Recht und Justiz

Die Ahndungsbestimmungen im VersG NRW

Abkehr von einem liberalen Verständnis der Versammlungsfreiheit?

 

Von Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms1

 

Am 15.12.2021 ist das Versammlungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (VersG NRW) verabschiedet worden.2 Dies stellt grundsätzlich eine schlüssige Konsequenz aus der Föderalismusreform I dar, durch die das Versammlungsrecht im Jahr 2006 aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes entlassen wurde.3 Fraglich ist allerdings, ob damit auch ein inhaltlich überzeugendes, praktikables und den Anforderungen des Art. 8 GG gerecht werdendes Normengefüge geschaffen wurde.4 Insbesondere die sehr restriktiven und zum Teil unabgestimmten Ahndungsbestimmungen lassen Zweifel aufkommen.

 

1 Grundlegung


Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Sie stellt ein Stück demokratischer Offenheit und eine wichtige Ventilfunktion speziell für Unzufriedene dar. Der hoheitliche Umgang mit ihr bedarf eines besonderen Maßes an Sensibilität, da häufig verschiedene Interessen austariert werden müssen.5 Dies ist bereits dem „Brokdorf-Beschluss“ des BVerfG6 zu entnehmen, der berechtigt als „Lehrbuch des Versammlungsrechts“ und „Magna Charta der Versammlungsfreiheit“ bezeichnet wird,7 und gilt auch in schwierigen Zeiten, wie der aktuellen Corona-Pandemie.8 Problematisch ist die fehlende Bestimmtheit des versammlungsrechtlichen Normengefüges, die auch nach der Föderalismusreform I fortbesteht. Von der neuen Gesetzgebungskompetenz haben bisher nur die Länder Bayern, Berlin, teilweise Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und nunmehr auch Nordrhein-Westfalen Gebrauch gemacht – und dies trotz vorliegender Musterschriften9 in sehr unterschiedlicher Form. Eine wünschenswerte Angleichung ist nicht festzustellen.10 Daneben gelten gemäß Art. 125a Abs. 1 GG in allen Ländern, in denen die bundesrechtlichen Regelungen nicht ersetzt wurden, diese auf unbestimmte Zeit und mit allen bekannten Mängeln fort, so dass der bestehende Zustand andauern dürfte. Die Neufassung eines bereichsspezifischen Landesgesetzes hat dabei durchgehend die Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers in den Blick zu nehmen. Zweifellos erforderliche hoheitliche Befugnisse sind stets mit der Zielstellung einer rechtsstaatlich klaren Begrenzung zu formulieren.

 

2 Gesetzgebungsverfahren


Dem Koalitionsvertrag für die Legislaturperiode 2017 bis 2022 folgend hat die Landesregierung NRW am 21.1.2021 den Gesetzentwurf zur Einführung eines nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes und zur Änderung weiterer Vorschriften eingebracht (VersGEinfG NRW).11 Zuvor war bereits am 3.11.2020 die Fraktion der SPD mit dem Entwurf eines Versammlungsfreiheitsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen initiativ geworden (VersFG NRW).12 Beide Vorlagen enthalten – trotz deutlicher Unterschiede in der Ausrichtung – überzeugende Ansätze und stellen Verbesserungen zum geltenden Rechtszustand dar. Dabei ist die Vorlage der Landesregierung eher restriktiv gefasst und stellt die Sanktionierung von Rechtsverstößen als bedeutsames Instrument im Versammlungsgeschehen besonders heraus. Ahndungsnormen werden als wichtiges Mittel bezeichnet, um „jedenfalls nachträglich die Verbindlichkeit der Verwaltungsakte und sonstigen behördlichen Ge- und Verbote zu verdeutlichen“. Zugleich wird es als „eher fernliegende und nicht zustimmungsfähige Einschätzung“ betrachtet, „dass die sanktionsbewehrte Einforderung der Beachtung des geltenden Rechts in einem Rechtsstaat eine Art Einschüchterungswirkung auslösen könnte“.13 Inhaltlich weicht der Entwurf deutlich von den zuletzt verabschiedeten freiheitsbetonenden Landesgesetzen in Schleswig-Holstein (VersFG SH) und Berlin (VersFG BE) ab. In dem SPD-Entwurf wird hingegen in enger Anlehnung an den MEVersG, das VersFG SH und das VersFG BE die Interpretation als „Grundrechtsgewährleistungsrecht“ verfolgt und Versammlungen ein ausgesprochen freiheitlicher Rahmen zuerkannt.14 Nach Anhörungsverfahren15 und Ausschussberatungen16 erfolgte am 15.12.2021 mit der Zweiten Lesung im nordrhein-westfälischen Landtag die Ablehnung der SPD-Vorlage, während der Entwurf der Landesregierung in der Fassung der Beschlüsse des Innenausschusses17 mit den Stimmen von CDU und FDP angenommen wurde.18 Das Gesetz wurde am 17.12.2021 verkündet, trat am Folgetag in Kraft und ist damit seit dem 18.12.2021 in NRW geltendes Recht.

