Recht und Justiz

Entscheidung des BVerfG vom 9.12.2022 zum SOG MV

Neue Leitplanken für die Polizeigesetze

 

3 Fehlender Gefahrenbezug als unzulässige Ausweitung der Eingriffsschwelle


In seinem Beschluss erklärt das BVerfG außerdem die Ermächtigungen zu mehreren verdeckten Datenerhebungsmaßnahmen für nichtig bzw. zumindest mit dem Grundgesetz für unvereinbar. Es wird hier eine aus Sicht des BVerfG unzulässige Ausweitung der Eingriffsschwelle gerügt, die durch die Verknüpfung mit bestimmten Vorfeldstraftatbeständen zustande kommt. Im konkreten Fall geht es um die Eingriffsvoraussetzungen für den Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung nach § 33b i.V.m. § 67a SOG MV, den Einsatz technischer Mittel zum Eingriff in informationstechnische Systeme gem. § 33c i.V.m. § 67a SOG MV, den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung der Telekommunikation nach § 33d i.V.m. § 67a SOG MV und die Rasterfahndung nach § 44 i.V.m. § 67a SOG MV, die jeweils auf den Katalog der terroristischen Straftaten des § 67c SOG verweisen sowie um die längerfristige Observation, den Einsatz technischer Mittel und den Einsatz von VP und VE, welche in § 33 Abs. 2 Satz 1 und 3 i.V.m. § 67a SOG MV geregelt sind. Demnach dürfen diese Maßnahmen angewandt werden, wenn die Gefahr einer Begehung von Straftaten von erheblicher Bedeutung gem. § 49 SOG MV oder von terroristischen Straftaten gem. § 67a i.V.m. § 67c SOG MV vorliegt.


Bei der Formulierung des § 67a SOG MV stützte sich der Gesetzgeber auf die Entscheidung des BVerfG zum BKA-Gesetz16 und formuliert, dass o.g. Maßnahmen eingesetzt werden können, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person innerhalb eines überschaubaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierten Weise eine terroristische Straftat nach § 67c begehen oder an dieser teilnehmen wird, oder das individuelle Verhalten dieser Person die konkrete Wahrscheinlichkeit dafür begründet, dass sie innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine terroristische Straftat nach § 67c begehen oder an dieser teilnehmen wird, um diese Person durch die Überwachung und die Datenverwendung von der Begehung einer solchen Straftat abzuhalten.“17


Diese Verknüpfung von Straftaten mit der gefahrenabwehrrechtlichen Eingriffsschwelle bleibt jedoch nach Ansicht des Senats hinter den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zurück. Diese fordern nämlich bei solch heimlichen und daher besonders eingriffsintensiven Maßnahmen eine konkrete oder wenigstens konkretisierte Gefahr für ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut, wobei für eine konkretisierte Gefahr tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen müssen.18 Mit der Erfüllung von den genannten Straftatbeständen sind solche Gefahrengrade für ein Rechtsgut aber nicht immer zwangsläufig gegeben.


So ist es zwar im Fall von Delikten, bei denen mit Verwirklichung des Tatbestandes auch eine Verletzung des Schutzguts einhergehe, unproblematisch. Hier sind als Beispiele der Totschlag gem. § 212 StGB oder die Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB als unechte19 Staatsschutzdelikte zu nennen. Dies gilt jedoch nicht für alle genannten Straftaten, insbesondere nicht für viele der Vorfeldstraftaten, die unter den terroristischen Straftaten gem. § 67c SOG MV zu finden sind. Gerade bei einigen echten Staatsschutzdelikten wie beispielsweise der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gem. § 89a StGB20 oder der Bildung einer terroristischen Vereinigung gem. § 129a StGB21 ist die Strafbarkeit bereits weit ins Vorfeld der Schutzgüter der Normen verschoben.22 Dies für sich genommen beanstandet der Senat zwar nicht, wohl aber die vom Gesetzgeber implizierte Annahme, dass mit der Verwirklichung der Straftatbestände auch automatisch eine konkrete oder konkretisierte Gefahr für die jeweils geschützten Rechtsgüter der Normen einhergeht. So besteht beispielsweise bei einem Anfangsverdacht der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nicht auch automatisch schon eine konkretisierte Gefahr für Leib und Leben von Personen, wenn lediglich Vorbereitungshandlungen (z.B. der Kauf eines Zünders zum Bau einer USBV) begangen wurden. Der bloße Schutz der Rechtsordnung des Staates reicht demnach nicht aus, solange nicht zugleich auch Schutzgüter von erheblicher Bedeutung betroffen sind. Trifft diese Annahme schon bei Verwirklichung der Straftatbestände nicht zu, gilt sie erst recht nicht für die Gefahr der Begehung solcher Straftaten, also einer noch weiteren Verlagerung ins Vorfeld. Zwar hat das BVerfG mit seinem Urteil zum BKAG ausgeführt, dass der Gesetzgeber nicht auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt ist, „die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche mit dem Ziel schon der Straftatenverhütung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert.“23 Allerdings wurde hier vom Gesetzgeber nicht beachtet, dass er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit nur dann reduzieren darf, wenn damit auch ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut geschützt wird und Ziel der Maßnahme nicht allein im Schutz der Rechtsordnung besteht.


Zur verfassungskonformen Neugestaltung der Eingriffsschwelle wird vorgeschlagen, dass das Vorliegen einer konkreten oder konkretisierten Gefahr für die durch die Straftatbestände geschützten Rechtsgüter in jedem Einzelfall Mindestvoraussetzung für die Durchführung von den genannten Maßnahmen ist, auch dann, wenn die Verwirklichung eines einschlägigen Straftatbestands droht oder bereits eingetreten ist. Diese Verdeutlichung des tatsächlichen Gefahrengrads und der betroffenen Rechtsgüter erscheint zwar in der Gesamtschau schlüssig und folgerichtig, lässt aber das vielzitierte Urteil des BVerfG zum BKAG v. 20.4.2016 mindestens missverständlich wirken. Führte doch das BVerfG in diesem Urteil zur hinreichend konkretisierten Gefahr noch aus, dass Überwachungsmaßnahmen erlaubt werden können, wenn das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche (terroristischen) Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird,24 wird in der aktuellen Entscheidung deutlicher Abstand zu der Verknüpfung mit Straftaten genommen. Die Nennung des Begriffs „Straftaten“ kann nun im Lichte des vorliegenden Beschlusses allenfalls derart gedeutet werden, dass die unechten Staatsschutzdelikte gemeint waren, bei denen zumindest unmittelbar eine konkretisierte Gefahr für ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut vorliegt, was gerade bei den Vorfelddelikten aus dem Staatsschutzbereich nicht zwangsläufig der Fall ist. Das Vorgehen wirkt in der Gesamtschau jedoch missverständlich und unklar. Einerseits kann dem Gesetzgeber die teilweise wörtliche Übernahme der Formulierungen des BVerfG25 in den Gesetzestext26 ohne hinreichend kritische eigene Prüfung vorgeworfen werden. Auch die Ausweitung auf diverse echte Staatschutzdelikte im § 67c SOG MV und die damit einhergehende offensichtliche Entkopplung von der Gefahrenabwehr27 ist zu kritisieren. Andererseits ist auch das BVerfG gefordert, den Gesetzgebern eindeutige verfassungsrechtliche Auslegungen an die Hand zu geben. Nur so ist es dem Gesetzgeber möglich, die vom BVerfG gezogenen Grenzen normenklar umzusetzen.