Recht und Justiz

Die Ahndungsbestimmungen im VersG NRW

Abkehr von einem liberalen Verständnis der Versammlungsfreiheit?

4.1 Überhöhung von Ordnungsvorschriften

Die Durchführung einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel ohne Anzeige i.S.d. § 10 VersG ist für Veranstalter und Leiter in § 27 Abs. 1 VersG als Straftat ausgewiesen und mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht worden. Damit folgt der Gesetzgeber der überkommen Regelung des § 26 Nr. 2 BVersG und weicht deutlich von den meisten vorliegenden Landesgesetzen ab.28 Die gleiche Strafandrohung gilt zudem für die vorgenannten Adressaten bei Durchführung bzw. Fortsetzung einer vollziehbar verbotenen oder polizeilich aufgelösten bzw. unterbrochenen Versammlung unter freiem Himmel.29 Sofern bei der Durchführung einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel durch den Leiter wesentlich von den Veranstalterangaben in der Anzeige30 abgewichen oder Beschränkungen nach § 13 Abs. 1 VersG nicht nachgekommen wird, ist gem. § 27 Abs. 2 VersG eine Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder eine Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen vorgesehen.31 Damit wird die Missachtung von Ordnungsvorschriften aber deutlich überhöht und ohne Not zu einer Kriminalisierung von Veranstaltern und Leitern beigetragen. Eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit würde dem Gewicht der Zuwiderhandlungen entsprechen und vollkommen ausreichen.32

4.2 Vermummungsverbot

Kritikwürdig ist zudem die überkommene Ausweisung des Vermummungsverbots als kriminelles Unrecht mit einer Strafandrohung von bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Die Entwurfsbegründung,33 dass entsprechende Zuwiderhandlungen in „besonders eklatanter Weise“ gegen die Grundrechtsverbürgungen des Art. 8 GG verstoßen, kann nicht überzeugen und wird den unterschiedlichen Fallkonstellationen nur unzureichend gerecht. Zunächst korrespondiert die Verbotsnorm des § 17 Abs. 1 Nr. 1 VersG nur bedingt mit den Ahndungsbestimmungen des § 27 Abs. 7 Satz 1 VersG (Straftat) und im Falle des bloßen Mitführens des § 28 Abs. 1 Nr. 7 VersG (Ordnungswidrigkeit). Während die verbotene Handlung „bei oder im Zusammenhang“ mit einer öffentlichen Versammlung oder einer sonstigen öffentlichen Veranstaltung unter freiem Himmel und damit in allen verfassungsrechtlich geschützten Phasen34 erfolgen kann, setzt die Ahndung nur in der Hauptphase und auf dem Weg zu derartigen Versammlungen oder Veranstaltungen ein. In Übereinstimmung mit § 9 Abs. 4 VersG35 kommt eine Sanktion in der Nachphase damit nicht in Betracht. Zudem verzichtet der Gesetzgeber auf die etablierte Rechtsfigur der „Verwaltungsakzessorietät“36 und lässt die „rechtsstaatliche Funktion des Verwaltungsakts“ weitgehend unbeachtet.37 Etwas anderes gilt nur bei dem Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 28 Abs. 1 Nr. 6 VersG, der u.a. bei Zuwiderhandlungen gegen auf § 17 Abs. 2 VersG basierenden Anordnungen Wirkung entfaltet. Nur schwer aufzulösende Wertungswidersprüche sind die Folge. Schließlich ist die Erweiterung des Vermummungsverbots auf sonstige öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel in der Tradition des Bundesrechts fragwürdig und als „systemwidrig“ abzulehnen.38

4.3 Schutzausrüstungsverbot

Die Ausführungen zum Vermummungsverbot gelten im Wesentlichen auch für das Schutzausrüstungsverbot gem. § 17 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 27 Abs. 7 Satz 2 VersG. Positiv wirkt allerdings die Abkehr vom umstrittenen Terminus der „Schutzwaffe“.39 Es wird zudem nicht mehr zwischen Gegenständen im technischen und nichttechnischen Sinne differenziert und neben der Eignung ist stets ein erkennbarer Wille erforderlich, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren.40 Aber auch in diesem Kontext liegen systematische Unstimmigkeiten zwischen Verbots- und Ahndungsbestimmung sowie zur Begrenzung durch § 9 Abs. 4 VersG und zum Verhältnis zwischen § 27 Abs. 7 Satz 2 und § 28 Abs. 1 Nr. 6 VersG vor. Zudem wird auch hier auf die Implementierung der generell geltenden und Klarheit schaffenden „Verwaltungsakzessorietät“ verzichtet und eine systemwidrige Erweiterung auf sonstige öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel vorgenommen. Mögliche Regelungslücken41 bei Fußballspielen, Volksfesten, Konzerten und anderen Veranstaltungen können dabei nicht überzeugend angeführt werden, da durchaus schlüssige Ersatzlösungen möglich sind.42

