Wissenschaft  und Forschung

Linke Identitätspolitik und Meinungsfreiheit

Von Dr. Udo Baron, Hannover

 

3 Die Debatte um eine linke Identitätspolitik


Die Debatte um eine linke Identitätspolitik strahlt mittlerweile bis in die Mitte der Gesellschaft. So kritisierte der frühere Bundestagspräsident und Sozialdemokrat Wolfgang Thierse in einem Namensbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass „subjektive Betroffenheit“ und „biografische Prägungen“ statt „Vernunftgründe“ und „begründete Argumente“ zunehmend die gesellschaftlichen Debatten bestimmen. Für ihn sind die Identitätslinken „neue Bilderstürme[r]“, die „die Mühsal von Diskussionen“ scheuen und denen der „unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein“ fehle.10 Statt sich mit ihm zu solidarisieren, haben sich die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert umgehend von ihrem Parteifreund distanziert und ihm ein „rückwärtsgewandtes Bild“ vorgeworfen.11 Wie heftig umstritten dieses Thema auch innerhalb der radikalen Linken ist, zeigt die Kontroverse um Sarah Wagenknecht. Sie kritisiert in ihrem neuesten Buch „Die Selbstgerechten“ die linke Identitätspolitik und ihre Vertreter, die sie als „Lifestyle-Linke“ charakterisiert. Ihnen wirft sie vor, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie „zu leben, zu denken, zu reden haben.“ Statt sich für den sozialen Ausgleich zu engagieren, fokussieren sie sich auf Randgruppen, richten ihr „Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ und spalten so die Linke.12 Marxisten kritisieren, dass die Identitätslinken „nicht mehr die Analyse der ökonomischen Ausbeutungsstrukturen und der Klassenherrschaft in den Mittelpunkt stellen, sondern ihre Gesellschaftskritik auf das Gebiet der Kultur und des `Diskurses´ verlagern.“13


Diese Kontroversen offenbaren einen zunehmenden Riss innerhalb der politischen Linken: Linke, für die die soziale Frage und nicht die Frage der Identität im Vordergrund steht, grenzen sich von der Cancel Culture der Identitätslinken ab und warnen vor ihr. Bereits im Sommer 2020 beklagten 153 Intellektuelle aus verschiedenen Ländern wie Noam Chomsky, Daniel Kehlmann und Salman Rushdie in einem öffentlichen Aufruf zur Toleranz eine moralische Entrüstung, die die offene Debatte und Toleranz von Unterschieden zugunsten ideologischer Konformität schwäche und nach sofortiger Vergeltung für als Entgleisung wahrgenommene Reden und Gedanken verlange.14


In den USA, aber auch in Frankreich, Italien und Großbritannien ist diese Entwicklung insbesondere an den Hochschulen schon so weit vorangeschritten, dass sie Formen eines modernen Kulturkampfes angenommen hat. Lautstarke, sich als linksidentitär verstehende Gruppierungen sind mancherorts so stark geworden, dass sie mit jakobinischem Eifer Hochschullehrer mit ihrer Cancel Culture einschüchtern und sie mit verbalen Angriffen vor allem über das Internet überziehen, um dadurch eine kritische Auseinandersetzung z.B. mit Werken internationaler Geistesgrößen zu verhindern. Nicht selten folgen Universitäten diesen Forderungen mit übertriebenen Maßnahmen. So werden beispielsweise die Schriften von Platon, Kant, Hegel und selbst von Goethe oftmals nicht mehr gelesen, weil diesen Denkern unter Ausblendung ihres historischen Kontexts von linksidentitärer Seite rassistische und sexistische Auffassungen in ihren Texten unterstellt werden, waren sie doch alle „weiße Männer“. Italienische Linksintellektuelle haben vor diesem Hintergrund eine Facebook-Kampagne unter der Überschrift „Sputiamo su Hegel“ (Wir spucken auf Hegel) gestartet.15 Cancel Culture trifft aber nicht nur „weiße Männer“, sondern auch „weiße Frauen“. So gab beispielsweise die niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rinjevid den Auftrag zurück, das Gedicht der dunkelhäutigen US-Poetin Amanda Gromann, welches diese bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden vorgetragen hat, ins Niederländische zu übersetzen. Ihr war vorgehalten worden, als angeblich privilegierte „weiße“ Frau könne und dürfe sie nicht den Text einer formell benachteiligten „schwarzen“ Dichterin übersetzen.16


