Wissenschaft  und Forschung

Risikoeinschätzung extremistischer Straftäter

Zwei Instrumente im Vergleich

 

Von Dr. Michail Logvinov, Berlin1

 

Im Zusammenhang mit den voranschreitenden Radikalisierungsprozessen ist ein dynamischer Markt für Instrumente zur Risikobewertung extremistischer Gewalt entstanden. Allerdings bleibt in einigen Fällen nicht immer klar, welche Methoden, theoretischen Annahmen, empirischen Postulate und Testverfahren bei der Entwicklung der jeweiligen Tools eine Rolle spielten. Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen werden daher zwei Ansätze und Instrumente eingehend vorgestellt.

 

1 Prognoseansätze und -methoden


Risikoeinschätzung meint eine auf einen zu definierenden Zeitraum beschränkte prognostische Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten negativen bzw. schädigenden Ereignisses in einer Zielpopulation. Eine Kriminalprognose liegt nach fachlichen Kriterien vor, „wenn die wahrscheinlich verhaltensdeterminierenden Anteile von Personen- und Situationsfaktoren herausgearbeitet und durch (gegebenenfalls alternative) Wenn-dann-Aussagen auf denkbare zukünftige Situationen projiziert werden“ (Steller 2005, S. 13).

Der Terminus „Risiko“ (R) kennzeichnet nach Kraemer et al. (1997, S. 337) die Wahrscheinlichkeit (W) eines negativen Outputs bestimmter Intensität (Is). Im Blick auf die instrumentelle, extremistische Gewalt hängt die Intensität eines Schadens mit Fähigkeiten (F) und Intentionen (It) der jeweiligen Akteure zusammen. Personale (P) und situative (S) Risiko- und Schutzfaktoren erhöhen oder reduzieren die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr (R = W [P + S] x Is [F + It]).

In der Prognoseforschung wird unter Berücksichtigung der formalen Gesichtspunkte – bspw. des Grades der Item-Operationalisierung, der Auswertungsart und des Vorhandenseins von Regeln und Normen – zwischen den statistischen bzw. nomothetischen und einzelfallorientierten erklärungsbasierten bzw. idiografischen Prognoseansätzen unterschieden. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten benennt Gretenkord (2013, S. 21) darüber hinaus Kriterien wie die theoretische Verankerung der Verfahren, die Art der Items (statisch/dynamisch – Risiko-/Schutzfaktoren) und die Zielgruppen.

 

2 Zwei Risikoinstrumente

 

2.1 Violent Extremism Risk Assessment (VERA-2R)

 

2.1.1 Diskussion


VERA wurde zwecks Expertenkonsultation im November 2009 vorgestellt und anschließend nach mehreren Anpassungen zwischen 2010 und 2012 als kommerzielles RBeG-Instrument auf den Markt gebracht (Pressman 2009). Seitdem hat es weitere Überarbeitungen erfahren. 2015 erschien nach Beratungen mit namentlich nicht genannten Experten die Version VERA-2R. Im Gegensatz zur freien Testversion sind alle Nachfolger-Checklisten nicht frei zugänglich. Die Entwicklerin des Instruments nennt als Voraussetzung für die Anwendung eine zweitägige Schulung und die Teilnahme an Supervisionen. Die Anwender müssen überdies über Erfahrungen mit der Durchführung von Risikobewertungen verfügen. Diese Voraussetzungen gelten aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht für die vorherige Version (VERA), auch wenn es sich hierbei um eine noch weniger elaborierte Kriterienliste handelt (Hart et al. 2017, S. 11).

Der VERA-2 scheint eines der bekanntesten RBeG-Instrumente zu sein. Zumindest wird es international intensiv beworben und mit der finanziellen Förderung der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms „Horizon 2020“ in einer Reihe von EU-Staaten implementiert. Dies überrascht kaum. Hat doch seine Entwicklerin in vielen Publikationen zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Settings aufgezeigt – für die individuelle Risikoeinschätzung (Pressman/Flockton 2012), als methodische Blaupause für lokale CVE-Initiativen (Pressman 2016) und im Strafvollzug (Pressman/Flockton 2014). Seit 2016 existiert zudem eine Checkliste zur Beurteilung der Cyber-Risiken (CYBERA). Überdies soll das Instrument für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen valide sein. Zugleich werden in letzter Zeit Meinungen vertreten, die einen Nutzen für einige Länder ob der spezifischen Betroffenenpopulationen in Frage stellen (Herzog-Evans 2018). Nachfolgend soll der Frage nachgegangen werden, ob die VERA-Suite tatsächlich das halten kann, was ihre Autorin verspricht.

