Das neue VersFG BE – Eine kritische Betrachtung der Entkriminalisierungstendenzen
Von PD Michael Wernthaler, Bruchsal
Am 21.2.2021 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus ein neues Versammlungsgesetz. Damit gilt in Berlin nicht mehr das Bundes-Versammlungsgesetz (BVersG) sondern das Gesetz über die Versammlungsfreiheit im Land Berlin (VersFG BE). Eine der Neuerungen ist die Entkriminalisierung bisheriger versammlungsrechtlicher Straftatbestände, die nunmehr nur noch als Ordnungswidrigkeiten und teilweise auch dann nur mit der Voraussetzung der Verwaltungsakzessorietät ahndungsfähig sind. Der Aufsatz soll diese Neuerungen aufzeigen und ihre polizei-praktische und juristische Relevanz beleuchten.
1 Vorwort
In Berlin galt bis Februar 2021 weitgehend noch das BVersG. Die seit der Föderalismusreform 2006 bestehende Gesetzgebungskompetenz hatte das Land Berlin lediglich für die Regelung von versammlungsrechtlichen Teilbereichen genutzt, insbesondere für die Normierung der Beobachtung von Versammlungen mit technischen Mitteln (VersAufn/AufzG Berlin).2 Das neue VersFG BE berücksichtigt nun die jüngsten versammlungsrechtlichen Entscheidungen und setzt die Novellierung der Versammlungsgesetze, wie bereits in Schleswig Holstein (VersFG SH)3 und Niedersachsen (NVersG)4 geschehen, fort. Insbesondere im Bereich der Ahndungsvorschriften (Abschnitt 4, §§ 26 u. 27 VersFG BE) erfolgte im VersFG BE eine Fortsetzung der bisherigen Liberalisierung, die nachfolgend bezüglich ihrer Praxisrelevanz betrachtet werden soll.
Das VersFG BE wurde am 11.2.2021 durch das Abgeordnetenhaus verabschiedet.
2 Neue Ahndungsvorschriften und ihre Bedeutung
Die Regelungen über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten findet im Berliner Versammlungsrecht eine klare und einfache Struktur: § 26 VersFG BE beinhaltet die Straftaten, § 27 VersFG BE die Ordnungswidrigkeiten. Dabei wurde im VersFG BE der Umfang der versammlungsrechtlichen Straftaten im Vergleich zum BVersG und den meisten Länder-Versammlungsgesetzen deutlich reduziert. Damit ähnelt das VersFG BE dem schleswig-holsteinischem Versammlungsrecht, wenngleich es inhaltlich nicht identisch ist.
2.1 Straftaten
2.1.1 Störungsverbot (§ 8 i.V.m. 26 Abs. 1 VersFG BE)
Weiterhin verboten ist es, „eine Versammlung mit dem Ziel zu stören, deren Durchführung erheblich zu behindern oder zu vereiteln“ (§ 8 VersFG BE). Als Straftat geahndet und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wird jedoch nur, „wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu verhindern oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht“ (§ 26 Abs. 1 VersFG BE).
Unter Gewalttätigkeiten gegen Personen wird allgemein ein aggressives, gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen gerichtetes aktives Tun von einiger Erheblichkeit unter Einsatz physischer Kraft verstanden. Gewalttätigkeit gegen Sachen erfordert den Einsatz von körperlichen Kräften, wobei die Handlung geeignet sein muss, einen Erfolg im Sinne einer Sachbeschädigung herbeizuführen. Auf den Eintritt des Erfolges kommt es jedoch auch hier nicht an.5
Diese Neu-Regelung im VersFG BE stellt eine deutliche Verschärfung der Tatbestandsvoraussetzungen dar, genügte es bislang doch nach dem BVersG, wenn der Täter grobe Störungen6 verursachte (§ 21 VersG). Die Berliner Neu-Regelung bedeutet eine deutliche Herabstufung des bislang strafbaren Verhaltens zu einer Ordnungswidrigkeit. Der Berliner Gesetzgeber hat hiermit den strafrechtlichen Versammlungsschutz deutlich reduziert.7 Es darf bezweifelt werden, ob diese Liberalisierung zu einer Befriedung der Lage führt oder ob die feststellbare Tendenz, dass Aufzüge und Versammlungen durch Andersdenkende – insbesondere extremistische Gruppierungen – zunehmend gestört, verhindert oder blockiert werden, weiter zunimmt und die Gesetzesliberalisierung eher motivierend und störungsfördernd wirkt und somit die Hemmschwelle für Störungen ungeliebter Versammlungen eher verringert wird.