 

4.4 Gewalt- und Einschüchterungsverbot

Mit § 18 VersG ist ein Gewalt- und Einschüchterungsverbot geschaffen worden, das im Gesetzentwurf zunächst als „Militanzverbot“ bezeichnet wurde.43 Die Verbotsnorm weicht deutlich von allen bisher bestehenden Regelungen ab,44 gilt für öffentliche Versammlungen und für sonstige öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel, richtet sich grundsätzlich an Veranstalter, Leiter und Teilnehmer und ist gem. § 27 Abs. 8 VersG als kriminelles Unrecht mit einer Strafandrohung von bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe ausgewiesen worden.45 Diese Strafandrohung gilt allerdings nur für Personen, die durch ihr „eigenes äußeres Erscheinungsbild“ zu der Vermittlung von Gewaltbereitschaft und zur einschüchternden Wirkung beitragen und zudem auch nur bei Versammlungen i.S.d. § 2 Abs. 3 VersG. Bei sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel kommt allein ein Rückgriff auf den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 28 Abs. 1 Nr. 6 VersG in Betracht, sofern gegen Anordnungen zur Durchsetzung des Verbots nach § 18 Abs. 2 VersG verstoßen wird.

4.5 Waffenverbot

Unzureichend ausgestaltet ist schließlich auch das mit den verfassungsunmittelbaren Gewährleistungsschranken der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit aus Art. 8 Abs. 1 GG korrespondierende und damit besonders bedeutsame Waffenverbot.46 Während die verbotene Handlung gem. § 8 Abs. 1 VersG „bei Versammlungen oder auf dem Weg zu oder von Versammlungen“ erfolgen kann und auch die Ahndungsbestimmung des § 27 Abs. 5 im Gegensatz zur § 27 Abs. 7 VersG die verfassungsrechtlich geschützte Vor-, Haupt- oder Nachphase erfasst, soll das Gesetz gem. § 9 Abs. 4 VersG in der dort definierten Nachphase keine Wirkung mehr entfalten. Die beabsichtigte „legislativ-deklaratorische“ Abrundung des speziellen Anwendungsbereichs des Gesetzes führt damit gerade nicht zu der angestrebten „Rechtssicherheit in der Verwaltungspraxis“.47 Zudem fehlt eine wünschenswerte Subsidiaritätsklausel,48 so dass es zu einem vermeidbaren Wertungswiderspruch zwischen der durch Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 EGStGB dirigierten Strafandrohung des VersG (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe) und der aus § 52 Abs. 3 Nr. 9 WaffG (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) kommt.

 

5 Befund


Die Entwicklung und Verabschiedung eines bereichsspezifischen Gesetzes für das Versammlungswesen war grundsätzlich ein richtiger und zukunftsweisender Schritt für das Land NRW. Im Ergebnis ist das Normengefüge jedoch deutlich restriktiver gefasst, als der vorliegende MEVersG sowie die Regelungen in Schleswig-Holstein und Berlin, aber auch in Bayern und Niedersachsen. In Teilen bewegt es sich auf einer Ebene mit dem überkommenen Bundesrecht sowie den unzureichenden Normen in Sachsen und Sachsen-Anhalt.49 Dabei ist das BVersG bei den parlamentarischen Beratungen zuvor berechtigt als „in die Jahre gekommen“ bezeichnet worden.50 Deutliche Kritik ist insbesondere hinsichtlich der Ahndungsbestimmungen angezeigt, die Einschüchterungspotenzial enthalten, nur schwer mit dem freiheitlichen Grundgedanken des Art. 8 GG zu vereinbaren sind und damit eine Abkehr vom liberalen Verständnis der Versammlungsfreiheit bedeuten. Hinzu kommen von mangelnder Sorgfalt zeugende systematische Unstimmigkeiten bei der Ausgestaltung des Normengefüges. Eine handlungsleitende Wirkung wird damit gerade nicht erreicht, so dass unweigerlich Probleme für Grundrechtsträger und Polizei entstehen dürften. Letztlich steht das VersG NRW auch für eine weitere „Zersplitterung“ des bereichsspezifischen Rechts51 und damit eine versammlungsrechtliche „Kleinstaaterei“,52 der auch nicht durch Hinweise auf zulässige „politische Akzente“ und Wesensmerkmale des „(Sicherheits-)Föderalismus“ schlüssig begegnet werden kann.53