Kinder im Ermittlungsverfahren

Möglichkeiten und Grenzen der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen (Teil 1)

2.3.3 Stellungnahme

Sowohl der Beschuldigtenstatus als auch einige Vorschriften der StPO knüpfen an das Vorliegen einer Straftat an. Eine Straftat liegt vor, wenn ein menschliches Verhalten im StGB oder einem anderen Gesetz als verboten beschrieben ist, keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind und der Täter schuldhaft gehandelt hat. Es genügt gerade nicht, dass lediglich der Straftatbestand erfüllt ist. Andernfalls würde der Schutzzweck des § 19 StGB ins Leere laufen. § 19 StGB ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und ist, wie auch die §§ 20, 323c StGB, Ausdruck des im Grundgesetz geltenden Schuldprinzips nulla poena sine culpa23 aus Art. 103 II GG, § 1 StGB. Das bedeutet, dass eine Strafe für die Verletzung einer Verbotsnorm nur verhängt werden kann, wenn die Tat dem Täter persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann. Anders als bei den §§ 20, 323c StGB ist es bei § 19 StGB jedoch nicht erforderlich, dass das Gericht von der Schuldunfähigkeit und -verminderung überzeugt ist. Die Schuldunfähigkeitsvermutung des § 19 StGB ist jedoch am Alter des Tatverdächtigen festgemacht und unwiderleglich.24 So legt auch die PDV 382 in Nr. 3.1.1 diesen Grundsatz als Ausgangslage für alle strafrechtliche Verfahren, an denen Kinder als Tatverdächtige beteiligt sind, zugrunde. Für Verfahren in Ordnungswidrigkeitenverfahren setzt sich dies mit der Feststellung der Unfähigkeit zum vorwerfbaren Handeln in Nr. 5.1 fort. Im Weiteren liegt das Augenmerk jedoch auf den strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Kindliches delinquentes Verhalten kann mangels Schuld nie eine Straftat sein. Da der Beschuldigtenstatus aber nur bei dem Verdacht des Vorliegens einer solchen zugewiesen werden kann, kann ein Kind in keinem denkbaren Fall Beschuldigter in einem Strafverfahren sein. Die Strafverfolgungsbehörde ist, sofern nur ein Kind als Tatverdächtiger in Betracht kommt, daher nicht befugt ein Ermittlungsverfahren gegen das Kind einzuleiten.25 Sofern wegen Unkenntnis über das Alter zunächst ein Verfahren eingeleitet wurde, wäre dieses unverzüglich einzustellen, sobald das Alter des Kindes feststeht.

2.4 Maßnahmen auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr

Streng zu unterscheiden von den repressiven Maßnahmen der StPO sind die landesrechtlich geregelten Ermächtigungsgrundlagen, die der Polizei die Möglichkeit zum Einschreiten zum Zwecke der Gefahrenabwehr einräumen. Aufgrund der Doppelfunktionalität einiger Vorschriften ist auf die strikte Trennung zwischen repressiven und präventiven Maßnahmen zu achten. Das Verbot der strafprozessualen Verfolgung darf nicht auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr umgangen werden.

 

3 Maßnahmen nach der StPO bei Kindern


Der Schutz vor Eingriffen durch den Staat, der Kindern im Strafverfahren zuteilwird, ist sehr weitreichend. Da Kinder nicht den Beschuldigtenstatus innehaben können, folgt daraus, dass sie ausschließlich in Verfahren, die gegen Dritte geführt werden, von Maßnahmen nach der StPO betroffen sein können.

3.1 Ermittlungsziele

Für die polizeiliche Arbeit im Zusammenhang mit Minderjährigen findet die PDV 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“ Anwendung.


Diese hält in Nr. 3.1.1 die zulässigen Ermittlungsziele für den Fall, dass der Verdacht der Begehung einer rechtswidrigen Tat durch ein Kind besteht, fest. Die Ermittlungen sind nur darauf auszurichten, ob

  • strafmündige Personen beteiligt sind,
  • Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflicht vorliegen,
  • vormundschaftsgerichtliche und behördliche Maßnahmen u.U. gegen die Erziehungsberechtigten anzuregen sind
  • die Identität zum Zwecke der Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche festzustellen ist.

Lediglich die ersten beiden Ziele der PDV sind für Ermittlungsverfahren relevant. Auf die Möglichkeiten, mit dem Fehlverhalten von Kindern auf anderem Wege als dem strafprozessualen umzugehen oder Ansprüche auf dem zivilrechtlichen Weg geltend zu machen, wird daher im Folgenden nicht eingegangen werden.

