragen sind noch offen und warten auf Antworten: Wer gehörte bspw. zur dritten Generation der RAF? Wie war sie strukturiert? Wer waren ihre Führungskader? Wer von ihnen war für die zehn Morde, die der dritten RAF-Generation zugeschrieben werden, verantwortlich? Fragen, auf die Garweg, Staub und Klette Antworten geben könnten, wenn man ihrer habhaft würde und sie ihr Schweigeversprechen aufheben und aussagen würden. Eine Festnahme der drei Flüchtigen könnte somit nicht nur zur Aufklärung einer beispiellosen Raubserie beitragen, sondern auch Licht ins Dunkel eines noch weitgehend unaufgearbeiteten Stückes bundesrepublikanischer Geschichte bringen.

 

5 Ausblick


Eine Reise durch den Linksextremismus und Linksterrorismus der letzten vierzig Jahre offenbart unübersehbare Brüche im linksextremistischen Selbstverständnis, die vor allem in der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 und in der Implosion der Länder des real existierenden Sozialismus ihren Ursprung haben. Der dogmatische Linksextremismus wie ihn die DKP verkörpert, hat zwar diese aus ihrer Sicht als Konterrevolution diffamierte Zeitenwende existenziell überlebt, aber sich bis heute nicht davon erholt. Nicht viel anders erging es dem Linksterrorismus, der schließlich Anfang 1998 seine Aktivitäten einstellte. Ihr Niedergang ging einher mit dem Aufstieg der Autonomen, die sich in Abgrenzung zum Marxismus-Leninismus bewusst undogmatisch, struktur- und hierarchiefeindlich geben. Ihre Kritik an dem am Anarchismus angelehnten autonomen Selbstverständnis wiederum ermöglichte erst den Aufstieg der Postautonomen. Mit ihrem Versuch der Entgrenzung in die Mitte der Gesellschaft wollen sie von den Erfolgen vor allem sozialer Bewegungen wie der Klimaschutzbewegung profitieren, diese für ihre Interessen instrumentalisieren und langfristig radikalisieren. Der postautonome Weg wird zwar von vielen Autonomen kritisch gesehen, da er ihrer struktur- und hierarchiefeindlichen Grundeinstellung widerspricht. Dennoch sind die Postautonomen auch für den „klassischen“ Autonomen als Organisator kaum zu ersetzen.


Die linksextremistische Szene ist aber auch weiterhin nicht statisch, sondern immer im Fluss. So verändern sich nicht nur die bekannten Ausprägungen des Linksextremismus, sondern es kommen auch immer wieder neue hinzu wie in jüngster Zeit die sog. Identitätslinken. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Konzept einer Politik, die sich einseitig auf Identitäten wie Ethnie, Religion oder Gender fixiert und deren Interessen mit aller Vehemenz vertritt. Es rückt nicht mehr primär die soziale, sondern die kulturelle Zugehörigkeit zu speziellen Gruppen in den Fokus. Diese hochgradig intolerante Strömung der extremen Linken mit Auswirkungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft brandmarkt politisch missliebige Gruppen, Personen und Positionen und verweigert sich dem vernunftgeleiteten kritischen Diskurs. Linksidentitäre versuchen durch eine ideologisch ausgerichtete Sprachzensur mit jakobinischem Eifer geistige Verbotszonen zu errichten und bedrohen so die in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung formulierten grundlegenden Werte wie Menschenrechte, Meinungs-, Presse-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit. Die von dieser Bewegung ausgehende Diskriminierung und Stigmatisierung von Mehrheiten durch Minderheiten verstößt gegen die Würde des Einzelnen und somit gegen grundlegende Menschenrechte bzw. grundgesetzlich geschützte Bürgerrechte. Eine Entwicklung, die aus den USA, Großbritannien und Frankreich kommend, mittlerweile auch in der Bundesrepublik angekommen ist.


