Kriminalitätsbekämpfung

Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 2)


Von POK`in Ann-Kristin Langletz M.A. und Prof. Dr. Rita Bley, Cloppenburg/Güstrow

 

Von der inzwischen seit mehr als 20 Jahren bestehenden Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung wird auch heute, trotz der stetigen Ausdehnung des Anwendungsrahmens, kaum Gebrauch gemacht. In diesem Artikel soll ergründet werden, wie den offensichtlich bestehenden Hindernissen entgegengewirkt werden kann, um die Akzeptanz zu erhöhen und Videovernehmungen als Routinevorgang in die Bearbeitung von Sexualdelikten zu tradieren. Aus den gewonnenen Ergebnissen wurde eine Handreichung entwickelt, welche die wichtigsten Rechtsvorschriften zur audiovisuellen Vernehmung und Grundsätze zur Durchführung zusammenfasst. Im ersten Teil wurden die rechtlichen Voraussetzung und viktimologischen Grundlagen dargestellt, in diesem nachfolgend der empirische Teil mit der entwickelten Handreichung.1

 

5 Interviews mit Vernehmern


Zur Erhebung der Erfahrungen und Einstellungen von Vernehmungsbeamten wurden fünf Experteninterviews von Kriminalbeamten im 1. FK des Zentralen Kriminaldienst unterschiedlicher Polizeiinspektionen durchgeführt. Aus den Schilderungen der befragten Praxisexperten geht hervor, dass ein großes Hindernis darin begründet ist, dass die durchgeführten Videovernehmungen keine Beachtung vor Gericht finden. Dies weckt bei den Vernehmungsbeamten ein Gefühl der geringen Würdigung und Anerkennung ihrer Arbeit. Die Bild-Ton-Aufzeichnung finden keinen Eingang in die Hauptverhandlung „weil einfach die Gerichte noch nicht so eingestellt sind“, es gibt „Berührungsängste“. Gerichte und Staatsanwälte finden es „furchtbar“, eine verschriftete Videovernehmung zu lesen. Die Experten geben an, dass es „ein Muss braucht“, damit die Vernehmungen bei Opfern von Sexualdelikten zukünftig öfter audiovisuell aufgezeichnet werden. Die Akzeptanz der audiovisuellen Vernehmung würde deutlich gesteigert werden, wenn diese durch die Staatsanwaltschaft und den Richter Beachtung finden. Einige Vernehmer sehen die Zusammenarbeit mit der Justiz als verbesserungswürdig an, in anderen Dienststellen ist sie derart, dass richterliche Vernehmungen auf Bitten des Gerichts in den Räumen der Polizei stattfinden. Alle Praxisexperten führen aus, dass sie selbst über die Art und Weise der Vernehmungsdurchführung und Dokumentation bestimmen. Es liegt in ihrem eigenen Ermessen, ob eine Vernehmung audiovisuell aufgezeichnet wird oder nicht. Eine Videovernehmung bei Erwachsenen wird „ein bisschen nach Bedarf“ durchgeführt. Kindliche Opfer von Sexualdelikten werden eher audiovisuell vernommen als erwachsene. Bei schwerwiegenden Delikten kommt es trotzdem vor, dass über die Vernehmung des Kindes lediglich Wortprotokolle angefertigt werden. Besonders sensible Zeugen und Opfer von erheblichen Straftaten werden immer audiovisuell vernommen.


