Supervision im Polizeiberuf als Instrument zur professionellen Selbstreflexion

Interdisziplinäre Betrachtung in der Polizei Rheinland-Pfalz. Masterarbeit an der Deutschen Hochschule der Polizei, Studienjahr 2010/2012

2.1.2 Beteiligung von Kindern

Bei der Frage nach Belastungen im Polizeiberuf zeichnet sich ein weiterer Schwerpunkt bei der Beteiligung von Kindern ab. Im Vergleich zu Einsatzanlässen mit Erwachsenen werden Einsatzsituationen mit Kindern als ungleich belastender erlebt. Das bezieht sich in erster Linie auf schwere Verkehrsunfälle, bei denen Kinder verletzt oder getötet werden sowie sonstige Todesfälle von Kindern.
Im Zusammenhang mit Todesermittlungen werden plötzlicher Kindstod und Kinder, die durch Brände ums Leben kommen, als herausragende Belastungen empfunden.
Ein wichtiger Aspekt bei Todesfällen von Kindern besteht im Rahmen der polizeilichen Tätigkeit im Umgang mit den Angehörigen. Enorme Belastungen entstehen für Polizisten auch, wenn Kinder Opfer von Straftaten geworden sind, insbesondere beim Vorliegen von Sexualstraftaten. Sowohl die Begegnung mit den Opfern als auch mit den Angehörigen bewirkt ein Gefühl der Hilflosigkeit.
Im Bereich der Wahrnehmung wird der Anblick von verletzten und toten Kindern als sehr erschütternd eingestuft, z.B. die Leichenschau bei Säuglings- und Kinderleichen und verbrannte Kinder. Bei solch tiefgreifenden Einsätzen mit Kindern ergibt sich die Belastung aus der Wahrnehmung der Polizisten.
Noch höher ist jedoch die Empathie einzustufen, die in fast allen Äußerungen betroffener Beamten mitschwingt, wenn Kinder verletzt, getötet oder Opfer von Straftaten werden. Diese hohe emotionale Belastung entsteht dadurch, dass Kinder unsere eigene Lebenssituation widerspiegeln. Hiervon sind insbesondere Polizeibeamte betroffen, die selbst Eltern sind. Das Mitgefühl und Einfühlungsvermögen ist im Umgang mit Kindern daher weit stärker ausgeprägt als im Umgang mit erwachsenen Menschen. Somit stellt die Beteiligung von Kindern bei Gewalthandlungen, Verkehrsunfällen mit Verletzten und Toten einen zentralen Belastungsfaktor im Polizeiberuf dar.13

2.1.3 Gewalterfahrungen

Im Bereich der Gewalterfahrungen ist zunächst zwischen der von Bürgern ausgehenden Gewalt und der notwendigen Gewaltanwendung von Polizeibeamten zu unterscheiden.
Bei der Gewaltanwendung durch Polizisten stellt der polizeiliche Schusswaffengebrauch gegen Menschen ein äußerst belastendes und schlimmstes Ereignis dar, welches einem Polizisten in Ausübung seines Dienstes passieren kann. Belastungen sind aber auch körperliche Auseinandersetzungen und Widerstandshandlungen im strafrechtlichen Sinne, bei denen die eingesetzten Beamten Angriffs- und Widerstandshandlungen des polizeilichen Gegenübers mittels körperlicher Gewalt beenden müssen. In der Eigengefährdung der Polizisten liegt ein großer Stressfaktor, da sich die Beamten ihrer täglichen Gefahr für Leib und Leben bewusst sind.14 Die erlebte Gewalt im Polizeiberuf ist „auch heute noch nicht der Betriebsunfall, sondern der Dreh- und Angelpunkt [polizeilichen Handelns].“15
Zu schaffen macht den Beamten in zunehmendem Maße auch die steigende Aggressivität und der Hass, denen sie im täglichen Dienst ausgesetzt sind. Hierzu zählen auch verbale Attacken und das Anspucken.
Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungstätigkeit entstehen auch Belastungen durch den Umgang mit Opfern und Tätern von Straftaten, insbesondere bei der Bearbeitung von Sexualstraftaten und dem Erleben von Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Es wird angenommen, dass Beamte in diesen Bereichen „aufgrund der Arbeitsinhalte und der mit der Arbeit verbundenen Bildern […] [und] der Konfrontation mit sexueller Gewalt an Kindern unter einem besonders hohen Maß an emotionaler Belastung und damit verbundenen Beanspruchungen bis hin zu Traumatisierungen leiden.“16
Die emotionale Belastung bei Gewalterfahrungen durch das Miterleben und Mitfühlen der Beamten lässt sich auf zwei Schwerpunkte festlegen. Dies ist zum Einen die Empathie, die durch den Umgang mit Opfern von Gewalt- und Sexualstraftaten entsteht, da insbesondere in diesem Deliktbereich oftmals hilflosen Menschen großes Leid widerfährt. Diese Schicksale erleben die Polizisten im Einsatz vor Ort unmittelbar mit.
Zum Anderen ist während und nach dem polizeilichen Schusswaffengebrauch gegen Menschen eine äußerst schwerwiegende emotionale Belastung bei den betroffenen Polizisten festzustellen. Hierbei werden Angst, Hilflosigkeit, Hemmungen, aber auch Mitgefühl für den erschossenen Angreifer empfunden.
Es ist festzustellen, dass körperliche und verbale Auseinandersetzungen eine Belastung für Polizeibeamte darstellen, wobei ein polizeilicher Schusswaffengebrauch gegen Menschen eine äußerst schwerwiegende Belastung für die betroffenen Polizisten nach sich zieht. Neben dem Schusswaffengebrauch führt auch das Miterleben und Bearbeiten von Sexualstraftaten und Delikten im häuslichen Bereich zu einer teils hohen emotionalen Belastung.

