Recht und Justiz

Gesetzliche Änderungen im Sexualstrafrecht

Von Prof. Dr. Dennis Bock und Cathrin Lebro, Kiel

 

1 Einführung

 

Kaum ein Deliktsbereich im Strafgesetzbuch unterlag in den vergangenen Jahrzehnten einem so starken Wandel wie das Sexualstrafrecht.2 Angesichts der hohen medialen Aufmerksamkeit und der gesellschaftlichen Brisanz der Thematik waren und sind die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches immer wieder Gegenstand von Reformbestrebungen. Obgleich erst durch das 49. StrÄndG vom 21.1.20153 sowie das 50. StrÄndG v. 4.11.20164 weitreichende Änderungen, Erweiterungen und Umstrukturierungen des Abschnitts vorgenommen wurden, setzte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas im Jahr 2015 eine Reformkommission zur Untersuchung der (weiteren) Reformbedürftigkeit des Sexualstrafrechts ein. Diese attestierte in ihrem 2017 vorgelegten Abschlussbericht das Erfordernis einer grundlegenden Neuordnung und Neusystematisierung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches.5 Vorgeschlagen wurde dabei etwa die Streichung von Tatbeständen sowie die Einführung eines minder schweren Falles auch für den schweren Kindesmissbrauch.6 Nachdem aber im Jahr 2020 die bekanntgewordenen Kindesmissbrauchsfälle von Staufen, Bergisch-Gladbach, Lüdge und Münster die mediale Aufmerksamkeit erregten, häuften sich die politischen Forderungen nach härteren Strafen.7 Der Gesetzgeber gab diesem öffentlichen Druck nach, und so trat am 1.7.2021 das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder8 in Kraft, in dem die kritischen Stimmen der Sachverständigen weitgehend unberücksichtigt blieben.9 Eine weitere – punktuelle – Änderung des Sexualstrafrechts erfolgte noch durch das am 14.9.2021 verabschiedete Gesetz zur Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern.10


Der folgende Beitrag nimmt diese Reformen zum Anlass, um anknüpfend an den im vergangenen Jahr erschienenen systematischen Überblick zu den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung11 die wichtigsten Änderungen in Bezug auf das Sexualstrafrecht darzustellen.


Hinzuweisen ist darauf, dass angesichts des Ruhens der Verjährung gem. § 78b I Nr. 1 StGB bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers auch die früheren Gesetzesfassungen aktuell noch praktische Bedeutung haben. Schließlich gilt für „Altfälle“ gem. § 2 I StGB grundsätzlich das Tatzeitrecht, wenn nicht § 2 III StGB die Anwendung eines späteren Gesetzes vorschreibt.12

 

2 Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16. Juni 2021


Der deutsche Gesetzgeber sieht die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder als eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderung dieser Zeit und als zentrale Aufgabe des Staates an.13 Mit Blick auf den technischen Wandel und der damit einhergehenden veränderten Art der gegen die Kinder gerichteten Straftaten habe sich das Gefährdungspotenzial für Kinder in der virtuellen und realen Welt gleichermaßen erhöht.14 Angesichts der gestiegenen Fallzahlen im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Verbreitung, des Besitzes und der Besitzverschaffung von Kinderpornographie bestünde ein gesteigerter politischer Handlungsbedarf.15 Zur Verwirklichung des Ziels, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, enthält das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in erster Linie eine Verschärfung des Strafrechts, um potentielle Täter abzuschrecken.16 Daneben sieht es weitreichende Maßnahmen in den Bereichen Strafverfolgung, Prävention und Qualifizierung der Justiz vor.17

 

2.1 Änderungen im Strafgesetzbuch

2.1.1 §§ 174 ff. StGB

Unter Berücksichtigung einiger Vorschläge der Reformkommission18 sind zunächst die §§ 174 ff. StGB, die den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie den Missbrauch institutioneller Abhängigkeit erfassen, geändert worden.

2.1.1.1 § 174 StGB

Durch die Gesetzesänderung wurde in § 174 StGB die Altersschutzgrenze der Tatopfer auf 18 Jahre vereinheitlicht, indem das Schutzalter in § 174 I Nr. 1 StGB auf 18 Jahre heraufgesetzt und § 174 I 2 StGB entsprechend angepasst wurde. Zuvor wurde bei einem Missbrauch im Rahmen von Erziehungs-, Ausbildungs- oder Betreuungsverhältnissen zwischen Personen unter 16 Jahren und Personen zwischen 16 und 18 Jahren differenziert. Während bei den Personen unter 16 Jahren bereits das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses den Missbrauch indizierte, musste i.Ü. ein Ausnutzen dieses Abhängigkeitsverhältnisses hinzukommen. Zudem wurde jeweils ein Satz in die Absätze 1 und 2 eingefügt, der auch Tathandlungen unter Einbeziehung Dritter unter Strafe stellt. Strafbar macht sich demnach auch, wer den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass er sexuelle Handlungen an oder vor einer dritten Person vornimmt oder von dieser an sich vornehmen lässt. Zuletzt wurde der Anwendungsbereich des Straftatbestands von § 174 III StGB, der Handlungen ohne körperlichen Kontakt zwischen Schutzbefohlenen und dem Opfer betrifft,19 ausgeweitet, indem das einschränkende Tatbestandsmerkmal der Erregungsabsicht für § 174 III Nr. 2 StGB gestrichen wurde.

