Kriminalitätsbekämpfung

Herausforderungen der Cyberkriminologie

Von Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Oranienburg*

4 Ein globales digitales Strafrecht?


Faktisch bräuchte ein globaler digitaler Raum auch ein gemeinsames globales Strafrecht, dass eine weitestgehend akzeptierte Wertevorstellung umfasst. Die Forderung eines globalen Strafrechts für den digitalen Raum ist dabei nicht neu, auch wenn es offenbar nicht mehr sehr präsent ist. Bereits im Jahr 2000 hat der damalige deutsche Innenminister Schily im Rahmen von Angriffen durch den Email Wurm „ILOVEYOU“ ein globales Strafrecht für das Internet gefordert und schon zu dem Zeitpunkt betont, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei (Kuri 2000). Erst jüngst hat sich die mangelnde Durchsetzungsmöglichkeiten eines nationalen Staates auf den global agierenden Messenger „Telegram“ mit Sitz in Dubai gezeigt (Hoven 2021). Dieser reagiert schlicht nicht auf Anfragen des deutschen Staates im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Hasskriminalität bzw. der Erfassung als Soziales Netzwerk nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und zeigt sich auch nicht sehr kooperativ in der Zusammenarbeit mit deutschen Sicherheitsbehörden (Metzger 2021). Dies zeigt auch im Umkehrschluss auf, dass die Durchsetzung nationaler Regeln doch stark auf ein „good will“ der beteiligten Firmen angewiesen ist, wenn das aber nicht vorhanden ist wird es schwierig. Gleichzeitig nutzen aber bereits 2019 etwa 8 Millionen Deutsche auch Telegram (Mehner 2021). Dabei werden die Telegram Nutzer hier auch mit problematischen Inhalten konfrontiert, sehen gleichzeitig aber, dass gerade die Sicherheitsbehörden offenbar kaum in der Lage sind hier Regeln durchzusetzen. Während die Menschen also physisch in dem einen Land sind und eigentlich wissen, dass sie dessen Regeln unterliegen, sind sie im virtuellen gleichzeitig in einer eigenständigen Sphäre unterwegs, in welcher der Staat wesentlich geringere Durchsetzungsmöglichkeit hat oder die vorhandenen nur selten anwendet.

 

5 Normalität digitaler Delikte?


Neben einer Vielzahl an Auswirkungen dieser Globalität auf die gefühlte und tatsächliche Strafverfolgungswahrscheinlichkeit im digitalen Raum, soll hier ein besonderer Punkt angesprochen werden. Die nur geringe Durchsetzung von nationalen Regeln, wird jedem Nutzer vermutlich nicht selten bei seiner täglichen Internetnutzung präsentiert. Bereits ein Blick in den Spamordner, konfrontiert viele Nutzer tagtäglich mit versuchten Betrugsdelikten in Form von Phishing-Emails. Eine Erhebung von Statista im Auftrag der Internet-Sicherheitsfirma GData ergab, dass 31% der Internetnutzer angaben, bereits Opfer von einer Phishing-Email geworden zu sein (GData 2021). Eine Studie der Bitkom ergab, dass sich die Anzahl der Nutzer, die noch nie Erfahrungen mit Kriminalität im Netz gemacht haben, seit 2018 von damals noch 40% auf nur noch 21% im Jahr 2021 fast halbiert hat (Bitkom 2021). Nach derselben Studie stieg zudem die Konfrontation mit digitaler Hasskriminalität an. Gaben 2020 nur 6% der Nutzer an damit selbst Erfahrung gemacht zu haben, waren es 2021 bereits 14% (Bitkom 2021). Besonders bedenklich sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse der JIM-Studie 2021, nach der 58% der befragten Minderjährigen von 12 bis 19 Jahren in einem Monat mit Hassbotschaften und 56% mit „extremen politischen Ansichten“ konfrontiert wurden (Feierabend et al. 2021, S. 62). Gleiches gilt auch für den Bereich der sexuellen Übergriffe, denen sich Minderjährige im Netz ausgesetzt sehen. Hier sticht vor allem Cybergrooming, also die onlinebasierte Anbahnung oder Intensivierung eines sexuellen Kindesmissbrauchs, hervor (Bruhn et al. 2021, S. 120; Rüdiger 2020). Eine repräsentative Studie der Landesanstalt für Medien NRW kommt für das Jahr 2021 zu dem Ergebnis, dass knapp jeder vierte befragte Minderjährige onlinebasierte Kontaktanbahnungen durch Erwachsene mit dem Ziel eines Treffens erlebt hat. Konkret berichteten 9% der 8- bis 9-jährigen, 14% der 10- bis 12-jährigen und 25% der 13- bis 15-jährigen sowie knapp 40% der 16- bis 18-jährigen von solchen Kontaktanbahnungen (Nennstiel und Isenberg 2021). Ähnlich viele Minderjährige haben auch erlebt, dass Erwachsene ihnen im Netz im Austausch für Bilder von ihnen beispielhaft virtuelle Items in Onlinespielen verspochen haben (Nennstiel und Isenberg 2021, S. 20). Auch wenn juristisch Cybergrooming unter § 176a Abs. 1 Nr. 3 und § 176b Abs. 1 StGB nur Kinder als Betroffene erfasst, sind dies aber Zahlen, die sich bereits länger in unterschiedlichen Studien mit ähnlichen Konfrontationshöhen widerspiegeln und es deutet viel auf eine erlebte Normalität dieser Übergriffe im Netz hin (Rüdiger 2020). Man kann es auch anders formulieren, bereits seit einiger Zeit werden Minderjährige und damit mittlerweile auch junge Erwachsene zumindest teilsozialisiert in einem digitalen Raum, der offenbar geprägt ist von diesem Erleben der Konfrontation mit Kriminalität und Normenbrüchen. Sie sind quasi mit einer Art Unrechtskultur im digitalen Raum aufgewachsen (Rüdiger 2019). Was dies eigentlich für Auswirkungen auf diese Generationen hatte und hat, ist bisher überraschenderweise weitestgehend unerforscht.

