Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht
Wir erinnern in dieser Jubiläumsausgabe an bedeutende Urteile zu aufsehenerregenden Ereignissen der letzten 40 Jahre.
Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden
I Materielles Strafrecht
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Jacke als gefährliches Werkzeug. A schlug, trat und würgte seine damalige Lebensgefährtin, die sich zuvor von ihm getrennt hatte, in deren Wohnung bis zur Bewusstlosigkeit. Als sie um Hilfe rief, presste A seine Jacke auf ihr Gesicht, wodurch sie für kurze Zeit das Bewusstsein verlor.
Für die Qualifizierung eines Gegenstandes als gefährliches Werkzeug kommt es maßgeblich auf den gefährlichen Gebrauch eines solchen Werkzeuges und nicht auf dessen objektive Beschaffenheit an. (KG Berlin, Urt. v. 25.7.2022 – 161 Ss 93/21)
§ 263a StGB – Computerbetrug; hier: Verwendung unrichtiger Daten. Der B gründete eine GmbH als einziger Gesellschafter und eröffnete für diese ein Online-Geschäftskonto bei einer Bank. Dabei wurde er von seinem Prokuristen A unterstützt. Der A handelte auf Anweisung von Hintermännern. Nach der Kontoeröffnung reichte ein Dritter online mithilfe der Zugangsdaten der GmbH und einem TAN-Lesegerät Lastschriften bei der Bank ein. Hiermit wurden mithilfe von Fantasie-IBANs von nicht existierenden Schuldnerkonten fremder Geldinstitute meistens 5.000 Euro eingezogen und dem Geschäftskonto gutgeschrieben. Insgesamt wurden auf diese Weise innerhalb von ca. zwei Wochen Gutschriften zu Gunsten des Kontos bewirkt, die sich auf gut 1,6 Mio. EUR beliefen. Die Bank überprüfte die IBAN der von der GmbH im SEPA-Lastschriftverfahren mitgeteilten Schuldnerkonten lediglich auf Schlüssigkeit, nicht aber darauf, ob sie tatsächlich existierten. Bevor die Bank den Fehler bemerkte, waren schon 600.000 Euro auf andere Konten verschoben und abgehoben worden.
Nutzt der Täter Fantasie-IBANs, gebe es keine entsprechenden Konten mit diesen Daten; mithin werden „unrichtige“ Daten verwendet. Denn „unrichtig“ sind Daten, wenn der durch sie vermittelte Informationsgehalt keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat; „unvollständig“ sind sie, wenn sie den zugrundeliegenden Sachverhalt nicht ausreichend erkennen lassen. Unbefugtes Verwenden von Daten setzt dagegen grundsätzlich die Benutzung „richtiger“ Daten voraus. (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 − 3 StR 93/22)
§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB – Verbotene Kraftfahrzeugrennen; hier: Polizeiflucht, notwendige Absicht maximal möglicher Geschwindigkeit. Allein der Umstand, dass der A unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genügt nicht zur Annahme der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlichen Absicht, auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.10.2022 - 1 OLG 2 Ss 27/22)
II Prozessuales Strafrecht
§§ 32a, 158 Abs. 2 StPO – Elektronischer Rechtsverkehr […], Strafantrag; hier: Strafantrag mittels „einfacher“ E-Mail. Elektronische Dokumente, die der Schriftform unterliegen, müssen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sein oder auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden; eine unsignierte und direkt an den Empfänger versandte „einfache“ E-Mail erfüllt keine dieser Voraussetzungen. Nach dem Willen des Gesetzgebers gelten die genannten Anforderungen auch für Strafanträge, und zwar auch für solche, die von Behörden gestellt werden. (BGH, Beschl. v. 12.5.2022 – 5 StR 398/21)
§ 81b 2. Alt StPO – Erkennungsdienstliche Maßnahmen bei dem Beschuldigten; hier: Verlieren der Beschuldigten-eigenschaft vor Vollzug der ED-Behandlung. Das BVerwG hat aus der unterschiedlichen Zweckbestimmung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen in den verschiedenen Varianten des § 81b StPO den Schluss gezogen, dass die Rechtmäßigkeit einer auf die zweite Alternative gestützten Anordnung – im Gegensatz zur Rechtmäßigkeit von Maßnahmen nach der ersten Alternative – nicht dadurch berührt werde, dass ein Betroffener nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens und vor dem Vollzug der ED-Behandlung die Beschuldigteneigenschaft verliere. (OVG Bautzen, Beschl. v. 10.6.2022 - 6 A 949/20)
§§ 102, 103, 105 StPO – Durchsuchung bei Beschuldigten, anderen Personen, Verfahren; hier: Anforderungen an Durchsuchungen beim Beschuldigten und bei Dritten. Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen durchzuführenden Durchsuchung genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht.