Auch in der Struktur und Organisation der Polizei zeigen sich Hürden, die durch das mangelnde Vorhandensein von Ressourcen, wie etwa qualifiziertes, geschultes Personal und die notwendige und geeignete technische Ausstattung entstehen. Problematisch sind immer noch die Verschriftung und die damit einhergehende Produktion enormer Textmengen. Alle Videovernehmungen werden vollständig durch eine Schreibkraft in Schriftform übertragen, verbunden mit einem enormen zeitlichen und personellen Aufwand. „Und wenn ich das im Vorfeld weiß, dass ich damit eine Schreibkraft zwei Tage lahmlegen kann, dann mach ich das nicht, wenn es nicht ein schwerwiegender Tatvorwurf ist.“ Einer Zusammenfassung der Aussage stehen die Praxisexperten skeptisch gegenüber. Vernehmungsbeamten sind gezwungen die Vernehmung zu lesen, zu korrigieren und nicht verschriftete, weil von der Schreibkraft nicht verstandene Textpassagen aufzufüllen, was von den Experten als sehr zeitaufwendig und belastend empfunden wird. Technische Probleme, das Fehlen technischer Ausstattung und die Unsicherheit in Bezug auf die Bedienung dieser Technik hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass audiovisuelle Vernehmungen nicht durchgeführt wurden. Die Dienststellen verfügen, mit einer Ausnahme, alle über ein sogenanntes Videovernehmungszimmer, welches vom LKA ausgestattet wurde, eines ist jedoch nie genutzt worden, nicht zuletzt, weil es kein Beamter für notwendig erachtet hat, sich mit der Technik zu beschäftigen. In jüngster Vergangenheit wurde weitere Technik in Form von Vernehmungstablets und Vernehmungskoffern angeschafft. Mit diesen wurden aufgrund der Mobilität, der Schnelligkeit und der Unkompliziertheit in der Anwendung positive Erfahrungen gesammelt. Die Experten berichten jedoch, dass bislang nicht alle Vernehmer mit der vorhandenen Technik umgehen können. Es bestehen Unsicherheiten, wenn es um die technische Umsetzung, beziehungsweise Ausgestaltung der Aufnahmemodalitäten geht. Es ist erforderlich, dass geschultes Personal vorhanden ist. Eine „gewisse Routine“ und Erfahrung wird als Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung angesehen. Während der Vernehmung ist besonders darauf zu achten, das Opfer möglichst zielführend zu befragen, um das Kerngeschehen der Tat herauszuarbeiten. Fragestellungen sollen nicht suggestiv wirken und an das Sprachniveau des Opferzeugen angepasst sein. Es soll darauf geachtet werden, dass Fragen nicht durch Gestik und Mimik, sondern durch das gesprochene Wort beantwortet werden. Da es sich bei einer Opfervernehmung immer auch um einen dynamischen Prozess handelt, muss der Vernehmer in der Lage sein mit heiklen Situationen umzugehen, was eine gewisse Vernehmungserfahrung voraussetzt. Als Grund für mangelnde Erfahrung und Routine äußern die Experten, dass aufgrund der geringen Anwendung und der fehlenden Fortbildung keine Handlungssicherheit entwickelt und das Gelernte nicht verinnerlicht werden kann. Es wird für wichtig erachtet, dass bereits im Studium erlernt wird, wie eine audiovisuelle Vernehmung durchzuführen ist.


Es wurden auch personenabhängigen Faktoren wie die Haltung der Polizeibeamten, deren Motivation und die bislang gesammelten Erfahrungen erfragt. Hierbei lässt sich feststellen, dass alle Praxisexperten der Bild-Ton-Aufzeichnung der Opferaussage grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt sind, die Vorteile werden nicht nur für den Opferschutz, sondern auch für die Beweiskraft der Aussage gesehen. Die Tablets sind schnell und mobil einsetzbar und einfach zu bedienen, ein Grund dafür, dass sie häufig eingesetzt werden. „Wieso haben wir das nicht schon eher gemacht?, ganz ehrlich!“ Der Mehrwert für das Opfer wird in der exakten Dokumentation der Aussage gesehen, was wiederum Missverständnissen vor Gericht vorbeugen kann und eine höhere Beweiskraft besitzt. Es gibt fortdauernde Berührungsängste innerhalb des Kollegenkreises, wodurch eher von der mutmaßlich unkomplizierteren, traditionellen Methode Gebrauch gemacht wird. Dass bei der traditionellen Methode die Aussage des Opfers durch das unbewusste Zusammenfassen des Beamten verändert wird, wird problematisch gesehen. „Wie lange haben wir schon die Möglichkeit eigentlich, per Video etwas zu begleiten, und wie kommen wir darauf, es nicht zu tun, es nicht zu nutzen, wenn es doch eine andere Aussagekraft hat?“ Die Möglichkeiten sollten intensiver genutzt werden. Als positiv wird empfunden, dass Rechtsanwälte vor dieser Art der Vernehmung großen Respekt haben und in einigen Fällen die Bild-Ton-Aufzeichnung der durchgeführten Opfervernehmung maßgeblich zur Verurteilung des Beschuldigten beigetragen hat. Andererseits werden Videovernehmungen vor Gericht nur in den größten Ausnahmefällen beachtet. Die Bild-Ton-Aufzeichnung wird von den Beamten auch als Arbeitserleichterung gesehen, da Vernehmer selbst nicht mehr diktieren. Außerdem ist die traditionelle Vernehmung einfacher und verständlicher zu lesen.

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