 

3 Regelungen mit Licht und Schatten


Das verabschiedete Gesetz ist ein Normengefüge mit Licht und Schatten. Überzeugend sind beispielsweise der konkret definierte Regelungsbereich einschließlich der Wirksamkeit bei nichtöffentlichen Versammlungen (§ 2 VersG), die Verpflichtung zur kooperativen Zusammenarbeit (§ 3 VersG), die Stärkung der Versammlungsleitung (§§ 5, 6 VersG), eine eingefügte Transferklausel in das allgemeine Polizeirecht (§ 9 VersG), die Regelung der Anzeigepflicht unter Berücksichtigung von Eil- und Spontanversammlungen (§ 10 VersG), Teile der auf Vorschlag des Innenausschusses nachgebesserten zentralen Befugnis für Beschränkungen, Verbot und Auflösung bei Versammlungen unter freiem Himmel (§ 13 VersG),19 die Berücksichtigung von öffentlichen Verkehrsflächen in Privateigentum (§ 21) sowie eine Berichts- und Evaluierungsklausel als rechtsstaatliche Sicherung (§ 34 VersG).20 Erkennbare Schwächen liegen hingegen insbesondere in der widersprüchlichen und nicht verfassungsrechtlichen Standards entsprechenden Begrenzung des zeitlichen Anwendungsbereichs (§ 9 Abs. 4 VersG),21 einer fehlenden Regelung über die Anwesenheit und Legitimation von Polizeikräften bei Versammlungen unter freiem Himmel,22 in systematisch unglücklich verankerten Ermächtigungen für Gefährderansprachen (§ 14 Abs. 1 VersG) und Meldeauflagen (§ 14 Abs. 2 VersG) sowie den lückenhaften Datenerhebungsnormen (§§ 16, 26 VersG).23

 

4 Ahndungsbestimmungen mit Einschüchterungspotenzial


Sehr kritisch sind die restriktiv ausgerichteten und teilweise unabgestimmten Strafrechtsnormen (§ 27 VersG) zu bewerten, die obrigkeitsstaatlicher Tradition entsprechen, mit denen entgegen der Gesetzesbegründung24 deutliches Einschüchterungspotenzial verbunden ist und die der Polizei im Lichte des Legalitätsprinzips25 zudem nur wenig Handlungsspielraum eröffnen. Damit wird aber zugleich die überragende Bedeutung der Versammlungsfreiheit verkannt und der repressive Teil des Gesetzes zu stark betont. An dieser Bewertung ändert auch der Hinweis auf die grundsätzliche Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Festlegung von Ahndungsvorschriften nichts.26 Zu bemängeln sind die im Gegensatz zu den Entkriminalisierungstendenzen im MEVersG, NVersG, VersFG SH und VersFG BE stehende Ausweisung zahlreicher Verhaltensweisen als kriminelles Unrecht sowie systematische Unstimmigkeiten, die trotz einiger Nachbesserungen im Gesetzgebungsverfahren27 nach wie vor unübersehbar sind. Der Charakter eines „Grundrechtsgewährleistungsrechts“ geht damit weitgehend verloren. Im Einzelnen sind folgende Regelungen kritisch zu beurteilen:

 

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