Eine Ermittlungsdurchsuchung, die eine nichtverdächtige Person betrifft, setzt Tatsachen dahin voraus, dass sich das gesuchte Beweismittel in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Es müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass der gesuchte Beweisgegenstand in den Räumlichkeiten des Unverdächtigen gefunden werden kann. Dies unterscheidet die Durchsuchung beim Unverdächtigen von einer Durchsuchung bei einer verdächtigen Person, bei der es bereits nach der Lebenserfahrung in gewissem Grade wahrscheinlich ist, dass Beweisgegenstände zu finden sind, die zur Prüfung des Tatverdachts beitragen können, und bei der durch die Verknüpfung des personenbezogenen Tatverdachts mit einem eher abstrakten Auffindeverdacht ein hinreichender Eingriffsanlass besteht.
Die Durchsuchung bei einer nichtverdächtigen Person setzt – anders als für die Durchsuchung beim Tatverdächtigen, bei dem eine allgemeine Aussicht genügt, irgendwelche relevanten Beweismittel zu finden – nach § 103 StPO überdies voraus, dass hinreichend individualisierte (bestimmte) Beweismittel für die aufzuklärende Straftat gesucht werden. Diese Gegenstände müssen im Durchsuchungsbeschluss so weit konkretisiert werden, dass weder bei dem Betroffenen noch bei dem die Durchsuchung vollziehenden Beamten Zweifel über die zu suchenden und zu beschlagnahmenden Gegenstände entstehen können. Ausreichend ist dafür allerdings, dass die Beweismittel der Gattung nach näher bestimmt sind; nicht erforderlich ist, dass sie in allen Einzelheiten bezeichnet werden. (BGH, Beschl. v. 20.7.2022 − StB 29/22)
§§ 103, 105 StPO – Durchsuchung bei anderen Personen, Verfahren; hier: Anforderungen an eine Durchsuchungsanordnung. Eine Anordnung nach §§ 103, 105 StPO muss Rahmen, Grenzen und Ziel der Durchsuchung definieren. Dazu gehören Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs, die zu suchenden Beweismittel und die zu durchsuchenden Räume. Die aufzuklärende Straftat muss hierzu so umschrieben sein wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist, um den von der Durchsuchung Betroffenen in die Lage zu versetzen, die Durchsuchung seinerseits zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten von vornherein entgegenzutreten. Zu den erforderlichen inhaltlichen Angaben zählt nämlich auch die Tatzeit. Die zeitliche Eingrenzung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts u.a. notwendig, um eine Prüfung zu ermöglichen, ob die für den Tatvorwurf maßgebliche Verjährungsfrist abgelaufen ist. Ohne jegliche zeitliche Eingrenzung könnten die mit der Vollziehung der Anordnung betrauten Beamten weder in hinreichender Weise erkennen, worauf sie ihr Augenmerk richten sollten, noch sei die Anordnung in einem solchen Fall geeignet, dem Rechtsmittelgericht und dem Betroffenen selbst eine zuverlässige Prüfung zu ermöglichen, ob sich der Vollzug der Durchsuchung noch in dem vom Ermittlungsrichter vorgesehenen Rahmen bewegt. (LG Köln, Beschl. v. 3.3.2020 – 106 Qs 10/19)
§§ 105, 108 StPO – Verfahren bei der Durchsuchung, Beschlagnahme anderer Gegenstände; hier: Beweisverwertungsverbot nach rechtswidriger Durchsuchung. Die Polizei wurde am späten Abend um kurz vor 23.00 Uhr zu einem Mehrfamilienhaus gerufen, weil sich ein Anwohner über ein seit mehreren Wochen anhaltendes und störendes lautes Brummgeräusch beschwert hatte. Es wurde vor Ort festgestellt, dass das Brummen aus einer Wohnung stammte, in der sich niemand befand. Daraufhin wurde die Feuerwehr hinzugerufen, um sich mit deren Hilfe Zugang zur Wohnung des A zu verschaffen, die Lärmquelle zu finden und abzuschalten. Als Quelle des Brummens wurde in einem der Zimmer eine Marihuana-Aufzuchtanlage entdeckt. Gedanken darüber, den rund um die Uhr erreichbaren Bereitschaftsstaatsanwalt oder den ebenfalls jederzeit zu erreichenden Eildienstrichter zu kontaktieren, um eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu erhalten, machte sich die Polizei nicht. Das aufgefundene Marihuana und die vorhandenen Marihuanapflanzen wurden beschlagnahmt.
Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich zuvor um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben. Für die Frage, ob die Ermittlungsbehörden eine richterliche Entscheidung rechtzeitig erreichen können, kommt es auf den Zeitpunkt an, zu dem die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen eine Durchsuchung für erforderlich hielten. (LG Hamburg, Urt. v. 1.10.2021 – 712 Ns 33/21)
§ 110 StPO – Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien; hier: Anwesenheitsrecht des Rechtsbeistands. Die Verhältnismäßigkeit gebietet es, dem Rechtsbeistand des Betroffenen die Anwesenheit bei der Durchsicht zu gestatten, wenn ein umfangreicher Datenbestand gesichert wurde, dessen Großteil erwartungsgemäß keine Relevanz für das Ermittlungsverfahren hat und zudem die Rechte Dritter durch Einsicht in deren Kommunikation mit dem Betroffenen berührt werden können. Gewisse zeitliche Einschränkungen und organisatorische Maßnahmen aufgrund der Hinzuziehung des Rechtsbeistands sind hinzunehmen. (LG Kiel, Beschl. v. 18.6.2021 – 3 Qs 14/21)
§ 163f StPO – Längerfristige Observation; hier: Hypothetischer Ersatzeingriff. Die Beobachtung des A bei der ihm zur Last gelegten Tat (Vorsätzliches Fahren ohne Führerschein, § 21 Abs. 1 StVG) ist im Rahmen einer längerfristigen Observation erfolgt, die in anderer Sache wegen des Verdachts des banden- und gewerbsmäßigen Betruges angeordnet worden war.
Bei der im Rahmen längerfristiger Observation erlangten Information, dass der A zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort als Fahrer eines bestimmten Pkw in Erscheinung getreten ist, handelt es sich um personenbezogene Daten, bei denen Erkenntnisse zu dem Verhalten einer optisch identifizierten Person und Erkenntnisse zu deren sachlicher und räumlicher Beziehung (Pkw, Fahrtstrecke) kombiniert werden. Die Ermittlungsmaßnahme der längerfristigen Observation unterfällt der Verwendungsbeschränkung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO. Die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen können bei Zufallserkenntnissen nicht mit der Erwägung umgangen werden, dass dieselben personenbezogenen Daten auch durch weniger eingriffsintensive Maßnahmen hätten erlangt werden können. Im Ergebnis bedeutet das: Wird bei einer längerfristigen Observation festgestellt, dass Observierte ein Kraftfahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis führen, dürfen die erlangten personenbezogenen Daten nicht in dem Strafverfahren wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verwendet werden. Denn zur Aufklärung einer Straftat nach § 21 Abs. 1 StVG, die schon allgemein betrachtet keine Straftat von erheblicher Bedeutung darstellt, hätte eine längerfristige Observation nicht angeordnet werden dürfen (Gedanke des „hypothetischen Ersatzeingriffs“). (OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.5.2022 − III-2 RVs 15/22)
III Sonstiges
Einen guten Beitrag „Unfreiwillig Sexobjekt“ zur Veröffentlichung von „Rachepornos“, was regelmäßig eine Strafbarkeit nach § 201a StGB nach sich zieht, finden Sie unter: www.lto.de/recht/hintergruende/h/racheporno-revenge-porn-strafrecht-unterlassung-hunter-moore/.
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