Entscheidung des BVerfG vom 9.12.2022 zum SOG MV
Neue Leitplanken für die Polizeigesetze
4 Heimliches Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung
§ 33c Abs. 5 SOG MV lässt das verdeckte Durchsuchen von Sachen sowie das verdeckte Betreten und Durchsuchen von Räumlichkeiten der betroffenen Personen zu, soweit dies zur Durchführung von Maßnahmen nach Abs. 1 (Online-Durchsuchung) und Abs. 4 (Einsatz von technischen Mitteln zur Identifikation und Lokalisation von informationstechnischen Systemen wie z.B. sog. WLAN-Catcher) erforderlich ist. Durch Verweisung in § 33d Abs. 3 SOG MV gilt § 33c Abs. 3 und 5 SOG MV für Maßnahmen zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung entsprechend.
Das BVerfG stellt in seinem Beschluss dar, dass die konkrete Ausgestaltung der Norm nicht vollständig den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG genügt. Art. 13 Abs. 1 GG gewährt ein Abwehrrecht zum Schutz der räumlichen Privatsphäre und soll Störungen vom privaten Leben fernhalten.28 Das Wohnungsgrundrecht ist zweifelsohne betroffen, auch wenn die Maßnahme primär dem Zugriff auf das informationstechnische System dient, welches überwacht werden soll.29 Der Senat weist allerdings darauf hin, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung einen engen Bezug zur Menschenwürde hat und die Heimlichkeit der Maßnahme den Grundrechtseingriff noch verstärkt. Der Senat prüft im Weiteren umfassend die Anwendbarkeit der Schrankensystematik des Art. 13 GG. Hierbei wird herausgestellt, dass die Grundrechtsschranke aus Art. 13 Abs. 2 GG für die Durchsuchung der Wohnung keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für heimliche Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht darstellen kann. Zwar enthält Art. 13 Abs. 2 GG einen Richtervorbehalt, die Regelung rechtfertigt jedoch nach systematischer und historischer Auslegung nur offene Durchsuchungen.
Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für heimliche Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht enthalten Art. 13 Abs. 3 und Abs. 4 GG. Sie lassen gesetzliche Regelungen zur repressiven und präventiven Wohnraumüberwachung zu. Zwar ist anerkannt, dass die Wohnung zur Vorbereitung einer Wohnraumüberwachung auch heimlich betreten werden darf30, daraus lässt sich allerdings nicht ableiten, dass hierauf auch andere heimliche Maßnahmen wie das Betreten und Durchsuchen zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder Quellen-Telekommunikationsüberwachung gestützt werden können. Insofern lehnt der Senat eine Anwendung der Schrankensystematik des Art. 13 Abs. 3 und 4 GG in diesen Fällen ab.
Eine tragfähige Grundrechtsschranke könnte sich jedoch aus Art. 13 Abs. 7 GG ergeben, die gefahrenabwehrrechtlich ausgerichtet ist und entgegen der Grundrechtsschranke aus Art. 13 Abs. 2 GG abgestufte materielle Eingriffsvoraussetzungen vorsieht. Der Senat bewertet die ersten beiden Alternativen, die eine gemeine bzw. eine Lebensgefahr fordern, als ausreichende Grundlage für eine Regelung zum heimlichen Betreten und Dursuchen einer Wohnung. Die dritte Alternative, die Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht zur Verhütung einer dringenden Gefahr und damit bereits vor dem Eintritt einer konkreten Gefahr zulässt, muss allerdings, soweit darauf heimliche Eingriffe in Wohnungen gestützt werden sollen, nach Bewertung des Senates aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und der Schrankensystematik des Art. 13 GG eng ausgelegt werden. Für das heimliche Wohnungsbetretungsrecht genüge allerdings das Vorliegen einer konkretisierten Gefahr, da der Grundrechtseingriff hinter schwereren Eingriffen, wie die Wohnraumüberwachung, zurückbleibt.31 An diese Bewertung schließt sich die Forderung nach einem Richtervorbehalt für das heimliche Betreten und Durchsuchen einer Wohnung an. Zwar fordert Art. 13 Abs. 7 GG keinen Richtervorbehalt, allerdings dürfen die Voraussetzungen für eine heimliche Maßnahme nicht hinter denen für eine offene Wohnungsdurchsuchung nach Art. 13 Abs. 2 GG zurückbleiben. Nach Auffassung des Senates fordert bereits die Verhältnismäßigkeit einen Richtervorbehalt, weil bei schwerwiegenden heimlichen Maßnahmen eine vorbeugende Kontrolle durch eine unabhängige Instanz verfassungsrechtlich geboten ist.32 Einen solchen Richtervorbehalt enthält § 33c Abs. 6 SOG MV, so dass die Norm in dieser Hinsicht der verfassungskonformen Auslegung standhält.33
Der Senat rügt allerdings, dass § 33c Abs. 5 SOG MV nicht hinreichend deutlich macht, dass die Voraussetzungen der Online-Durchsuchung nach § 33c Abs. 1 SOG MV bereits für das im Einzelfall erforderliche Betreten und Durchsuchen im Vorfeld der eigentlichen Maßnahme vorliegen müssen. Tatsächlich fehlt diese ausdrückliche Verknüpfung zu den Tatbestandsmerkmalen des Grundtatbestandes aus § 33 Abs. 1 SOG MV, denn nach dem Wortlaut des § 33 Abs. 5 SOG MV muss das Betreten und Durchsuchen nur erforderlich sein. Auch wenn sich die Verbindung zwischen § 33c Abs. 1 und Abs. 5 SOG MV möglicherweise hineinlesen lässt, weist der Senat zu Recht darauf hin, dass der Gesetzgeber eine solche Verknüpfung für den vorbereitenden Einsatz technischer Mittel nach § 33 Abs. 4 SOG MV aufgenommen hat, so dass die Systematik der Norm eher darauf schließen lässt, dass der Grundtatbestand im Einzelfall nicht vorliegen muss. Da gerade heimliche Maßnahmen besonders strenge Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz stellen, bewertet der Senat die Regelung in dieser Form als verfassungswidrig.
