Wissenschaft  und Forschung

Aktuelle Bedrohungen durch Islamismus und islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa

Von Prof. Dr. Stefan Goertz, Lübeck

2.3 Der islamistische Anschlag bei Paris – Mohammed-Karikaturen als Kontext

Der 18-jährige islamistische Attentäter tschetschenischer Herkunft Abdullah Ansorow enthauptete am 16.10.2020 den 47-jährigen französischen Lehrer und Familienvater Samuel Paty in der Nähe seiner im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine gelegenen Schule. Dies war der fünfte islamistische Anschlag in Frankreich im Jahr 2020. Der Geschichtslehrer Samuel Paty hatte an seiner Schule Anfang Oktober 2020 wie im Lehrplan vorgesehen, zum Recht auf Meinungsfreiheit unterrichtet. Dabei nutzte Paty die aus der Satirezeitschrift Charlie Hebdo bekannten Mohammed-Karikaturen.8 Bevor er seinen Schülern die Mohammed-Karikaturen zeigte stellte Paty ihnen frei, das Klassenzimmer zu verlassen, bzw. den Blick abzuwenden, falls die Karikaturen sie beleidigen könnten.9

Staatspräsident Emmanuel Macron besuchte den Tatort und bezeichnete die Tat als „islamistischen Terroranschlag“. Paty sei ermordet worden, weil er Meinungsfreiheit gelehrt habe. Kurz nach der Tat gedachten trotz strikter Regelungen aufgrund der COVID-19-Pandemie mehrere zehntausend Menschen des Opfers Paty. Sie versammelten sich in der Stadt Conflans-Sainte-Honorine an der Schule des ermordeten Lehrers, in Paris und in ganz Frankreich. Am 21.10.2020 wurde eine nationale Gedenkfeier an der Sorbonne in Paris abgehalten, bei der Präsident Macron den Ermordeten, der postum in die Ehrenlegion aufgenommen worden war, vor dem aufgebahrten Sarg als Helden und nationales Vorbild würdigte.10 Die Schweigeminute für Paty wurde nach Angaben der französischen Regierung an über 400 französischen Schulen gestört. In Marseille wurde ein aus Afghanistan stammender 14-Jähriger in Polizeigewahrsam genommen, nachdem er bekundet hatte, er hätte genauso wie der Attentäter gehandelt. In Straßburg leiteten die Behörden Ermittlungen gegen zwei Zwölfjährige ein, die die Ermordung Patys als „verdient“ bezeichnet hatten, denn er habe den „Propheten beleidigt“. In Lyon bemalten zwei junge Erwachsene mit Migrationshintergrund im Alter von 18 und 19 Jahren in der Nacht zum 24.10.2020 die Fassade einer Grundschule in Lyon mit Drohungen: „Macht so weiter, wir werden Lehrer und Schüler enthaupten“ und „den Bürgermeister, das Satanskind, werden wir enthaupten“.11

2.4 Der islamistische Anschlag in Dresden – Mutmaßlich homophobes Motiv und Warnungen an den BND

Der syrische Flüchtling und Gefährder Abdullah Al-H. H. verübte am Abend des 4.10.2020 in Dresden mit Küchenmessern einen islamistischen Anschlag auf ein homosexuelles Paar aus Nordrhein-Westfalen, ermordete einen Mann und verletzte seinen Partner schwer. Der zum Zeitpunkt des Anschlags zwanzig Jahre alte Syrer, der als Flüchtling geduldet war, war vor seinem Anschlag schon wegen des Anwerbens von Leuten für die Terrororganisation „Islamischer Staat“ inhaftiert gewesen, war in der Justizvollzugsanstalt mehrmals durch Gewalt aufgefallen und im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden in Berlin thematisiert worden. Er war von den deutschen Sicherheitsbehörden als islamistischer Gefährder eingestuft und wurde sogar am Tag des Anschlags observiert, dennoch konnte dieser nicht verhindert werden.12

Die Tagesschau berichtete kurz nach dem islamistischen Anschlag, dass ein ausländischer Nachrichtendienst bereits im August 2019 einen Hinweis auf den Attentäter von Dresden an den Bundesnachrichtendienst (BND) geschickt hatte. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ blieb diese Information aber liegen und wurde von der zuständigen Sachbearbeiterin nicht an die Polizei- und Verfassungsschutzbehörden nach Sachsen weitergeleitet. Der Inhalt der Warnung des ausländischen Nachrichtendienstes an den BND war, dass der islamistische Gefährder Abdullah Al-H. H. möglicherweise in die Planung eines Terroranschlags verwickelt sei. Dass die Sachbearbeiterin des BND diesen Hinweis nicht an die sächsischen Landesbehörden weitergeleitet hat wurde auch von der damaligen Bundesregierung als „Fehler“ betrachtet.13 Statt diesen Hinweis auf einen möglichen Anschlagsplan direkt an die sächsischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden weiterzuleiten soll dieser Vorgang unbearbeitet geblieben sein. Die BND-Mitarbeiterin soll den Hinweis nicht auf Wiedervorlage gelegt haben und so erfuhren die sächsischen Sicherheitsbehörden nichts davon. Eine Islamwissenschaftlerin des sächsischen Landeskriminalamtes (LKA) nahm im Jahr 2017 das Social-Media-Konto dieses Gefährders genauer in den Blick und stellte ab August 2017 eine „deutliche Veränderung der Inhalte“ sowie eine „jihadistische Position“ von Al-H. H. fest und analysierte eine „starke und zunehmende Radikalisierung“.14

Abdullah Al-H. H. warb für die Terrororganisation IS, woraufhin die Staatsanwaltschaft Dresden ein Verfahren gegen ihn einleitete. Am 18.8.2017 durchsuchte die Polizei seine Unterkunft und beschlagnahmte sein Mobiltelefon. Dessen Auswertung ergab, dass Al-H. H. sich wohl intensiv darum bemühte, Anleitungen zum Bau von Sprengstoffgürteln zu erlangen und außerdem eine Kontaktperson im Jemen dazu überredet haben soll, sich dem IS anzuschließen. Die sächsischen Ermittler stießen auch auf einen Whatsapp-Chat mit dem Titel „IS“, in dem sich Al-H. H. selbst als „schlafende Zelle“ des IS betitelte und das Töten von „Ungläubigen“ als rechtmäßig bezeichnete.15

Im November 2018 verurteilte das OLG Dresden den Islamisten wegen Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Straftat, Werbens um Mitglieder und Unterstützer einer Terrorvereinigung im Ausland und anderer Delikte zu einer Jugendfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Abdullah Al-H. H. kam Ende September 2020 aus der Haft frei und nahm am Deradikalisierungsprogramm der deutschen Organisation Violence Prevention Network (VPN) teil. Wie beim islamistischen Attentäter von Wien muss also auch hier festgestellt werden, dass die Qualität der zivilgesellschaftlichen Präventions- und Deradikalisierungsprogramme in Deutschland von deutschen Behörden schnellstens evaluiert und diese Programme verbessert werden müssen.

Ende Mai 2021 sprach das OLG Dresden die Höchststrafe für den Attentäter aus: Wegen Mordes, Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung wurde der Jihadist zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere seiner Schuld festgestellt.16