Wissenschaft  und Forschung

Linke Identitätspolitik und Meinungsfreiheit

Von Dr. Udo Baron, Hannover

1 Einleitung

 

Der ausgewiesene Afrikaforscher Helmut Bley wird von einer Veranstaltung in Hannover im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ ausgeladen, weil eine Antirassismus-Initiative meint, man könne mit ihm nicht über Rassismus reden, da er als „alter, weißer Mann“ nicht beurteilen könne, wie sich schwarze Menschen fühlen.2 Die Berliner Politikerin Bettina Jarasch muss sich entschuldigen, weil sie als Kind Indianerhäuptling habe werden wollen.3 Der Soziologe und Polizist Frank-Holger Acker soll keine kriminologisch-soziologische Einführung über Polizei und Kriminalität an der Leibniz-Universität in Hannover geben, da er angeblich als Polizist keine kritische Distanz zur Organisation Polizei einnehme könne.4 Diese Beispiele, die sich mühelos erweitern ließen, rücken eine Entwicklung in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, die sich seit einiger Zeit in Deutschland, Europa und den USA bis weit in die Mitte der Gesellschaft ausbreitet: eine Identitätspolitik von links, auch Cancel Culture („Ausschlusskultur“) genannt. Cancel Culture meint damit den systematischen Boykott von Personen, deren Aussagen als diskriminierend eingeordnet werden, damit ihre Meinungen aus dem öffentlichen und veröffentlichten Raum verschwinden. Anhand von Beispielen aus dem In- und Ausland wie der Kontroverse um die Äußerungen des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse oder der Spitzenpolitikerin der Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, aber auch unter Rückgriff auf internationale Entwicklungen wie der Herausbildung einer in Frankreich sehr aktiven sogenannten „Islam-Linken“ oder der Auseinandersetzung um das Gedicht der dunkelhäutigen US-Poetin Amanda Gromann will der Beitrag folgenden Fragen nachgehen und damit zu einer politischen Einordnung dieses Phänomens beitragen: Was verbirgt sich hinter den Begriffen „linke Identitätspolitik“ bzw. „Cancel Culture“? Welche Ziele verfolgen Identitätslinke? Wie gehen sie vor, um diese zu erreichen? Welche Rolle spielt die Sprache für die linke Identitätspolitik? Welche Gefahren entstehen durch dieses Phänomen für den demokratischen Rechtsstaat? Welche internationale Dimension hat diese Entwicklung?

 

2 Linke Identitätspolitik – eine Begriffsbestimmung

 

Identitätspolitik im Allgemeinen stellt die Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen nach Anerkennung, Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und Stärkung ihres Einflusses in den Mittelpunkt. Dahinter steht das Konzept einer Politik, die nicht mehr primär die soziale, sondern die kulturelle Zugehörigkeit zu speziellen Gruppen in den Fokus rückt und deren Interessen vertritt.5 Vor allem Rechtsextremisten betreiben mit ihrem völkischen Gedanken und ihrem Gebot der Rassenreinheit eine ethnisch-kulturell basierte Identitätspolitik. Ihr Ziel ist es, ethnisch reine und somit homogene politische Gemeinschaften zu schaffen, um mit ihnen die Vorherrschaft gegenüber anderen Gruppen und Ethnien anzustreben. Ihren Ausdruck findet dieser Ethnopluralismus vor allem in der Neuen Rechten, an deren Identitätsverständnis die rechtsextremistische „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD) anknüpft.6