In Frankreich findet diese Entwicklung ihren Ausdruck u.a. in einer zunehmenden Zusammenarbeit zwischen Islamisten und radikalen Linken, sog. „Islam-Linken“ (frz. „Islamo-Gauchisme“). Dahinter verbirgt sich eine Bündnisbereitschaft von Linken gegenüber Islamisten bis hin zu gemeinsame Aktionen z.B. gegen Israel und die USA. Migranten, vor allem aber Muslime haben bei diesen Identitätslinken mittlerweile den Arbeiter als revolutionären Subjekt in den Hintergrund gedrängt. So protestieren in Frankreich immer wieder Studenten der extremen Linken gemeinsam mit militanten Islamisten gegen Verfechter einer universalistischen, feministischen und säkularen Linken. Kritik am Islam, selbst seine Analyse, wird von ihnen mit Gotteslästerung gleichgesetzt. In den Sozialwissenschaften soll die „Islam-Linke“ schon so dominant geworden sein, dass sie jeglichen Diskurs, der ihrer Meinung widerspricht, unmöglich macht.17 90 Professoren und Forscher forderten deshalb jüngst in einem offenen Brief in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.18

 

4 Linke Identitätspolitik und wehrhafte Demokratie


Was im Mittelalter die Konfession war und im 20. Jahrhundert die Ideologien, ist heutzutage die Identität. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so würde die Befreiung des Individuums aus den Fesseln des Kollektivs, eine der zentralen Errungenschaften seit der Französischen Revolution von 1789, durch den antiindividualistischen Kollektivismus der Identitätslinken aufgehoben. Der Einzelne müsste wieder zugunsten der homogenen Gemeinschaft in den Hintergrund treten. Gäbe unsere Gesellschaft widerstandslos dieser Entwicklung nach, wären die Folgen linker Identitätspolitik für unseren freiheitlichen Rechtsstaat und seine Bürger gravierend. Vor allem die individuellen Menschenrechte und somit die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen, die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Wissenschaftsfreiheit, aber auch jede Form von Gemeinsinn und Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft würden in Frage gestellt werden. Kollektive Gruppenidentitäten stünden dann über den individuellen Menschenrechten. Ein Menschenrechtsrelativismus wäre die Folge.19 Nicht mehr Qualität und Vernunft eines Arguments, sondern Geschlecht, Hautfarbe und Religion würden die Diskussionen prägen. Nur noch Personen aus homogenen Gruppen dürften sich zu Fragen und Problemen dieser Gruppen in der von ihnen vorgegebenen Sprache äußern. Die Befindlichkeiten einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Minderheiten und nicht mehr der Inhalt stünden im Vordergrund. Verteidigt würde dann jemand, weil er einer aus der homogenen Gruppe, also einer „von uns“ ist, und nicht, weil er richtig argumentiert oder gehandelt hat. Nicht mehr der freie Austausch unterschiedlicher Positionen und Ansätze würde den Diskurs bestimmen, sondern ein dichotomes Weltbild homogener Gruppen, dass die Welt schematisch in „Gut“ und „Böse“ einteilt. Die Selbstzensur, die berühmte „Schere im Kopf“, würde wieder wie in vormodernen Zeiten die Diskussionen prägen und jeglichen wissenschaftlichen Diskurs faktisch aushebeln. Ein Rückschritt in voraufklärerische Zeiten wäre vorprogrammiert. Eine Verschärfung der Polarisierung, Zersplitterung und Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer, religiöser und genderbezogener Trennlinien wäre die Folge. Die fortschreitende moralische Aufladung der Politik durch linksidentitäre Positionen würde eine rationale Gestaltung zentraler Politikfelder wie Zuwanderung, Integration und innere Sicherheit nicht nur verhindern, sondern unmöglich machen. Eine (Un-)kultur aus Angst, Scheinheiligkeit und Heuchelei wäre die Folge. Nutznießer dieser Entwicklung wären am Ende vor allem rechtspopulistische und rechtsextremistische Formationen. Sie bringen sich schon jetzt als Wahrer der Interessen der „kleinen Leute“ gegen eine linksgerichtete Political Correctness geschickt in Stellung, um verunsicherte Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Ihnen werden die sich abgewertet fühlenden Wähler zugetrieben. In Frankreich, aber auch in Großbritannien, Italien und den USA ist dieses Phänomen bereits mit Händen zu greifen. Es wäre naiv zu glauben, Deutschland bliebe davon verschont.