Vergleicht man die wissenschaftlichen Begleitpublikationen zum Instrument, fällt als erstes auf, dass sich weder das Verfahren noch die Auswertungsmethodik wesentlich ändern. Zugleich wird von Jahr zu Jahr der theoretische „Überbau“ jedoch komplexer und ausgeklügelter. Inzwischen ist von einem evidenzbasierten Ansatz sowie einer eigenständigen Risikobewertungsmethode oder sogar von der diesem Instrument angeblich innewohnenden „bayesschen Logik“ die Rede (Pressman 2016). VERA-2 soll sogar auf einem komplexen dynamischen Modell der Radikalisierung fußen, welches dem interessierten Leser jedoch nicht näher erläutert wird (Pressman 2014, S. 267). Auf eine ähnliche Weise gewann die Checkliste an Reliabilitätsgüte.

Neben den Vulnerabilitätsfaktoren wurde ein Leitfaden mit drei Itemkategorien entwickelt: Deradikalisierung, Herauslösung (Disengagement) und protektive Faktoren (Pressman 2009, S. 24). Diese Kriterien wurden in VERA-2 als protektive und risikomindernde Faktoren teils integriert. Zugleich blieb unkommentiert, wie die so verstandenen Schutzfaktoren das Risiko verringern. Der Zuwachs an Prädiktoren fiel vergleichsweise hoch aus: VERA bestand aus 28 Prädiktoren inkl. drei demographischer Faktoren wie bei HCR-20, während VERA-2 31 und VERA-2R 34 Faktoren plus zusätzliche Indikatoren – bspw. kriminelle Vorgeschichte, Persönlichkeitseigenschaften und Psychopathologie – beinhalten. VERA-2 soll ein „Catch-all“-Instrument“ und für alle extremistischen Spielarten aussagekräftig sein, auch wenn einige Prädiktoren diesem Postulat widersprechen. So scheint bspw. die zu messende Einstellung „Feindseligkeit gegenüber nationaler Identität“ mit der Itemformulierung für ein hohes Risiko – „Person hat kein Zugehörigkeitsgefühl und ist feindselig gegenüber der nationalen Identität“ – zumindest in Hinblick auf den Rechtsextremismus und ethno-nationalistischen sowie teils „revolutionären“ islamistischen Terrorismus deplatziert. Darüber hinaus fügte die Autorin sogar noch weitere Zielgruppen hinzu. Das Instrument soll bei angehenden Auslandskämpfern und Rückkehrern gleichermaßen eingesetzt werden können, um Kohorten zu beurteilen. Aber auch zur Früherkennung ließe sich VERA-2 anwenden. Ein so hehrer Anspruch lässt die Frage aufkommen, ob es einer einzigen Checkliste überhaupt möglich ist, alle Spielarten und Motivlagen der politisch-ideologisch-weltanschaulich motivierten Gewalt sowie alle denkbaren Radikalisierungsstadien – Affiliation, Konsolidierung, Fundamentalisierung – valide und reliabel zu messen (vgl. Möller/Schuhmacher 2007, Wagner 2014).

