Recht und Justiz

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – ein Überblick (Teil 2)

Von Prof. Dr. Dennis Bock und Cathrin Lebro, Kiel

 

E – Straftaten gegen die Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung in der Jugend



Dem Schutz der Beeinträchtigung der ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen die §§ 174, 176, 176a, 176b, 180, 184g StGB.

 

1 Sexueller Missbrauch von Kindern, § 176 StGB

 

1.1 Allgemeines

 

§ 176 StGB bedroht den sexuellen Missbrauch von Kindern mit Strafe und bestimmt eine absolute Grenze des sexualbezogenen Umgangs mit Kindern: Sexualkontakte müssen ausnahmslos unterbleiben, auf eine etwaige Einwilligung oder ein Einverständnis des Opfers kommt es nicht an.2 Es handelt sich (zusammen mit §§ 176a, 176b StGB) um das polizeilich am häufigsten registrierte Sexualdelikt (19,6% 2019).3

 

1.2 Tatbestand

1.2.1 Objektiver Tatbestand

1.2.1.1 Kind

Opfer der Tat können nur Kinder, also gem. § 176 I StGB Mädchen oder Jungen unter 14 Jahren sein.

1.2.1.2 Tathandlung

1.2.1.2.1 § 176 I, II StGB

 

§ 176 I StGB betrifft die Vornahme oder das Vornehmen lassen sexueller Handlungen „an“ einem Kind. Ein „Vornehmen lassen“ setzt zwar nicht ein Bestimmen, aber wenigstens ein Ermuntern voraus.4Die Erheblichkeit der sexuellen Handlung kann im Einzelfall fehlen (z.B. Kuss auf die Wange)5, wobei prinzipiell aufgrund des geringen Alters keine hohen Anforderungen zu stellen sind. Von § 176 II StGB StGB werden die Fälle erfasst, in denen der Täter das Kind zu körperlichen Kontakten mit Dritten bestimmt.

 

1.2.1.2.2 § 176 IV StGB

Eine geringere Strafdrohung sieht § 176 IV StGB für Handlungen ohne unmittelbaren Körperkontakt mit dem Kind vor. Gem. § 176 IV Nr. 1 StGB muss der Täter sexuelle Handlungen „vor“ einem Kind vornehmen. Auf eine unmittelbare Nähe zwischen Täter und Opfer oder eine visuelle Wahrnehmung kommt es nicht an.6Bsp.: T trat über das Internet in Kontakt mit den Kindern R und M, die zur Tatzeit 8 und 12 Jahre alt waren. Es wurden Live-Bilder des T und der R und M mittels Webcam übertragen. T richtete seine Webcam auf sein entblößtes Glied und führte Onanierbewegungen durch, um sich sexuell zu erregen, wobei es ihm darauf ankam, dass die Kinder seine Handlungen am Bildschirm wahrnahmen.


§ 176 IV Nr. 2 StGB erfasst das Bestimmen des Kindes zur Vornahme solcher sexueller Handlungen. Hierfür genügt bereits die Aufforderung zum Posieren in sexuell aufreizender Weise.7


Gem. § 176 IV Nr. 3 StGB macht sich strafbar, wer in sexueller Absicht auf ein Kind mittels Schriften i.S.d. § 11 Abs. oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie (sog. Cybergrooming) einwirkt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Kontaktaufnahme von Erwachsenen im Internet, werden damit Vorbereitungshandlungen unter Strafe gestellt.8 Die Einwirkung muss auf ein konkretes Kind9bezogen sein und kann durch jedwede Form technischer Kommunikation geschehen10. Der Inhalt muss keinen Sexualbezug aufweisen, sondern kann insbesondere auch täuschender Natur sein.11 Bsp.: T nimmt auf Facebook Kontakt zur 12-jährigen O auf. Dabei gibt sich T als 13-jähriger Junge aus und versucht, O zu einem Treffen zu überreden.