2.1.2 Waffenverbot (§ 26 Abs. 2 Nr. 1 VersFG BE)
Das Gebot der Waffenlosigkeit bei Versammlungen ergibt sich bereits aus Art. 8 Abs. 1 GG und ist im § 9 Abs. 1 VersFG BE analog zu den bisherigen versammlungsrechtlichen Regelungen des Bundes und der Länder normiert. Bei der Sanktionierung geht der Berliner Gesetzgeber jedoch neue Wege und unterscheidet in Waffen im Sinne des Waffengesetzes (Waffen im technischen Sinne) und „sonstige Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Herbeiführung erheblicher Schäden an Sachen geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind“ (Waffen im nichttechnischen Sinne).
Im ersten Fall, „Waffen im technischen Sinne“ betreffend, ist das Mitführen sowie das Hinzuschaffen zu Versammlungen als Straftat sanktioniert (§ 26 Abs. 2 Nr. 1 VersFG BE). Im zweiten Fall, für „Waffen im nichttechnischen Sinn“, ist eine Verfolgung als Straftat an „eine Anordnung zu Durchsetzung des Waffenverbots an § 9 Abs. 1 Nr. 2“8 gebunden, d.h. eine Strafverfolgung ist nur dann möglich, wenn an die Tatverdächtigen zuvor eine Anordnung, bspw. eine Lautsprecherdurchsage durch die Polizei, erging, das verbotene Tun – hier Mitführen einer bestimmten Bewaffnung – zu unterlassen. Hierbei muss der Gegenstand, der als „Waffe im nichttechnischen Sinne“ angesehen wird, bei der Durchsage der Polizei entsprechend beschrieben, d.h. bezeichnet werden. Man spricht in diesen Fällen, bei der der Strafbarkeit eine behördliche Anordnung vorangehen muss, von einem Akt der „Verwaltungsakzessorietät“.
Zu beachten ist hierbei bei behördlichen Anordnungen – und das gilt grundsätzlich für polizeiliche Durchsagen mit Verwaltungscharakter – dass es sich um Verwaltungsakte handelt. Verwaltungsakte unterliegen gem. § 37 Abs. 1 VwVfG dem Bestimmtheitsgebot. Ein Verwaltungsakt ist nur dann hinreichend bestimmt, wenn die durch ihn getroffene Regelung vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen ist. D.h., dass die Adressaten und sonstigen Beteiligten zweifelsfrei bestimmt sind und diese zweifelsfrei wissen, was von ihnen gefordert wird und wenn sie ihr Verhalten danach richten können.9 Für die Polizei bedeutet dies, dass gerichtsverwertbar belegt werden muss, dass die Durchsage nicht nur bezüglich ihrer Weisung verständlich war, sondern auch vom Adressatenkreis bezüglich Lautstärke und Artikulation gehört und akustisch verstanden werden konnte. Damit der Adressat weiß, welcher pönalisierte Gegenstand gemeint ist, muss dieser konkret beschrieben werden, jeder andere Gegenstand, der nicht ausreichend beschrieben wird, jedoch ebenfalls gefährlich ist, unterliegt nicht der Strafbarkeit, da er nicht explizit in der Anordnung bezeichnet wurde.
Es bleibt zu befürchten, dass künftig ein Sammelsurium an „gefährlichen Gegenständen“ benannt werden muss, um der Strafverfolgung Genüge zu tun.
Ein weiteres Problem stellt die Gleichbehandlung dar. Es ist ungewiss, wie die Gerichte urteilen, wenn in einem Teil der Versammlung bestimmte Verhaltensweisen untersagt werden, während an einer anderen Stelle der gleichen Versammlung eine entsprechende behördliche Anordnung unterblieb, bspw. um eine Eskalation zu vermeiden.
Die vom Berliner Gesetzgeber beabsichtigte bessere Flexibilität für die Polizei erscheint zweifelhaft, es handelt sich eher um ein Einschreithemmnis, da ohne behördliche Anordnung (polizeiliche Durchsage) eine Strafverfolgung nicht möglich ist und die Verwaltungsakzessorietät eine weitere Verwaltungs- und damit Einschreithürde darstellt.
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