Später ging die Autorin einen Schritt weiter und erklärte, dass VERA-2 nun ein komplexes dynamisches kausales Modell zugrunde liege bzw. abbilde, das notwendige und hinreichende kausale Bedingungen berücksichtige (Pressman 2016, S. 253). Zugleich blieb sie die Antwort schuldig, welche Faktoren denn notwendig und/oder hinreichend sein sollen. Stattdessen schlug sie vor, die Prädiktoren des Instruments „umzustrukturieren“, um konjunktive bzw. kausale Prognosen vorzunehmen. Zugleich wurden keine logischen Regeln formuliert, nach denen den jeweiligen Bedingungen die Marker „notwendig“ und/oder „hinreichend“ zugewiesen werden sollen. Oder anders formuliert: Die Instrumentenentwicklerin legte keine logischen Zusammenhänge zwischen den Prädiktoren offen. Nicht zuletzt liegt der Eklektizismus des Verfahrens darin begründet, dass VERA ursprünglich nicht als kausales Modell oder als eine Taxonomie notwendiger und/oder hinreichender Bedingungen konzipiert wurde. Eine solche kausale Umstrukturierung der Indikatoren öffnet im Übrigen der Willkür Tür und Tor, denn es bleibt schlussendlich dem Anwender mit seinen subjektiven Erfahrungswerten überlassen, die jeweiligen Faktoren zu „gewichten“. Vorliegende kausale Modelle des Terrorismus legen einige methodische Defizite des dynamischen Modells von VERA-2 offen (vgl. Davis et al. 2015).

Die Anwendung von VERA-2R setzt eine gute Fallkenntnis voraus, die im Idealfall aus dem Studium verschiedener Informationsquellen resultieren soll. Die Autorin formulierte darüber hinaus Beispielfragen, die optional an die zu beurteilende Person gestellt werden können. Alle Indikatoren werden auf einer dreistufigen Skala – niedrig, moderat und hoch – bewertet, wobei für jede Merkmalsausprägung eine Operationalisierung hinterlegt ist. Anschließend nimmt der Anwender eine Gesamtbewertung auf einer ebenfalls dreistufigen Skala vor (Sadowski et al. 2017, S. 337; VERA-2R-Manual). Die Heuristiken dürften jenen vom HCR-20 ähnlich sein.

Nach Scarcella et al. (2016, S. 10) erfüllt VERA-2 nur wenige Anforderungen an die psychometrischen Eigenschaften eines Fragebogens: Lesbarkeit (++), kulturelle Übersetzbarkeit (+), Befragtenbelastung (++), Inhaltsvalidität (++) und Interrater-Reliabilität (++), also insgesamt fünf von 17 möglichen Kriterien. Die Prüfung der Interrater-Reliabilität von VERA an fünf Fällen – basierend auf offenen Quellen – und mit zwei Anwendern ergab jedoch eher eine moderate Objektivität (vgl. Hart et al. 2017, S. 17). Die „Inhaltsvalidität“ des Instruments basiert auf Expertenmeinungen, was bei den SPJ-Checklisten zwar nicht selten ist. Zugleich ist jedoch zu bedenken, dass die Zusammenstellung der jeweiligen Risikofaktoren nicht (immer) anhand empirischer und evidenzbasierter Studien erfolgte. Deshalb leitete die Autorin aus der Eigenschaft „Augenscheinvalidität“ eine Art Kriteriums- und Konstruktvalidität ab. Augenscheinvalidität liegt nach Pressman (2016, S. 262) vor, wenn es so aussehe, dass der Test funktionieren würde. Daraus zieht die Autorin jedoch eher fragwürdige Schlüsse. Trotz gegenteiliger Behauptungen handelt es sich bei dieser „auf Expertenmeinungen basierenden Augenscheinvalidität“ um eine anekdotische Evidenz erfahrungsbasierter Anwendung (Hart et al. 2017, S. 19).

Zusammenfassend sei hervorgehoben, dass die Entwickler der VERA-Suite beachtenswerte RBeG-Checklisten auf den Markt gebracht haben, deren Messgenauigkeit und methodischer Güte allerdings viel zu wenig Beachtung beigemessen wurde. Da die Autorin von VERA gewissermaßen den sprichwörtlichen Wagen vors Pferd spannte, bemüht sie sich im Nachhinein sichtlich um einen ernst zu nehmenden theoretischen Überbau. Dabei können die im dünnen Fundament versenkten Pfeiler diesem immer schwerer werdenden Theoriegebäude kaum standhalten. Daher sollten die entwickelten Instrumente einer eingehenden Prüfung unterzogen werden, bevor sie europaweit gestreut werden.

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