2.1.1.2 §§ 174a-c StGB

Der Tatbestand des § 174a StGB, der den sexuellen Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen unter Strafe stellt, wurde ebenfalls um Tathandlungen unter Einbeziehung Dritter erweitert.20 Gleiches gilt für den sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung nach § 174b StGB sowie den sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses nach § 174c StGB.21

2.1.2 §§ 176 ff. StGB

Während die §§ 174 ff. StGB nur kleinere Änderungen erfahren haben, wurden die Normen der §§ 176 ff. StGB, die den sexuellen Missbrauch von Kindern, also Personen unter 14 Jahren, zum Gegenstand haben, grundlegend umgestaltet und mit erheblichen Strafschärfungen und z.T. auch Straferweiterungen versehen.

2.1.2.1 Systematische Umgestaltung

Ziel der systematischen Neuordnung der §§ 176 ff. StGB war es, die Übersichtlichkeit innerhalb der Straftatbestände zu verbessern.22

2.1.2.1.1 § 176 StGB

Die Vorschrift des § 176 StGB stellt den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe und erfasst im Gegensatz zu der Vorgängerregelung nur noch Tatbestandsvarianten mit Körperkontakt zum Kind und die zugehörigen Vorfeldhandlungen.23 Die Tathandlungen des § 176 I, II StGB a.F. gehen inhaltlich unverändert in § 176 I Nr. 1, 2 StGB auf. Das zuvor in § 176 V i.V.m. § 176 I, II StGB a.F. geregelte Anbieten eines Kindes und das Versprechen des Nachweises eines Kindes für eine Tat nach § 176 I Nr. 1, 2 StGB n.F. findet sich nun in § 176 I Nr. 3 StGB n.F.24 Aus Verhältnismäßigkeitsgründen sieht § 176 II StGB für Fälle einvernehmlicher sexueller Handlungen annähernd gleichaltriger Personen eine Regelung vor, nach der im Einzelfall von einer Strafverfolgung abgesehen werden kann.


Beispiel: Die 14-jähirge A gibt ihrem 13-jährigen Freund B einen Zungenkuss.


Mit der Kriminalisierung von Handlungen, die für die sexuelle Entwicklung von Kindern bzw. Jugendlichen wichtig sind, würde der gesetzgeberische Zweck der §§ 176 ff. StGB, nämlich die Möglichkeit des Kindes zur ungestörten Ausbildung der sexuellen Selbstbestimmung, konterkariert.25 Der Abs. 2 soll daher einen Freiraum sexueller Selbsterprobung mit (annähernd) Gleichaltrigen sicherstellen.26

2.1.2.1.2 § 176a StGB

Der zuvor als „Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern“ umschriebene § 176a StGB wurde völlig neu gefasst und beinhaltet nun den sexuellen Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind. In § 176a StGB finden sich die bisher in § 176 IV Nr. 1, 2, 4, V StGB a.F. geregelten Tatalternativen, die sog. „Hands-off-Delikte“.27 Mit der eigenständigen Regelung in einem eigenen Tatbestand soll dem unterschiedlichen Unrechtsgehalt von Tathandlungen mit und ohne Körperkontakt Rechnung getragen werden.28 Zudem wurde § 176a I Nr. 1 um die Tatvariante ergänzt, in der der Täter die sexuelle Handlung vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt. Hierdurch wurde die aufgrund der Unrechtsäquivalenz von Vornehmen und Vornehmenlassen wenig konsequente Lücke geschlossen und damit einer Empfehlung der Reformkommission nachgekommen.29

2.1.2.1.3 § 176b StGB

§ 176b StGB wurde neu gefasst und regelt in einem eigenständigen Tatbestand die zuvor von § 176 IV Nr. 3 StGB a.F. erfasste Strafbarkeit des sog. Cybergroomings, also Tathandlungen zur Vorbereitung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder.30 Experten äußern diesbezüglich nach wie vor Kritik an der Verlagerung der Strafbarkeit weit ins Vorfeld sexueller Handlungen. Es sei unverständlich, warum die Vorbereitung eines sexuellen Kindesmissbrauchs strafbar sein solle, die Vorbereitung eines Mordes dagegen nicht.31

2.1.2.1.4 §§ 176c, b StGB

Die §§ 176b, c StGB entsprechen weitestgehend den Regelungen der §§ 176a, 176b StGB a.F. Während § 176b StGB (Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) unterschiedliche Qualifikationstatbestände enthält, handelt es sich bei dem sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge nach § 176b StGB um eine Erfolgsqualifikation.

 

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