 

6 Hat die digitale Kriminalitätstransparenz Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der Menschen?


All diese Deliktsformen haben zumindest eine Besonderheit sie machen Kriminalität im Netz für die Nutzer transparent und zeigen gleichzeitig, dass offenbar viele TäterInnen keine allzu große Angst vor einer Strafverfolgung haben müssen, sonst würden sie ja vermutlich nicht mit so viele Delikten stetig konfrontiert werden. Kriminalität im Netz wird also in einer Form für die Nutzer wahrnehmbar, wie sie es aus dem physischen Raum in dieser Omnipräsenz nicht kennen. Das Ergebnis hiervon ist offenbar das Gefühl, dass der Rechtsstaat im Netz weitestgehend versagt. Im Rahmen der bereits zitierten Bitkom Studie stieg der Anteil derjenigen die mehr Angst vor Kriminalität im Netz, als vor solcher im analogen Raum haben, von 39% im Jahr 2020 auf 48% im Jahr 2021 (Bitkom 2021). Man könnte es vermutlich auch anders formulieren, die Frage, ob Menschen Kriminalitätsfurcht haben, scheint immer mehr von ihrem Onlineerleben beeinflusst zu werden. Demgemäß glauben auch nur 6%, dass „Internetkriminalität in der öffentlichen Debatte übertrieben dargestellt“ werde (Bitkom 2021).

Vielleicht ist diese Situation auch eine der Erklärungen dafür, warum seit Jahren eine Diskrepanz zwischen polizeilich registrierten Anzeigen (die an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden) (PKS) und dem Sicherheitsgefühl der Menschen in Deutschland besteht (vgl. hierzu u.a. Bruhn et al. 2021). Nach einer Studie der Konrad Adenauer Stiftung gehen Ende 2021 52% der dort Befragten davon aus, dass Kriminalität in Deutschland in den letzten fünf Jahren etwas (36%) bis stark (26%) zugenommen hat (Konrad Adenauer Stiftung 2021). Teilweise scheint in der Innenpolitik ein Art Unverständnis zu herrschen, warum die Leute eigentlich eine so „falsche Wahrnehmung“ von Kriminalität haben, wenn diese doch vermeintlich zurückgeht.

Tatsächlich verzeichnet die PKS seit dem Jahr 2015 einen kontinuierlichen Rückgang von 6.330.649 Fällen auf 5.310.621 Fälle im Jahr 2020, was einer Verminderung von etwas über 16% der angezeigten Handlungen entspricht (BMI 2021b). Diese ist insofern überraschend, da im selben Zeitraum die Bevölkerungszahl Deutschlands mit etwa 83,1 Millionen Einwohnern im Jahr 2021 stetig angestiegen ist und mittlerweile einen Höchststand erreicht hat (Statistisches Bundesamt 2021). Dieser Deliktsrückgang gilt jedoch nicht für Delikte im Zusammenhang mit dem Tatmittel Internet.

Bereits im ersten Halbjahr 2021 sollen so viele kinderpornographische Delikte bei der Polizei zur Kenntnis gekommen sein wie die gesamte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2020 zu registrieren hatte (Welle 2021). Dabei hatte die PKS 2020 mit 18.761 Fällen bereits einen signifikanten Anstieg, um knapp 55% im Verhältnis zu 2019 mit 12.262 Fällen, zu verzeichnen (BMI 2021b). Sollte sich diese Entwicklung tatsächlich bewahrheiten, würden sich die Fallzahlen in der PKS 2022 bei etwa 40.000 Fällen einpegeln. Noch im Jahr 2015 lagen die Fallzahlen bei lediglich 5.687, dies würde, wenn es so eintritt, also einen Anstieg von etwa 600% seit dem bedeuten. Entsprechend warnt der Präsident des Bundeskriminalamt auch davor, dass „die deutliche Zunahme solcher Fälle die Polizei zunehmend an Kapazitätsgrenzen bringen (wird) … “ (Welle 2021). Dabei muss davon ausgegangen werden, dass diese Entwicklung vornehmlich durch internetbasierte Modi Operandi getragen wird. Von den 18.761 Fällen in der PKS 2020 wurden 12.516 über das Tatmittel Internet begangen, auch der Anstieg der internetbasierten Delikte entspricht 56% und ähnelt damit dem Anstieg der Gesamtzahlen in diesem Bereich (BMI 2021a). Dieser Anstieg ist sicherlich auch auf die oben beschriebenen automatischen Meldungen über die Cybertipline von NCMEC zurückzuführen (NCMEC 2021a).