„Geh´ mit (k)einem Fremden mit…!“

Kriminalprävention in der Praxis (Teil 2)


Von Rudi Heimann und Dr. Jürgen Fritzsche, Selters/Luxemburg1

 

2.1 Sally-Anne-Test


Eine Möglichkeit, um die Fähigkeit eines Kindes zu testen, ob es die Ansichten oder Perspektiven anderer Personen von den eigenen zu unterscheiden vermag, ist der Sally-Anne-Test.2
Dabei wird dem Kind die kurze Geschichte von Sally und Anne erzählt – möglicherweise auch mit einem Puppenspiel visualisiert. Sally und Anne sind in einem Zimmer. Sally hat einen Korb und Anne eine Box. Sally nimmt eine Murmel und versteckt diese in ihrem Korb. Dann verlässt sie den Raum und geht spazieren. Während ihrer Abwesenheit nimmt Anne die Murmel aus Sallys Korb und legt sie in ihre eigene Box. Sally kehrt in den Raum zurück und dem Kind wird die Schlüsselfrage „Wo wird Sally nach ihrer Murmel suchen?“ gestellt. Antwortet das Kind richtigerweise, dass Sally glaubt die Murmel sei noch immer in ihrem Korb, zeigt dies, dass das Kind versteht, dass Sally eigene Überzeugungen hat, die möglicherweise nicht der Wirklichkeit entsprechen. Antwortet das Kind, dass die Murmel in der Box sei, war es ihm nicht möglich, sich in die Perspektive von Sally hinein zu denken.

 

2.2 Weitere Hilfestellungen


Je vertrauter einem Kind die soziale Umgebung ist, desto wahrscheinlicher können Kinder über Ursache-Wirkungs-Verhältnisse reflektieren.3 Die Flexibilität des Denkens führt dazu, dass sie mehrere Aspekte und damit mehrere Sichtweisen ein und derselben Situation betrachten können. Während jüngere Kinder noch die Angewohnheit aufweisen, bei einer Aufgabe zu verharren, zeigen Grundschulkinder die Fähigkeit, sich wechselnden Anforderungen anzupassen und darauf zu reagieren. Dies beinhaltet auch raschere und zielführendere Planungen eigener Handlungen. Je mehr soziale Vergleiche mit Gleichaltrigen wahrgenommen werden, desto differenzierter, umfassender und realistischer werden Selbsteinschätzungen vorgenommen. Die Schule fördert diese Tendenz und dies insbesondere dadurch, wenn die Leistungen durch Notengebung wiederholt miteinander verglichen werden. Die Kinder beginnen übergreifende Konzepte zu bilden („Ich kann gut schwimmen und schieße viele Tore – damit bin ich sportlich“). Neben der eigenen Einschätzung haben die Anerkennung und der Zuspruch von Erwachsenen und Gleichaltrigen einen Einfluss auf das Selbstwertgefühl. Selbst Kinder, die ihre Leistungen in sämtlichen Bereichen eher gering einschätzen, können bei entsprechender Unterstützung und Wertschätzung durch das soziale Umfeld ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln, wenn ihnen der Eindruck vermittelt wird, dass sie so, wie sie sind, anerkannt werden. Im Gegenteil kann ein Kind, das zwar diese Anerkennung erfährt, jedoch ständig an seinen eigenen Leistungsansprüchen scheitert, ein geringes Selbstwertgefühl haben. Dieser Entwicklung kann entgegengewirkt werden, indem durch ein ausgewogenes Verhältnis von Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen ein realistisches Selbstbild gefördert wird4. Bereits Kleinkinder streben danach, sich so viele Erfolgserlebnisse wie möglich zu verschaffen, weil sie dadurch ihre Autonomie stärken. Sie erleben und begreifen sich selbst immer mehr als Individuum und entwickeln eine erstaunliche Willensstärke, wenn es darum geht, ihre Ziele zu verfolgen. Eines der typischsten Beispiele für bestätigende Erfolgserlebnisse ist das Laufen lernen. Häufig finden die entmutigenden Versuche der Kleinkinder fernab von elterlichen Beobachtungen, und damit abseits von Lob, statt. Die Belohnung liegt in der erfolgreichen Bewältigung und erst in zweiter Instanz in der Anerkennung durch die Umgebung. Andererseits müssen Kinder und Jugendliche lernen, mit Misserfolgen umzugehen. Sie beobachten immer wieder, dass sie im Vergleich mit anderen an ihre Grenzen stoßen, weil sie bestimmte Dinge nicht so gut können wie andere. Dieses frustrierende Ereignis ist im Laufe des Heranwachsens unausweichlich und sollte durch die Eltern zugelassen werden. Kinder und Jugendliche müssen lernen, in solchen Situationen nicht an sich selbst zu zweifeln, sondern die Misserfolge entweder hinzunehmen oder sich dazu entschließen, aktiv zu werden, um doch noch Erfolg zu haben. Dies kann gelingen, indem sie beispielsweise um Hilfe bitten oder die Motivation aufbringen, zu üben und die eigenen Fähigkeiten zu trainieren und zu verbessern. Der Selbstwert wird zudem nicht nur von schweren, sondern auch durch regelmäßige leichte Körperstrafen negativ beeinflusst.5 Diese Strafen bergen zudem die Risiken von:

 

  • einer Eskalation der Gewalt in der Familie
  • schweren psycho-sozialen Auffälligkeiten (Ängstlichkeit, Kontaktarmut, Drogensucht)
  • anti-sozialen Verhaltensweisen (Aggressivität oder fehlende Empathie)
  • Lernen von Gewalt zur Konfliktlösung (Kreislauf der Gewalt)
  • höherer Kriminalitätsneigung der Kinder (insbesondere häufigere Gewaltdelikte)
  • Daher ist es wichtig, so früh als möglich wirksame Alternativen zu nutzen oder Verhaltensweisen in die Erziehung einzubinden, die unabhängig von entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten die Sicherheit von Kindern erhöhen. Und dies geschieht idealerweise mit einer Wirksamkeit, die über die Kinderzeit und das Jugendalter hinaus reicht.

 

3 Eine Alternative


Die oft gehörte Warnung vor Fremden hat seine in diesem Beitrag aufgezeigten Grenzen und kann bei vertiefender Betrachtung keinesfalls die Wirkung erzielen, die Eltern oder andere Erziehungsverantwortliche damit gerne erreichen würden. Interpretationsspielräume, Verständnisprobleme, Zielgruppenungenauigkeit, altersbedingte und damit entwicklungspsychologische Grenzen machen das Befolgen der Verhaltensmaßregel für Kinder unter Umständen unmöglich. Bei der hier vorgeschlagenen Alternative spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Sie bestimmen über unsere gesamte Lebenszeit als Auslöser das menschliche Handeln und wirken auch bei kognitiven Entscheidungsprozessen in bedeutender Weise mit. Dabei ist unser Bestreben grundsätzlich, angenehme Emotionen zu erzielen und unangenehme Emotionen zu vermeiden oder wenn letztere vorhanden sind, diese zu reduzieren. Die Emotionen selbst treten ab bestimmten Zeitpunkten im Verlauf der Kindheit erstmalig auf und erfüllen in Bezug auf die Person selbst sowie die soziale Umgebung unterschiedliche Funktionen. Bedeutend ist hier die Emotion der Furcht, die etwa ab dem neunten Monat feststellbar ist. Dass ein Kind Gefahr wahrnimmt, ist die Grundvoraussetzung, um eine Gefahr zu identifizieren und die natürlichen Flucht- oder Angriffstendenzen zu auszulösen.

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