Kinder im Ermittlungsverfahren

Möglichkeiten und Grenzen der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen (Teil 1)

2.3.1 Beschuldigtenfähigkeit trotz Strafunmündigkeit?

Der Begriff des Beschuldigten ist nicht legaldefiniert. Aus diesem Grund wird teilweise vertreten, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens lediglich das Vorliegen eines Tatverdachtes erfordere. Nicht erforderlich sei hingegen, dass der Täter für deren Begehung auch bestraft werden könne. Dies resultiere aus dem Auftrag an die Polizei, Straftaten zu erforschen. Für junge Menschen sei gesetzlich lediglich vorgesehen, dass die Schuldfähigkeit im Strafverfahren ausgeschlossen sei, aber gerade keine Einschränkungen der Ermittlungstätigkeit der Polizei.


Des Weiteren habe der Gesetzgeber bewusst auf eine Definition des Beschuldigten verzichtet. Zwar werde dieser in § 157 StPO zum Zwecke der Definition des Angeschuldigten und des Angeklagten zugrunde gelegt, eine eigenständige Beschreibung des Beschuldigten aber fehle im Gesetz. Dies habe zur Folge, dass die Versuche einer Definition durch Literatur und Rechtsprechung vielfältig seien. In jedem Fall sei es höchst fraglich, den Status des Beschuldigten lediglich auf einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen. Denn bei Aufnahme einer Anzeige gegen eine bestimmte Person und die Eintragung in das JS‑Register erfolge die Statuszuweisung aus formalen Gründen und nicht auf Grundlage einer willentlichen Entscheidung.10


Die Rechtsprechung gehe davon aus, dass derjenige Beschuldigter sei, der tatbestandsmäßig gehandelt habe und der deswegen strafrechtlich verfolgt werde.11 Der Ermessensspielraum der Strafverfolgungsbehörde beziehe sich dabei lediglich darauf festzustellen, ob ausreichend Beweise vorliegen, um von einem konkreten Tatverdacht auszugehen.12 Die Schuldfähigkeit sei insoweit unerheblich. Vielmehr müsse der Grundsatz „Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit“13 gelten. Aus diesem werde ersichtlich, dass Schuld zwar eine Voraussetzung für die Bestrafung sei, aber gerade nicht für das Vorliegen einer Straftat. Dies sei relevant, da die Polizei zwar den Auftrag zur Erforschung von Straftaten habe, der Gesetzgeber den Begriff der Straftat bzw. Tat in der StPO uneinheitlich verwende und keine Legaldefinition geliefert habe. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass Straftaten mit Strafe bedrohtes, menschliches Verhalten seien. Die materiell-rechtliche Feststellung, ob Schuldunfähigkeit vorliege, obliege nicht den Strafverfolgungsbehörden, sondern genau wie in den Fällen des § 20 StGB14 dem Gericht.15 Es gebe gerade keinen Grundsatz, der das Einschreiten der Strafverfolgungsbehörde nur für die Fällen normiere, in denen die Schuldfähigkeit des Tatverdächtigen zweifelsfrei feststehe. Es sei wichtig, dass die Polizei tatverdächtige Kinder als Beschuldigte behandle und sie auch entsprechend belehre. Durch die Beschuldigtenbelehrung komme dem Kind auch ein ausreichender Schutz vor negativen Auswirkungen durch das Strafverfahren zu. Die Vorteile des Beschuldigtenstatus überwiegten jedoch, da so bspw. Tatzusammenhänge zu früheren Taten des Kindes aufgedeckt werden könnten.


Auf § 19 StGB müsse nur insoweit Rücksicht genommen werden, als dass er ein Hindernis für das gerichtliche Verfahren darstelle, mit der Folge, dass bei Feststellung des Alters durch das Gericht das Verfahren gegen das Kind nicht weiter betrieben werden dürfe.

2.3.2 Umfassende Sperrwirkung des § 19 StGB

Dieser Auffassung kann entgegengehalten werden, dass die aus dem Legalitätsgrundsatz des § 152 II StPO resultierende Pflicht der Strafverfolgungsbehörde einzuschreiten, sich auf alle verfolgbaren Straftaten beziehe. Eine Straftat im Sinne des § 152 II StPO erfordere auch die Sanktionierung mittels Strafe. Andernfalls hätte auf den Begriff der rechtswidrigen Tat, wie er in § 11 I Nr. 5 StGB legaldefiniert ist, zurückgegriffen werden müssen.


Eine Legaldefinition des Beschuldigtenbegriffs hingegen sei nicht erforderlich, da entscheidend sei, dass nur derjenige Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren sein könne, gegen den sich das Verfahren richtet. Hierfür reiche der Anfangsverdacht noch nicht aus, es müsse ein hinreichender Tatverdacht bestehen.16 Man könne aber ein tatverdächtiges Kind nicht einfach zu einem de facto Beschuldigten erklären, um das Ermittlungsverfahren gegen es betreiben zu können. Auf diesem Wege würde aus dem Ermittlungsverfahren ein Mittel zur Sanktionierung des Verhaltens des Kindes gemacht. Eine derartige Umgehung des gesetzlichen Schuldausschluss stellte aber ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen dar.


Ein Vergleich des § 19 StGB mit den schuldausschließenden Normen §§ 20, 323c StGB verbiete sich aufgrund des Umstandes, dass im Fall des Strafunmündigkeit eine Feststellung grundsätzlich auch ex ante möglich sei. Bei den Schuldausschließungsgründen wegen Krankheit oder Rausch sei dies aber erst nach einer gerichtlichen Bewertung möglich. Anders als bei Jugendlichen, deren geistige und seelische Reife vor Gericht festgestellt werden müsse, § 3 JGG, bedürfe es für die Feststellung der Strafunmündigkeit eines Kindes gerade nicht der richterlichen Beurteilung, so dass eine Gleichsetzung von § 19 StGB mit §§ 20, 323c StGB nicht möglich sei.Solange Zweifel an der Strafmündigkeit bestünden, kämen zudem aufgrund des fortbestehenden Aufklärungsbedarfs zulässiger Weise weitere Ermittlungsschritte zur Ausräumung dieser Zweifel in Betracht.17 § 19 StGB stelle somit ein Prozesshindernis dar, dessen Umfang sich nicht nur auf das gerichtliche Verfahren sondern auch auf das Ermittlungsverfahren erstrecke.18


Ein Verdächtiger werde durch einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörde zum Beschuldigten, wenn sich im Rahmen der Ermittlungen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat in Sinne des § 152 II StPO ergeben19 und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden muss (Legalitätsgrundsatz). Bei der Einleitung des förmlichen Verfahrens handle es sich gerade um die Realisierung dieser Willensbildung.20 Wegen der fehlenden Strafmündigkeit von Kindern könne ein solcher Wille der Strafverfolgungsbehörde aber gerade nicht gegen sie gebildet werden.21


In der Folge könnten Kinder zwar rechtswidrige Taten im Sinne des § 11 I Nr. 5 StGB begehen und dieser auch verdächtig sein, es liege aber wegen der fehlenden Verantwortlichkeit keine strafrechtlich verfolgbare Tat im Sinne des § 152 II StGB vor. Die Schuldunfähigkeitsvermutung des § 19 StGB stelle ein umfassendes Strafverfolgungshindernis dar, so dass die Strafverfolgungsbehörden keine Strafverfolgungskompetenz haben.22