2.1.4 Belastete Organisationseinheiten

Polizisten sind bei ihrer Dienstausübung „ständig mit den Abgründen in unserer Gesellschaft konfrontiert und dadurch in besonderem Maße an Leib und Seele belastet und gefährdet.“17
Die höchsten Belastungen liegen in den drei identifizierten Schwerpunkten „tote und schwerverletzte Menschen“, „Beteiligung von Kindern“ und „Gewalterfahrungen“. Daraus folgernd lassen sich im kriminalpolizeilichen Bereich bestimmten Kommissariaten eine grundsätzliche Belastung aufgrund ihrer Tätigkeitsfelder zuschreiben. Dies sind sowohl die Kommissariate, die sich mit Gewalt gegen Frauen und Kinder, insbesondere Sexualdelikte befassen, als auch Kommissariate die Todesermittlungen bzw. die Aufgaben der Spurensuche an den jeweiligen Tatorten durchführen.
Es besteht jedoch kein Zweifel, dass der Wechselschichtdienst aufgrund unvorhersehbarer, vielfältigster Einsatzsituationen die am stärksten belastete Gruppe innerhalb der Polizei darstellt. Der Grund hierfür liegt insbesondere in der Unerwartetheit dessen, was im Dienst auf die Beamten zukommen kann, da sich die Polizisten nicht auf die jeweiligen Situationen vorbereiten können. Hier wird die komplette Bandbreite polizeilicher Arbeit abgedeckt und die Beamten des schutzpolizeilichen Schichtdienstes bzw. des Kriminaldauerdienstes sind stets die Ersten am Ereignisort und daher am intensivsten mit solch belastenden Geschehnissen konfrontiert, noch bevor die spezialisierten Kommissariate verständigt werden können.

