Vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch den Einsatz von automatischen Kennzeichenlesesystemen



6 Fazit


Trotz der Tatsache, dass zwischen BVerfG und BVerwG in Hinblick auf das technische Verfahren bei der elektronischen Kennzeichenerfassung einschließlich deren rechtlichen Bewertung Einigkeit besteht, sind dennoch gewisse rechtliche Bedenken nicht unbegründet. Nach der so genannten Eingriffstheorie stellt jeder Umgang mit personenbezogenen Daten eine Beeinträchtigung, also einen Eingriff in das RiS, dar.108 Die Theorie löst sich dabei völlig vom Inhalt der gewonnenen Daten und schließt auch die unerheblichste Information (!) mit ein.109 Die so genannte Eingriffstheorie bzw. Lehre vom Informationseingriff geht davon aus, dass jede Maßnahme der Informationsgewinnung bzw. Datenerhebung und weiteren Datenverarbeitung einen Eingriff in Freiheitsrechte des Einzelnen darstellt, unabhängig davon, ob ein weiterer Akt mit eingriffsrechtlicher Qualität vorliegt oder nicht. Auch die Frage, ob ein Polizeibeamter die Daten erhoben und sodann ins System zum Datenabgleich bzw. zu Datenabfragen eingegeben hat, spielt für den Eingriff als solchen – schon beim Erheben – keine Rolle. Im Gegenteil: je automatisierter, d.h. organisierter das Verfahren ist, desto intensiver ist der Grundrechtseingriff in das RiS. Unter den Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung kann es kein belangloses Datum mehr geben. Selbst in Zeiten größter terroristischer Bedrohung hat das BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit einzelner Ermittlungsbefugnisse des BKA im BKAG zur Terrorismusbekämpfung hingewiesen.110 Abzuleiten ist daraus u.a. ein neuer personenbezogener Gefahrbegriff von Ermächtigungen im Vorfeld der Entstehung konkreter Gefahren.111
Höchst interessant ist jedoch die Meinung von Bull, ehemaliger Universitätsprofessor der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg, erster Bundesbeauftragter für den Datenschutz und ehemaliger Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, die er zur Entscheidung des BVerfG zur automatischen Erfassung von Kfz-Kennzeichen vertritt. Die Entscheidung zu den entsprechenden Regelungen der Länder Hessen und Schleswig-Holstein hält er für falsch.112 Bedenklich erscheint ihm vor allem, dass der Senat hier wieder einmal auf Ängste der Beschwerdeführer eingeht, ohne klarzustellen, dass diese Besorgnisse tatsächlich unbegründet sind.113 Dass der Staat mit einer Kennzeichenüberwachung eine generelle und lageunabhängige Massenüberwachung der Bevölkerung vornehmen werde, hält er für abwegig und fügt sarkastisch im Sinne der Beschwerdeführer an: „Auf den überwachten Straßen werde es im Wesentlichen keinen unbeobachteten Fahrzeugverkehr mehr geben. Die erhobenen Daten hätten eine hohe Aussagekraft, so dass eine missbräuchliche Auswertung großen Schaden anrichten könnte. Es seien Änderungen und Einschränkungen des Bewegungsverhaltens zu befürchten, etwa auf Seiten regierungskritischer Personen.“
In Anlehnung an die Volkszählungsentscheidung des BVerfG114 wird formuliert: „Wer damit rechnen müsse, dass sein Kraftfahrzeug auf dem Weg zu einer Demonstration erfasst wird, werde möglicherweise darauf verzichten, von seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen.“115 Der vermeintliche Einschüchterungs- und Abschreckungseffekt kann schon deshalb nicht eintreten, so Bull,weil Fahrzeugführer nach der eigenen Darstellung der Beschwerdeführer mangels Anlass oder Grund der Kontrollen gar nicht wissen können, welches Verhalten sie vermeiden müssen, um nicht aufzufallen. Allenfalls die Zufahrt zu einer Demonstration könnte ein heikler Ort sein; um die Demonstrationsfreiheit vor Überwachung zu schützen, braucht aber nicht die Kennzeichenerfassung überall und immer verboten zu werden.116 Das angeblich diffus bedrohliche Gefühl des Beobachtetseins, das die anlasslose Speicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten hervorrufen könne, spielt im Übrigen auch in dem Urteil des BVerfG vom 2.3.2010 eine große Rolle; das BVerfG meint, dieses Gefühl könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beinträchtigen“117, und hält deswegen den Eingriff für besonders gewichtig. Mit dem Einsatz stationärer und mobiler AKLS im Verkehrsraum schlösse sich zusammen mit der Videoüberwachung an Kriminalitätsbrennpunkten, die jedermann zugänglich sind, an besonders „gefährdeten Objekten“, in Einrichtungen des öffentliches Personennahverkehrs, in Einkaufszentren und im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder bei öffentlichen, nicht dem VersG unterliegenden Großveranstaltungen oder Ansammlungen nach Auffassung von Kritikern in Lehre und Schrifttum einmal mehr der Kreis staatlicher Einschüchterung und Überwachung nach dem Orwellschen Vorbild. Nach wie vor lautet daher die Maxime: Soviel Freiheit wie möglich, so wenig Überwachung wie nötig – im Zweifel also für die Freiheitsrechte des Bürgers und gegen die so dringend notwendige Sicherheit des Einzelnen und der Allgemeinheit, und das trotz akut hoher terroristischer Bedrohung in West- und Mitteluropa durch Attentäter des „Islamischen Staates“ (IS), die längst die Schwelle von bloßer abstrakter Gefahr überschritten hat, so dass gerade die Rechtsfigur der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten einmal mehr an rechtlicher Bedeutung gewinnt.
Der freiheitlich-liberale Rechtsstaat verlangt nicht, sondern setzt nach wie vor eine abgestufte Staatsdistanz zu seinen Bürgern zwingend voraus. Die aus dem Präventionsauftrag hergeleitete Aufgabe zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten bedarf daher einschränkender inhaltlicher Konturierung, damit sie nicht zum Einfallstor für polizeiliche Omnipräsenz und Omnipotenz durch Datenverfügungsmacht über jedermann wird.118 Das BVerfG verlangt zudem in seiner Entscheidung zum Volkszählungsgesetz, den Bürger in den Stand zu versetzen, dass dieser – dem rechtsstaatlichen Prinzip der Tatbestandsbestimmtheit und Normenklarheit folgend – anhand der gesetzlichen Eingriffsgrundlagen in der Lage sein soll, wenigstens überschauen zu können, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen sein Verhalten das Risiko staatlicher Überwachung erzeugt.119 Ob diese Vorstellung jedoch der Realität entspricht, ist angesichts der in den letzten Jahren in sehr großer Anzahl geschaffenen und nur noch von Experten überschaubaren Datenerhebungstatbestände und Tatbestände der weiteren Datenverarbeitung, insbesondere im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, allerdings fraglich.120