§ 176 IV Nr. 4 StGB betrifft die Vermittlung pornographischer Abbildungen oder Darstellungen. Der Täter muss mittels Gedankenäußerung auf das Opfer einwirken, wobei im Unterschied zur Nr. 3 ein pornographischer Inhalt – d.h. eine vergröbernde Darstellung sexuellen Verhaltens unter Ausklammerung emotional-individualisierter Bezüge12 – vorausgesetzt wird.

1.2.1.2.3 § 176 V StGB

§ 176 V erfasst das Anbieten, das Versprechen des Nachweises eines Kindes und die Verabredung zu einer solchen Tat. Da es sich bei den Tatbeständen um abstrakte Gefährdungsdelikte handelt, reicht es bereits aus, dass das Versprechen ernstlich erscheint.13

1.2.2 Subjektiver Tatbestand

Der Täter muss in allen Fällen mit (bedingtem) Vorsatz handeln, der sich insbesondere auf das Alter des Opfers erstrecken muss.14 § 176 IV Nr. 3 StGB stellt zusätzliche Anforderungen an die subjektive Tatseite. Nach § 176 IV Nr. 3 lit. a StGB muss die Einwirkung des Täters in der Absicht erfolgen, das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen. Hierfür ausreichend ist das Ziel des Täters, die sexuellen Handlungen in irgendeiner Weise kausal herbeizuführen.15 Zur Ausklammerung sozialadäquater Verhaltensweisen ist ein Interesse des Täters an den sexuellen Handlungen erforderlich.16 Nach § 176 IV Nr. 3 lit. b StGB muss der Täter in der Absicht handeln, eine Tat nach § 184b I Nr. 3 oder § 184b III StGB zu begehen.

1.3 Sonstiges

§ 176 I und IV Nr. 1 StGB sind eigenhändige Delikte: Täter kann nur sein, wer selbst die sexuelle Handlung mit dem Kind bzw. vor dem Kind vornimmt.17 § 176 III StGB enthält eine Strafzumessungsregel für unbenannte besonders schwere Fälle der § 176 I, II StGB und ordnet eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr an. § 176 VI StGB stellt den Versuch mit Ausnahme von Vorfeldtaten nach § 176 IV Nr. 3, 4 und V StGB unter Strafe.

 

2 Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, § 176a StGB


§ 176a StGB stellt den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe und qualifiziert Taten nach § 176 I, II StGB zum Verbrechen. Abs. 1 betrifft Wiederholungstaten, Abs. 2 den Vollzug des Beischlafs sowie ähnlicher sexueller Handlungen (Nr. 1), die gemeinschaftliche Begehung (Nr. 2) und die Herbeiführung der Gefahr schwerer Gesundheits- und Entwicklungsschäden (Nr. 3). Abs. 3 erfasst Fälle, in denen der Täter bei Begehung der Tat in der Absicht handelt, die Tat zum Gegenstand eines kinderpornographischen Inhalts zu machen, der verbreitet werden soll. Abs. 4 nennt einen Strafrahmen für minder schwere Fälle, die etwa bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen in Betracht kommen. Abs. 5 sieht eine Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren für die Fälle vor, in denen das Kind bei der Tat schwer misshandelt oder durch die Tat in die Gefahr des Todes gebracht wird. § 176a StGB verdrängt § 176 I StGB und zwar auch, wenn ein minder schwerer Fall angenommen wird.18

 

3 Sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge, § 176b StGB


§ 176b StGB stellt den sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge unter Strafe und ist eine Erfolgsqualifikation i.S.d. § 18 StGB zu § 176 StGB.19 Der Tod des Kindes muss durch die sexuelle Handlung oder durch eine andere zur Tatbestandsverwirklichung gehörenden Handlung, z.B. eine körperliche Misshandlung i.S.v. § 176 V Alt. 1 StGB, wenigstens leichtfertig herbeigeführt worden sein.20 Auf der Ebene der Konkurrenzen verdrängt § 176b die §§ 176, 176a StGB; Tateinheit ist möglich mit §§ 177, 178 StGB.21

 

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