5 Gesetzgebungskompetenz für vorbeugende Bekämpfung von Straftaten
Der Senat rügt die Befugnis zur Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung sowohl hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten als auch in Bezug auf die materielle Reglung in § 35 Abs. 1 Satz 1 SOG MV.
Das BVerfG stellte bereits in seiner Entscheidung zur präventiven TKÜ in Niedersachsen34 fest, dass die Länder nicht befugt sind, „die Polizei zur Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten zu ermächtigen“. Landesregelungen müssen sich daher auf die Gefahrenabwehr und auf die Verhütung von Straftaten beschränken.35 Der Senat stellt in seinem Beschluss fest, dass dem Landesgesetzgeber für § 35 Abs. 1 Satz 1 SOG MV die Gesetzgebungskompetenz fehlt, soweit die Alternative 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG MV auch die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten umfasst, denn diese gehört zum gerichtlichen Verfahren und damit in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Das BVerfG geht davon aus, dass der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz mit der Einführung des § 163e StPO (Ausschreibung zur Beobachtung bei polizeilichen Kontrollen) abschließend Gebrauch gemacht hat.36 Darüber hinaus enthält die Norm keine ausreichende Eingriffsschwelle, so dass die Regelung bereits aus diesem Grund verfassungswidrig ist.
6 Zum Abschluss
Mit dem Beschluss vom 9.12.2022 zum SOG MV hat der Erste Senat das BVerfG seine Rechtsprechung zur Ausgestaltung der Gefahrenabwehrgesetze in Bund und Ländern weiter konkretisiert und fortentwickelt. So wurde die mit der Entscheidung zum BKA-Gesetz37 entwickelte konkretisierte Gefahr näher beschrieben. Der Senat macht deutlich, dass im Zusammenhang mit verdeckten Datenerhebungen eine konkretisierte Gefahr nur dann ausreichend ist, wenn mit der Verwirklichung der zu verhütenden Straftat auch das durch die Norm geschützte, hinreichend gewichtige Rechtsgut verletzt wird. Die Verhütung von Vorfeldstraftaten reicht in der Regel nicht aus. Hiervon sind einige Gesetzgeber allerdings ausgegangen, als sie die entsprechenden Passagen der damaligen Entscheidung wortgetreu in ihren Gesetzen übernommen haben. Konkretisiert wurden auch die Auslegung zum Kernbereich privater Lebensgestaltung bei Einsätzen von Vertrauenspersonen und Verdeckten Ermittlern sowie die verfassungskonforme Interpretation der Grundrechtsschranke aus Art. 13 Abs. 7 GG.
Die in dem Beschluss enthaltenen Auslegungshinweise sind ausdrücklich zu begrüßen, legen sie doch die äußeren Grenzen dessen fest, was die Gesetzgeber in Bund und Ländern bei der Überarbeitung ihrer Polizeigesetze regeln dürfen. Nicht zuletzt nach dem Scheitern der Bemühungen um einen Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz sind die Gefahrenabwehrgesetze im Bund und in den Ländern sehr uneinheitlich, lückenhaft und kaum geeignet, ein einheitliches Sicherheitsniveau in Deutschland zu gewährleisten. Nicht nur der Landesgesetzgeber in Mecklenburg-Vorpommern steht vor einer weiteren Überarbeitung seines Polizeigesetzes, auch die übrigen Länder und der Bund sind durch diese Entscheidung aufgefordert, die eigenen Regelungen zu überarbeiten.
Die sicherheitspolitische Diskussion beim Bund und in den Ländern muss regionale Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen in der zunehmend digitalen Welt ebenso einbeziehen wie neue Kriminalitätsformen und die Bedrohung unserer Freiheitswerte beispielsweise durch den islamistischen Terrorismus. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist unter Berücksichtigung dieser und weiterer Aspekte fein auszutarieren, um einerseits die freiheitlichen Grundwerte nicht zu stark einzuschränken und andererseits den Sicherheitsbehörden diejenigen Instrumente an die Hand zu geben, um eben diese Freiheitswerte zu verteidigen.38
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