Vor allem vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat sich die linksextremistische Szene aber auch auf anderen Gebieten weiter verändert. Veranstaltungen, insbesondere Demonstrationen, fanden in dieser Zeit kaum mehr statt. Die Autonomen Zentren waren weitgehend geschossen, so dass Linksextremisten ihre politischen Aktivitäten in erster Linie in den virtuellen Raum verlegten und sich zumeist nur als Einzelpersonen an den realweltlichen Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen beteiligten. Wie Mehltau legte sich die Corona-Pandemie auf die linksextremistische Szene. Zugleich befand sich die linksextremistische Szene während dieser Phase in einem kaum auflösbaren Dilemma. Obwohl sie den demokratischen Rechtsstaat, seine Institutionen und Repräsentanten kategorisch ablehnt, hielt sie sich aus Sorge vor einer Infektion an die staatlichen Vorgaben zum Schutz vor der Pandemie. Sie forderte sogar explizit zu deren Einhaltung auf. Damit gehörten Linksextremisten in dieser globalen Ausnahmesituation ungewollt zu den Unterstützern des ihnen verhassten Staates. Dieser Widerspruch dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass Linksextremisten wenig Interesse an einer Teilnahme an den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen gezeigt haben. Vielmehr haben sie nur sporadisch zu Protestaktionen, z.B. gegen die zeitweise verfügte nächtliche Ausgangssperre oder zur Freigabe der Patente für die Corona-Impfstoffe aufgerufen.


Generell scheint sich das Protestgeschehen seit Corona von Demonstrationen weg und hin zu klandestinen, äußerst gewalttätigen Aktionen verlagert zu haben. Bestes Beispiel dafür ist die sog. Eisenacher Gruppe um Lina E. Ihre Mitglieder werden beschuldigt, 13 Rechtsextremisten schwerste Verletzungen zugefügt zu haben. Auch die vier Übergriffe deutscher Linksextremisten vom Februar 2023 in Budapest auf Personen, die sie für Rechtsextremisten hielten, unterstreicht diese Annahme.


Zweifelsohne stellt der Rechtsextremismus zurzeit die größte Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat dar. Das bedeutet aber wiederum nicht, dass von anderen Phänomenbereichen wie dem Linksextremismus keine Gefahren mehr ausgehen. Die letzten vierzig Jahre haben gezeigt, dass der Linksextremismus in seinen verschiedenen Spielarten vor allem aufgrund seiner Intoleranz und seiner Aggressivität eine fortwährende Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat und eine freie und offene Gesellschaft darstellt. Die Sicherheitsbehörden müssen ihn als auch alle anderen politischen und religiösen Extrema im Auge behalten, um auch künftige Bedrohungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung frühzeitig zu erkennen und um zeitnah und entschlossen auf sie reagieren zu können.

 

Anmerkungen

 

  1. Dr. Udo Baron ist seit 2008 als Referent für den Bereich Linksextremismus und seit 2021 auch für den Bereich Extremismus mit Auslandsbezug im niedersächsischen Verfassungsschutz zuständig.
  2. Zur näheren Erläuterung: Mit „politischen Auffassungen“ sind die Ideologien des Marxismus und des Anarchismus in all ihren Varianten gemeint. Unter „Bestrebungen“ versteht man Einzelpersonen und Gruppierungen, die entsprechende Weltbilder haben. Die „Normen“ des demokratischen Verfassungsstaates sind die in der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung festgelegten unantastbaren Grundwerte wie z.B. die Menschenrechte, die Gewaltenteilung oder das Mehrparteienprinzip. Zu den „Regeln“ gehört z.B. das staatliche Gewaltmonopol. Unter der Bezeichnung „egalitäre Gesellschaft“ streben Linksextremisten eine Gesellschaft der radikalen Gleichheit aller Menschen an. Auch wenn dieser Begriff erst einmal positiv besetzt ist, so würde dessen Umsetzung zur Folge haben, dass der Einzelne zu Gunsten des Kollektivs in den Hintergrund treten müsste und uniform würde, was mit der im Grundgesetz festgeschriebenen unantastbaren Würde des Menschen unvereinbar ist.
  3. Als Spontis bezeichnet man linksradikale Gruppen, die sich in der Nachfolge der Außerparlamentarischen Opposition (APO) sahen. Spontis hielten die „Spontaneität der Massen“ für das revolutionäre Element der Geschichte. Im Gegensatz zu Marxisten-Leninisten, die glaubten, für die Revolution sei eine Avantgarde-Partei vonnöten, die die Führung in eine bessere Zukunft übernehmen müsse, waren die Spontis eher „antiautoritär“ ausgerichtet. Nicht Theorieschulungen und Parteiaufbau standen für sie im Vordergrund ihrer Aktivitäten, sondern „spontane“, nichtsdestoweniger abgesprochene Aktionen in der Öffentlichkeit.
  4. Zwischen 1998 und 2014 bildete Russland gemeinsam mit den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Japan die G8-Staaten. In Reaktion auf die russische Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel im Jahre 2014 wurde Russland ausgeschlossen.

 

 


 

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