2.2 Die Organisationskultur der Polizei

Die Kultur einer Organisation beruht auf historisch gewachsenen Merkmalen, die zu einer gemeinsamen Identität der Organisationsmitglieder führen. Die Anforderungen an den Polizeiberuf im Spannungsfeld des Gewaltmonopols führen zwangsläufig zu einer speziellen Kultur innerhalb der Polizei. Diese Polizeikultur umfasst „typische polizeiliche Handlungen, Symbole, Zeremonien, Rituale, Stile usw., die natürlich von der jeweiligen Organisationsstruktur, aber auch von den praktizierten Werthaltungen, Normen, Orientierungsmustern, Leitbildern usw. abhängig sind.“18
Diese Kultur der Polizei wird im Rahmen der Sozialisation an junge Polizisten vermittelt und hat daher entsprechenden Einfluss auf den Umgang und die Bewältigung von Belastungen im Polizeidienst. Hieraus ergibt sich die Frage, welche positiven und negativen Einflussfaktoren der Organisationskultur bei der Bewältigung von Belastungen auf den einzelnen Polizisten wirken.
Grundsätzlich wird von Polizisten eine gewisse Resistenz und Härte erwartet, um berufsimmanente Belastungen auszuhalten und dadurch im Einsatzfall schnelle Entscheidungen treffen zu können, die einen hohen persönlichen Einsatz erfordern. Eine Reflexion während des Einsatzgeschehens hätte negative Folgen, da sie die Beamten „vorrübergehend lahmlegen“ und handlungsunfähig machen könnte.
Bei der Verarbeitung und dem späteren Umgang mit belastenden Einsatzsituationen wird ein Wandel in der Polizeikultur deutlich. Früher durften Polizisten keine Schwäche zeigen und hatten Angst, Belastungen zuzugeben sowie Hilfsbedürftigkeit zu signalisieren. In diesem Zusammenhang wird von der Erziehung zu „harten Männern“ und vom „Bild des harten Cops“ gesprochen. Die Ursache hierfür ist „die Zugehörigkeit [der Polizisten] zu einer starken bzw. mächtigen Organisation […], [bei der] für das Gegenteil keine Sprache zur Verfügung gestellt wird.“19
Die Organisationskultur unterliegt jedoch einer Umbruchphase, in der eine positive Entwicklung, ein Umdenken innerhalb der Polizei stattgefunden hat. Die Ursache wird in veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und in der Einstellung von Frauen in den Polizeidienst gesehen. Die heutige Polizeikultur wird mit einem offenen, sensiblen und rücksichtsvollen Umgang definiert, der die Polizisten legitimiert Schwächen zu zeigen und über Belastungen zu sprechen.
Unabhängig vom dargestellten Wandel werden die polizeiliche Sozialisation, und hier insbesondere die Funktion des sogenannten „Bärenführers“, als wichtige polizeiliche Instanz gesehen. Das Wort Bärenführer ist eine umgangssprachliche, aber in Polizeikreisen übliche Bezeichnung für berufserfahrene Polizisten, die fertig ausgebildeten, aber unerfahrenen jungen Beamten als feste Streifenpartner zugeteilt werden. Diese Funktion des Bärenführers gilt als positives Element polizeilicher Sozialisation, da sie jungen Beamten die polizeiliche Praxis erklären, Sicherheit vermitteln und als Leitbilder fungieren. Diesen Vorbildern obliegt es, die identitätsstiftenden Werthaltungen und Orientierungsmuster im Rahmen der polizeilichen Sozialisation zu vermitteln.
Eine ebenfalls herausragende Stellung innerhalb der Polizeikultur nimmt die Kollegialität unter den Polizisten ein. In diesem Kontext wird von den Dienstgruppen als „Heimat der Schutzleute“, von Geborgenheit in der „Familie der Polizei“ und von dem Gefühl der Sicherheit innerhalb der jeweiligen Einheit gesprochen. Die Gruppen sind in der Regel eng miteinander verschweißt und sind geprägt durch Offenheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen. Dies ermöglicht eine Aufarbeitung von belastenden Einsatzsituationen durch vertrauliche Gespräche und Beratungen innerhalb der Dienstgruppen, weshalb der Streifenpartner als „bester Supervisor“ bezeichnet werden kann.In einer vertrauensvollen, kooperativen und hilfsbereiten Form der Zusammenarbeit möchten Beschäftigte in schwierigen Situationen auf die Unterstützung ihrer Kollegen zurückgreifen, weshalb dem Begriff der Kollegialität eine große Bedeutung zukommt und gleichzeitig für Stabilität und Kontinuität in Organisationen steht.20 Von zentraler Bedeutung sind ebenfalls der Austausch und die Reflexion unter Kollegen, da günstige Kommunikation untereinander das Expertentum des Einzelnen fördert und somit einen wichtigen Aspekt der Qualitätssicherung darstellt.21
Abschließend ist festzustellen, dass die polizeiliche Organisationskultur früher überwiegend negativen Einfluss auf den Umgang mit beruflichen Belastungen ausgeübt hat. Diese Polizeikultur hat jedoch einen tiefgreifenden erfahren. In ihrer heutigen Ausprägung ermöglicht diese Kultur den Polizisten, über ihre Belastungen zu sprechen und menschliche Gefühle ohne Ansehensverlust zuzulassen. Diese neue Form der polizeilichen Sozialisation begünstigt eine Reflexion belastender Einsätze und hat somit einen positiven Einfluss auf die Bewältigung von Belastungen der einzelnen Polizisten.