Wissenschaft  und Forschung

„Zurück ins Reich“

Die neonazististische Szene im Phänomenbereich Rechtsextremismus


Rechtsextremistisch motivierte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und eine in den letzten Jahren verstärkt im Internet stattfindende Radikalisierung bilden die Basis für möglichen zukünftigen rechtsextremistischen Terrorismus.

Eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden stellen selbstradikalisierte Täter dar, die ohne erkennbare Anbindung an bereits bekannte rechtsextremistische Szenestrukturen agieren. Auch weitere einschlägige Merkmale wie die ideologische Verortung, die zumindest eine gewisse Konzentration auf ein potenzielles rechtsterroristisches Milieu möglich machte, sind in den letzten Jahren aufgeweicht. So zeigen die Lebensläufe einiger rechtsextremistischer Gewalttäter der letzten Jahre rechtsextremistische Motivationshintergründe allenfalls in Fragmenten. So lagen insbesondere bei den Tätern der Anschläge von Halle im Jahr 2019 und Hanau im Jahr 2020 diverse Bezüge zu Verschwörungstheorien und Onlinesubkulturen vor, die nicht zwangsläufig dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. Es wird daher eine enorme Herausforderung bleiben, solche potenziellen Täter im Vorfeld eines geplanten Anschlags zu identifizieren.

Besonderes Augenmerk liegt hierbei vor allem auf Aktivitäten im Internet – insbesondere auf einschlägigen Chatgruppen in Messengerdiensten. Diese stellen auch eine Art „Katalysator“ dar, der die Radikalisierung ihrer Teilnehmer deutlich verstärkt. So finden sich im Internet zahlreiche rechtsextremistische Chatgruppen mit teilweise mehreren Tausend Mitgliedern, in denen extreme Gewaltfantasien wie Folter- und Mordaufrufe an der Tagesordnung sind. Hier rechtzeitig solche Personen zu identifizieren, die auch tatsächlich Anschläge und terroristische Taten planen und dies nicht nur durch eine aggressive Rhetorik vorgeben, ist eine große Herausforderung für die Sicherheitsbehörden14.

Abschließend soll die Siege-Ideologie als neonazistisch grundierte Intellektualisierungsbemühung beispielhaft vorgestellt werden:15

Die in den USA entstandene „Siege-Ideologie“ gewinnt zunehmend auch in Deutschland an Bedeutung. Sie greift die ursprünglich antikapitalistische „Theorie des Akzelerationismus19“ auf und unterlegt sie mit rassistischen und nationalsozialistischen Elementen. So soll in den Gesellschaften der westlichen Staaten durch gezielte terroristische Akte gegen Infrastruktur, Angehörige von Minderheiten und demokratische politische Führungspersonen ein Bürgerkrieg ausgelöst werden, der zum Zusammenbruch des verhassten demokratischen Systems führen soll. Konfliktlinien bestehen aus der Sicht rechtsextremistischer Akzelerationisten insbesondere zwischen der „weißen“ Mehrheitsbevölkerung und ethnischen Minderheiten.16

Die Bezeichnung „Siege“ geht zurück auf den gleichnamigen Titel einer Textsammlung des US-amerikanischen Rechtsextremisten James Nolan Mason aus den 1980er-Jahren.17 Sie beinhaltet neben Masons ideologischen Grundlagen, wie Rassismus, Antisemitismus oder der Theorie der vermeintlichen Überlegenheit der „weißen Rasse“ („White Supremacy“), auch detaillierte Beschreibungen möglicher Anschlagsziele sowie Ausführungen zu operativen Vorbereitungen. Die Verbreitung von Masons Schrift wurde unter anderem maßgeblich von der ebenfalls in den USA im Jahr 2015 gegründeten „Atomwaffen Division“ (AWD) vorangetrieben, die das „Siege-Phänomen“ zu einer Interneterscheinung entwickelte, die über diverse Chatgruppen mit Memes, Videos und plakativen Symbolen auch optischen Wiedererkennungswert erlangte.

Wenngleich die „Siege-Ideologie“ ihren Schwerpunkt in den USA hat, gewinnt sie zunehmend auch in Deutschland zumeist junge radikalisierte Anhänger, die von Gruppierungen wie der AWD rekrutiert werden können. So werden auch in Deutschland immer wieder Einzelpersonen und Gruppierungen festgestellt, welche die „Siege-Ideologie“ verbreiten. Zu nennen sind hier etwa Ableger internationaler Gruppierungen wie die „AWD Deutschland“ (AWDD) und die „Feuerkrieg Division Deutschland“ (FKDD). Dabei sorgt die zunächst verbale Radikalisierung im Internet durchaus auch für reales Gefährdungspotenzial.

In Deutschland hat bereits mindestens ein Anhänger der FKDD konkrete Vorbereitungshandlungen für einen Anschlag getroffen: Der Mann wurde im Dezember 2020 wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach § 89a StGB vor dem LG Nürnberg-Fürth zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung mit anschließender Führungsaufsicht verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Er hatte in einem FKDD-Forum Planungen zu einem Anschlag gepostet, mutmaßlich auf eine Synagoge oder eine Moschee. In seinem Urteil sah es das Gericht als erwiesen an, dass der Mann einen Anschlag bereits konkret geplant hatte. Der Fall des FKDD-Anhängers zeigt zum einen, welche radikalisierenden Ausmaße ein andauernder Austausch über rechtsextremistische Gewaltfantasien im Internet annehmen kann.18 Zum anderen hebt er hervor, wie wichtig es ist, dass die Sicherheitsbehörden weiterhin intensiv die dynamischen Aktivitäten rechtsextremistischer Akteure im virtuellen Raum beobachten, um ihnen entgegenwirken zu können.