3.2 Grundsätzliches zum Umgang mit Kindern im Verfahren

Aufgrund des besonderen Schutzes, der Kindern in einem Ermittlungsverfahren zuteilwerden soll, werden durch die PDV 382 Nr. 3.2 einige allgemeine Grundsätze beschrieben, denen möglichst Rechnung zu tragen ist. So gilt die Regel, dass alle Ermittlungen, die ein Kind betreffen, tatzeitnah durchzuführen sind und möglichst durch einen Jugendsachbearbeiter erfolgen sollen. Außerdem müssen Kinder nach dem Abschluss der Maßnahme an einen Erziehungsberechtigten übergeben werden oder, sofern dies nicht möglich ist, dem Jugendamt zu überstellen. Sofern Kinder transportiert werden müssen, soll dies einzeln geschehen.

3.3 Vorladung und Belehrung

In einem Ermittlungsverfahren muss der Beschuldigte über seine Rechte belehrt und über die ihm vorgeworfene Tat in Kenntnis gesetzt werden. Kinder können aber, wie bereits festgestellt, keine Beschuldigten sein. In Ermittlungsverfahren, in denen eine Befragung des Kindes jedoch erforderlich ist, weil der Tatverdacht sich auf weitere, strafmündige Verdächtige erstreckt, ist es daher gemäß Nr. 3.4.1 als Zeuge vorzuladen, zu belehren und zu vernehmen.


Schwierig gestaltet sich dabei, dass die Rechte von Zeugen schwächer als die von Beschuldigten sind. Im Gegensatz zum Beschuldigten ist ein Zeuge grundsätzlich zur Aussage und zur Wahrheit verpflichtet. Müsste ein Kind also auf das Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) oder das Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) verwiesen werden, wenn es sich andernfalls selbst belasten würde?


Das Zeugnisverweigerungsrecht regelt den Personenkreis, der zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt, abschließend26 und bezieht sich gerade nicht auf die zur Aussage verpflichtete Person selbst.27 Zur Verweigerung des Zeugnisses wäre das Kind somit nicht berechtigt. Das Auskunftsverweigerungsrecht bietet lediglich die Möglichkeit, die Auskunft auf Fragen zu verweigern, mit denen der Zeuge sich oder einen nahen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde. Zu allen weiteren Fragen müsste das Kind Angaben machen und wäre auch nicht berechtigt, zu lügen, um sich selbst zu schützen.


Besteht also die Gefahr, dass das Kind zum Zeugen gegen sich selbst wird?28 Die Privilegierung des Beschuldigten bei der Aussageverweigerung rührt daher, dass im Strafrecht das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit gilt. Niemand muss sich selbst einer verfolgbaren Straftat belasten und auch Schweigen auf eine Frage darf nicht zum Nachteil des Befragten gewertet werden.29 Diese Gefahr besteht bei der Befragung eines Kindes nicht.30 Selbstwenn also der Tatverdacht durch die von ihm gemachten Angaben erhärtet würde, folgten daraus keine strafrechtlichen Konsequenzen. Damit greift der Sinn und Zweck des Prinzips der Selbstbelastungsfreiheit in dieser Konstellation nicht.31 Für das tatverdächtige Kind hat das zur Folge, dass es nur zur Verweigerung der Beantwortung von Fragen zur Tat berechtigt ist, wenn es sich aufgrund Verwandtschaft mit dem Beschuldigten in einer Konfliktlage nach § 52 StPO befände oder es einen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzte, § 55 StPO.


Dies entspricht auch den Handlungsanweisungen der PDV 382. Danach ist das Kind, wenn es mit dem Ziel der Ermittlung der Straftat weitergehend befragt werden soll, als Zeuge zu belehren und auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen, Nr. 3.4.1. Dabei ist wichtig, dass auch der Erziehungsberechtigte über dieses Recht des Kindes belehrt wird. Dieser hat jedoch gemäß Nr. 3.5.1 kein Recht, das Aussageverweigerungsrecht für das Kind auszuüben. Eine Vernehmung gegen den Willen des Kindes hat zu unterbleiben, Nr. 3.5.2.

3.4 Die Vernehmung

Seit der aktuellen Fassung der PDV 382 aus dem Jahr 1995 ist in Nr. 3.6.4 das Recht zur Anwesenheit bei der Vernehmung für Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter vorgesehen. Soll das Kind dennoch alleine vernommen werden, um eine Beeinflussung zu vermeiden, so dies nur möglich, wenn das Kind sich nicht mehr im Vorschulalter befindet und die Vernehmung in Abwesenheit der Erziehungsberechtigten in Absprache mit diesen erfolgt. Bei der Vernehmung sieht die PDV vor, dass nach Möglichkeit nur eine umfassende Vernehmung des Kindes erfolgt, da die mehrfache Vernehmung zu unzumutbaren Belastungen führe und auch Aussagen verfälscht werden könnten, Nr. 3.6.1.


(Fortsetzung des Beitrages folgt in der Ausgabe 4/2023)


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