Der grausame Schrei der Eule


Und was konnte ihm schon passieren? Selbst wenn ein Schmuggler ergriffen wurde, war es kaum möglich, eine Verurteilung gegen ihn zu erwirken. Einige Rechtsanwälte hatten sich regelrecht auf die Verteidigung von Schmugglern spezialisiert. Sie verfügten über eine Kartei von 40-50 Männern, die gegen Bezahlung bereit waren, jeden gewünschten Eid auf ein Alibi zu leisten. Deshalb war der Zollankläger ständig auf der Suche nach Zeugen und Beweismaterial. Die meisten Zeugen aber verweigerten die Aussage, weil sie fürchteten, dass ihre Häuser dann aus Rache niedergebrannt würden. Wenn Drohungen nicht ausreichten, kauften die angeklagten Banden den Kronzeugen mit Schmiergeld oder räumten ihn ganz einfach aus dem Weg. Wenn ein Schmuggler trotz alledem doch einmal vor Gericht gebracht wurde, standen seine Chancen gut, ungeschoren davon zukommen. Schließlich waren oft genug die Geschworenen selbst im Gewerbe tätig.


Diese Eichendiele war Teil einer Gefängnistür aus dem 14. Jahrhundert


Die Banden bedienten sich verschlüsselter Kommunikationstechniken. Spezielle Laternen mit Rohren dienten als Lichtlampen, mit denen man über weite Strecken vereinbarte Signale austauschen konnte. Imitierte Eulenschreie vermittelten vereinbarte Kommandos, daher waren die Schmuggler im Volksmund bald nur noch als „Owlers„ bekannt, am ehesten mit „Euler„ zu übersetzen. Noch immer galten sie als schlitzohrige, clevere „Gentlemen„.

Blutiger offener Krieg


So harmlos blieb es allerdings nicht lange. Im Konkurrenzkampf untereinander und in der Abwehr polizeilicher Verfolgung radikalisierten sich die Schmuggelbanden rasch. Stöcke, Äxte und Messer hatten als Bewaffnung ausgedient und wurden durch Pistolen und Flinten ersetzt. Schon in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts war die Benutzung von Feuerwaffen üblich, „für die nächsten 150 Jahre tobte in Kent regelrecht ein offener Krieg!“, beschreibt es der Historiker Kenneth Clark. Bis zu den Zähnen bewaffnet, führten die Banden ganze Karawanen schwer beladener Pferde durch die Wiesen der Romney Marsh und waren bereit, jeden zu töten, der ihnen in die Quere kam. Es war durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, wenn sich am helllichten Tag Konvois von mehr als 100 Packtieren über Land Richtung London bewegten, eskortiert von bewaffneten Wachen.

Motorrad Clubs sind noch heute stolz auf die gesetzlose Vergangenheit


Was tat denn die Polizei, wo doch vor ihren Augen große Privatarmeen der Schmuggler den Frieden und die gesamte öffentliche Ordnung in den südlichen Grafschaften zerstörten? Die Antwort ist so kurz wie bitter: die Staatsgewalt kam einfach nicht dagegen an. In einem Bericht von 1736 wird die Anzahl der Zollbeamten, die in den vorausgegangenen zwölf Jahren geschlagen, verletzt oder misshandelt wurden, mit „nicht weniger als 250„ angegeben, „sechs weitere wurden in der Ausübung ihrer Pflicht ermordet.„
Besonders berüchtigt für ihre Brutalität und Dreistigkeit war die Hawkhurst Gang, die zu ihrer besten Zeit die gesamte Südküste kontrollierte. Wenn eine Schmuggelaktion geplant war, konnte sie innerhalb einer Stunde 500 berittene und bewaffnete Männer zusammentrommeln. Mehr als einmal überfielen sie Zoll- und Polizeistationen, erschossen kaltblütig die Beamten und holten sich die konfiszierte Schmuggelware skrupellos zurück. Ihr beliebtester Treffpunkt war das Mermaid Inn im Zentrum von Rye, das heute noch genauso aussieht wie damals. Ein steiler Fußweg aus groben Kieselsteinen führt zu dem niedrigen Haus mit weiß gekalkten Mauern und schwarzem Fachwerk. Alter Wein rankt an den Wänden hoch, vor dem Eingang stehen bunte Blumenkübel. Durch kleine Bleiglasfenster kann man in die Wirtsstube hineinschauen. Hier saßen die Spießgesellen in aller Öffentlichkeit vergnügt beieinander, rauchten ihre Pfeifen und zechten hemmungslos, während die geladenen Pistolen vor ihnen auf dem Tisch lagen. Man muss das einmal in die heutige Zeit übertragen, um die Dreistigkeit ermessen zu können: da sitzt im Ratskeller, mitten zwischen der bürgerlichen Sonntagsgesellschaft, eine landesweit bekannte, mit Steckbriefen gesuchte Bande aus Dieben und Mördern. Rücksichtslos lärmend betrinken sie sich und rauchen einen Joint, während die Kalaschnikows vor ihnen offen auf dem Tisch liegen!