Darüber hinaus ist die Verbreitung der „Siege-Ideologie“ über Landesgrenzen und Sprachräume hinaus beispielhaft für die dynamische Internationalisierung rechtsterroristischer Inhalte und betont die Notwendigkeit einer internationalen Kooperation der Sicherheitsbehörden.

 

3 Prognose


Es steht zu erwarten, dass sich das neonazistische Spektrum weiterhin auf dem relativ hohen Personenpotenzial von ca. 8.500 Personen (2021) bewegen wird. Gegen ein rapides Anwachsen spricht zum einen die in dem Spektrum geforderte ideologische Überzeugung und Festigkeit, die auch die Bereitschaft zum organisierten und disziplinierten, auf Langfristigkeit ausgelegten, politischen Arbeiten voraussetzt. Hierzu ist das zahlenmäßig nahezu doppelt so große, schwache Bindungen aufweisende subkulturelle Milieu in den meisten Fällen nicht bereit. Kriminalistisch spricht die höhere organisierte Gewaltanwendung (kriminelle Vereinigung gem. 129 StGB bzw. Bildung einer terroristischen Vereinigung gem. §129a StGB) gegen einen wesentlichen Aufwuchs des Spektrums: Es ist aus taktischer Perspektive eben einfacher, wie in Chemnitz 2018 im Rahmen einer Demonstrationslage aus dem subkulturellen rechtsextremistischen Spektrum geschehen, einen Polizeibeamten mit einer Kampfsporttechnik anzugreifen, als langfristig und organisiert in einer Gruppe (schwer)kriminelle (Gewalt)Straftaten zu begehen.

 

4 Handlungsempfehlungen

 

  • Verstärkte Aufklärung des Bereichs Neonazismus durch die Nachrichtendienste von Bund und Länder, insbesondere vor dem Hintergrund der hier besonders hohen Wahrscheinlichkeit der Transformation in den Rechtsterrorismus.
  • Konsequente Strafverfolgung unter Verbot von neonazistischen Gruppierungen durch das BMI. Zwar verschwindet durch ein Verbot die Ideologie und das sie tragende Personenpotenzial nicht, doch werden Planungen und die Netzwerksstruktur der Szene kurz- und mittelfristig gestört.
  • Präventionsansätze im Bereich des subkulturellen Rechtsextremismus: Ziel muss es sein, den Schritt in den ideologisch gefestigten Neonazismus zu verhindern. Hier sollten auch Widersprüche innerhalb der Szene genutzt werden. Bei Weitem nicht alle Neonazis begrüßen die vom subkulturellen Spektrum auch sehr stark unter kommerziellen Gesichtspunkte bearbeiteten Handlungsfelder Musik und Kampfsport, zumal die Mehrheit der Besucher keine lange Szenezugehörigkeit aufweist und auch wenig Interesse an der Ideologie des Nationalsozialismus erkennen lässt. Das Interesse gilt eher dem nächsten „cage fight“ bzw. dem Erhalt eines hohen Alkoholpegels während einschlägiger Veranstaltungen, die entsprechend durch eine aus Sicht der neonazistischen Szene stark mangelhaften Disziplin negativ auffallen.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist Dozent für Staats-und Gesellschaftswissenschaften im Fachbereich Bundespolizei der Hochschule des Bundes in Lübeck.
  2. Bundesministerium des Innern (2022), Verfassungsschutzbericht 2021, S. 53.
  3. www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Startseite/Arbeitsfelder/Der+III_+Weg, abgerufen: 15.7.2020.
  4. Puls, Hendrik. Analyse „Die Rechte“ als neue Bewegungspartei des Neonazismus. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28.1 (2015): 160-164.
  5. www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Startseite/Arbeitsfelder/Subkulturell+gepraegter+Rechtsextremismus, abgerufen: 17.7.2020.
  6. Kausch, Stefan, and Gregor Wiedemann. „Zwischen» Neonazismus «und» Ideologien der Ungleichwertigkeit«“ Ordnung. Macht. Extremismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2011. 286-306.
  7. Gräfe, Sebastian. Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland: zwischen erlebnisorientierten Jugendlichen, „Feierabendterroristen“ und klandestinen Untergrundzellen. Vol. 34. Nomos Verlag, 2017.
  8. Bundesministerium des Innern (2022), Verfassungsschutzbericht 2021, S. 53.
  9. Bundesministerium des Innern (2022), Verfassungsschutzbericht 2021, S. 53.
  10. Bundesministerium des Innern (2022), Verfassungsschutzbericht 2021, S. 50.
  11. www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Ministerium-verbietet-Neonazi-Gruppe-Nationale-Sozialisten-Rostock,rechtsextremismus450.html, abgerufen: 16.6.2022.
  12. www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung-vom-06-04-2022.html, abgerufen: 16.6.2022.
  13. www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung3-vom-02-06-2022.html?nn=478184, abgerufen: 16.6.2022.
  14. Grumke, Thomas, and Bernd Wagner, eds. Handbuch Rechtsradikalismus: Personen-Organisationen-Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Springer-Verlag, 2013.
  15. www.belltower.news/siege-james-masons-anleitung-zum-rassenkrieg-fuer-die-atomwaffen-division-94551/, abgerufen: 16.6.2022.
  16. Ware, Jacob. „Siege: The Atomwaffen Division and rising far-right terrorism in the United States.“ Terrorism and Political Violence 20 (2008): 417.
  17. Häusler, Alexander and Schedler, Jan. „Neonazismus in Bewegung: Verortung der ‚Autonomen Nationalisten ‘in der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung Neonazismus in Bewegung.“ Autonome Nationalisten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. 305-323.
  18. Thein, Martin. Wettlauf mit dem Zeitgeist – der Neonazismus im Wandel. Cuvillier Verlag, 2009.

 

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