Doch es gibt nicht nur eine rechte Identitätspolitik, sondern auch eine linke. Die Identitätslinke zielt auf die Gleichstellung und Emanzipation von Gruppen, die wegen ihrer geschlechtlichen, kulturellen oder religiösen Identität als benachteiligt gelten. Dazu zählen gegenwärtig insbesondere ethnische Minderheiten wie People of Color, Flüchtlinge, die Afroamerikaner und die Hispanics in den USA, religiöse Minderheiten (Muslime), genderbezogene Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Trans- und Intersexuelle), ferner Obdachlose und Behinderte. Linke Identitätspolitik zielt im Gegensatz zur klassischen linken Politik nicht mehr primär auf die Lösung der sozialen Frage und somit der klassischen sozio-ökonomischen Verteilungskonflikte, sondern rückt die jeweilige Gruppen, deren Identität und individuelle sowie strukturelle Diskriminierung in den Mittelpunkt. Aus diesem Grunde betrachtet sie Minderheiten pauschal als einheitliche Gruppen von diskriminierten Opfern, die von der Mehrheitsgesellschaft als Dominanzkultur objektiv benachteiligt werden.7 Nur Mitglieder von Opfergruppen dürfen ihrer Ansicht nach im Namen diskriminierter Minderheiten sprechen. Dabei handelt es sich bei der linken Identitätspolitik nicht um eine Partei, einen Verein, eine Gruppierung, Publikation oder ein konkretes Projekt mit einer klaren Ideologie oder einem entwickelten Programm. Vielmehr versteht sich linke Identitätspolitik als ein Diskurskonstrukt, als eine Bezeichnung für bestimmte Positionen, die eine öffentliche Wirkung entfalten wollen.8 Da Identitäten als homogen betrachtet werden und somit nicht teilbar sind, polarisiert Identitätspolitik. Sie weist Menschen eine Schuld oder eine Opferidentität zu. Zudem argumentiert sie moralisch und nicht inhaltlich und zeichnet sich durch Kompromisslosigkeit und Diskriminierung aus, wie die Fälle Bley und Acker zeigen. Betroffene werden gezielt von bestimmten Diskursen ausgeschlossen und durch Shitstorms über die Sozialen Netzwerke stigmatisiert. Wer Kritik übt und auf Widersprüche hinweist, wird als „Nazi“, „Rassist“ oder auch „Sexist“ diskreditiert. Linke Identitätspolitik übernimmt dabei unter umgekehrten Vorzeichen selbst rassistische und sexistische Deutungsmuster: „weiße“ Männer wie Bley werden, nur weil sie weiß und männlich sind, pauschal als strukturell rassistisch und sexistisch und damit als ungeeignet für jeglichen Diskurs zu Themen wie Rassismus, Kolonialismus etc. betrachtet. Diese Muster werden von den Anhängern linker Identitätspolitik auf alle gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Gruppen übertragen. In dieser Logik ist auch ein Polizist wie Frank-Holger Acker ungeeignet, kritisch über die Polizei im Rahmen eines Hochschulseminars zu reden, da auch die Polizei als eine homogene Einheit (in diesem Falle als eine von den Identitätslinken als negativ definierte Gruppe) wahrgenommen wird.


Linke Identitätspolitik findet ihren Ausdruck neben der Symbolik auch in einer gegenderten Sprache. Hatte diese ursprünglich die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie aller Geschlechter in gesprochener und geschriebener Sprache zum Ziel, so hat sie sich zunehmend zu einem Herrschaftsinstrument linker Identitätspolitik entwickelt. So benannte der Backwarenhersteller Bahlsen seine 1953 eingeführte Marke „Afrika“ jüngst in „Perpetum“ in der Hoffnung um, dadurch den Vorwurf des Alltagsrassismus zu entkräften.9 Damit auch Kinder frühzeitig lernen, sich politisch korrekt zu verhalten, sind Kinder- und Jugendbücher wie Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren oder Tom Sawyer von Mark Twain schon seit längerem nicht mehr in der Originalversion verfügbar. Sind Begriffe wie „Zigeunerschnitzel“, „Mohrenkopf“ oder „Negerkuss“ vor dem Hintergrund dieser Entwicklung nicht ganz zu Unrecht aus dem offiziellen Sprachgebrauch mittlerweile verschwunden, so gibt die Stigmatisierung bestimmter Begriffe oder das Sternchen hinter dem Wort ebenso wie der Unterstrich oder der Doppelpunkt Auskunft über eine bestimmte Denkweise und daraus resultierend über ein bestimmtes Identitätsverständnis. Linksidentitäre versuchen so, die Sprache zu reglementieren und zu verordnen. Sprache wird dadurch elitär und kann somit zum Herrschaftsmittel der Identitätslinken werden, denn wer bestimmt, was gesagt und geschrieben werden darf, hat Macht über die Gesellschaft.

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