Wissenschaft  und Forschung

Die Propaganda der RAF zwischen Wahn und Wirklichkeit 1970-1998

Täter als Opfer und Opfer als Täter

 


Von Dr. Harald Bergsdorf, Dümpelfeld*

 

1 Einleitung


Am 14. Mai 1970 befreiten Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und weitere RAF-Kader den inhaftierten Andreas Baader während eines Freigangs in einer Bibliothek. Hierbei verletzten sie einen Angestellten schwer. Die Tat gilt als Gründungsdatum der RAF. 50 Jahre danach und über 20 Jahre nach ihrer Selbstauflösung am 20. April 1998 beschäftigt die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) weiterhin Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Gerade Jahrestage liefern Anlässe, sich mit der RAF zu befassen, deren Mordserie bis heute partiell unaufgeklärt ist, darunter die Attentate auf Ernst Zimmermann 1985, Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler 1986, Gerold von Braunmühl 1986, Alfred Herrhausen 1989 und Detlev Karsten Rohwedder 1991.

Einige Filmemacher, Journalisten, Publizisten und Wissenschaftler zieht die mörderische RAF-Geschichte bis heute sogar in ihren Bann. Das Abtauchen einer kleinen Gruppe junger Leute in den Untergrund, ihr terroristischer „Kampf“ gegen die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft und ihre offenkundige Bereitschaft, nach dem Motto „Sieg oder Tod“ sowohl zu morden als auch selbst zu sterben, verströmen immer noch eine „morbide Faszination“ (Petra Terhoeven). Das umso mehr, weil die meisten RAF-Terroristen, insbesondere RAF-Führungspersonen, nicht als abgehängte Außenseiter geboren und aufgewachsen waren, sondern oft aus gehobenen, religiös und bildungsbürgerlich geprägten Milieus stammten. Aus den sozialen Souterrains der Gesellschaft kam lediglich eine Minderheit in der RAF, darunter Petra Schelm, Verena Becker und Peter-Jürgen Boock.

Inzwischen sind zahlreiche Gesamtdarstellungen über die RAF erschienen. Zugleich mangelt es weiterhin an Spezialstudien zum Beispiel über die Rolle der RAF-Anwälte, die sich mehrheitlich als „Genossen“ der Täter verstanden. Ebenso fehlt es an biographischen Untersuchungen über Führungsfiguren der sogenannten 2. und 3. RAF-Generation wie vor allem Brigitte Mohnhaupt und Birgit Hogefeld – beide liefern Beispiele für die fast durchgängige Dominanz von Frauen in RAF-Führungspositionen, wohingegen Männer als Täter in der allgemeinen Kriminalität deutlich überrepräsentiert sind. Ein weiteres Desiderat besteht nicht nur in Studien über prominente und vor allem nicht-prominente RAF-Opfer und ihre Hinterbliebenen, sondern auch in Analysen der RAF-Propaganda, die einen wesentlichen Beitrag zum fast dreißigjährigen Überleben der Terrorgruppierung leistete. Die RAF betrieb eben auch eine Kommunikationsstrategie, um durch Propaganda eine Diskurs- und Deutungshoheit über die eigenen Verbrechen zu erlangen. Letztlich wollte die RAF sowohl Schrecken erzeugen als auch durch Propaganda größere gesellschaftliche Gruppen für ihre revolutionären Ziele gewinnen und mobilisieren.

 

2 Selbstviktimisierung


Zu den zentralen Kennzeichen der RAF-Propaganda gehörte es, auf Basis ihrer „Antifaschismus“-Doktrin eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben, das heißt: RAF-Täter zu viktimisieren und RAF-Opfer zu entmenschlichen bzw. zu animalisieren – u.a. als „Kapitalisten-, Bullen- und Nazischweine“. Im Kern präsentierte die RAF die Opfer ihrer Mordanschläge als die angeblich wirklichen Täter. Um ihre Morde als „Gegengewalt“ und „Notwehr“ zu legitimieren, hatte sie bereits in ihrem „Konzept Stadtguerilla“ von 1971 proklamiert: „Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen“. Später befand sie in ihrer Auflösungserklärung 1998: „Wir haben gewalttätige Verhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet“.

Schon die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch den Schusswaffeneinsatz des Polizisten Karl-Heinz Kurras hatten spätere RAF-Gründer genutzt, um zum gewalttätigen Kampf gegen die Bundesrepublik zu mobilisieren. Hierbei hatten sie sich durchaus nicht nur auf Fiktionen, sondern partiell auch auf Fakten gestützt. Denn zum einen hatte Kurras den unbewaffneten Studenten, der als Pazifist galt und in einer evangelischen Studentengemeinde aktiv war, von hinten erschossen. Zum anderen hatte der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Täter vor Gericht sogar einen Freispruch wegen schuldausschließender Notwehr („putativer Notwehr“) errungen, weil er irrigerweise hatte glaubhaft machen können, sich durch den unbewaffneten Studenten mit einem Messer angegriffen gefühlt zu haben. Nicht nur spätere RAF-Gründer empörte damals sowohl die Tötung des Unbewaffneten als auch der Freispruch des Täters.

Später nutzte die RAF die Tötung Ohnesorgs und den Freispruch Kurras für ihre pauschale Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und zur Legitimation ihrer Morde – dass der später als MfS-Zuträger enttarnte Todesschütze Kurras sein Opfer Ohnesorg im Auftrag der SED ermordet hat, lässt sich bislang nicht belegen, würde aber wenig verwundern. Gudrun Ensslin hatte bereits kurz nach der Tötung Ohnesorgs durch Kurras appelliert: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Das ist die Generation von Auschwitz! Wir müssen Widerstand leisten. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden.“ Die „Bewegung 2. Juni“, später unter Übernahme einer stattlichen Mitgift teilweise in der RAF aufgegangen, instrumentalisierte das Datum der Tötung Ohnesorgs bereits in ihrer Selbstbezeichnung, um ihren Terror als „Gegengewalt“ zu legitimieren.

Im Kampf gegen den angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ hatte Ulrike Meinhof bereits im Juni 1970 den Einsatz von Schusswaffen gegen Polizeibeamte als Vertreter des „faschistischen Repressionsstaates“ propagiert, der in seiner realen Ausrichtung weit entfernt vom NS-Unrechtsstaat war (und ist). Das gilt (und galt) auch nach dem parlamentarischen Beschluss der Notstands- und der Antiterrorgesetze, die aus RAF-Sicht eine Neuauflage von NS-Gesetzen bedeuteten, womit die RAF die Hitler-Diktatur verharmloste. In ihrem „Schießbefehl“ hatte die RAF-Propagandachefin appelliert: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. D.h. wir haben nicht mit ihm zu reden...und natürlich kann geschossen werden!“ Denn Aufgabe der „Bullen“, denen sie das Menschsein abspricht, sei es, die „Verbrechen des Systems zu schützen“.

Seite: 123weiter >>