Recht und Justiz

Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung (Teil 2)

3.4 Zitiergebot – Zweckbestimmung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG

Es stellt sich die Frage, ob das Zitiergebot für die Anwendung unmittelbaren Zwanges auch in der StPO zwingend Beachtung finden muss. Das förmliche Gesetz, das ein Grundrecht einschränkt oder dazu ermächtigt, muss gem. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich darauf hinweisen, dass das betreffende Grundrecht eingeschränkt wird. Geschieht das nicht, verletzt das Gesetz das eingeschränkte Grundrecht i.V.m. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und ist demzufolge nichtig.42 Das gilt jedoch in dieser Stringenz nicht für sog. vorkonstitutionelles Recht, also für eine Vielzahl von Normen der StPO, so z.B. für die Vorschriften betreffend die körperliche Untersuchung/Blutentnahme, erkennungsdienstliche Behandlung, vorläufige Festnahme, Verhaftung, Durchsuchung, Vorführung und dergleichen.43 Dazu zählen erst recht die diesen Normen der StPO innewohnenden Befugnisse zur Anwendung von Zwang, um z.B. die Blutentnahme gegen den Willen des Beschuldigten – nötigenfalls auch durch Anwendung unmittelbaren Zwanges – durchzusetzen.44
Zwangsrecht, das den der hier in Rede stehenden Normen der StPO nach Sinn und Zweck innewohnt, ist ebenfalls vorkonstitutioneller Natur. Der Hinweis auf das einschlägige Grundrecht muss nicht notwendig der entsprechenden Einzelvorschrift angefügt werden. Es genügt, wenn das betreffende Gesetz einen derartigen Hinweis enthält.45 Unzureichend ist ein Hinweis in der Gesetzesbegründung auch dann, wenn es sich um eine amtliche Begründung handelt.46 Bei einem Änderungsgesetz, wie z.B. den zahlreich in Kraft getretenen Änderungsgesetzen zur StPO nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, muss der Hinweis im Änderungsgesetz stehen. Dies gilt auch dann, wenn das zu ändernde Gesetz bereits einen entsprechenden Hinweis enthält, soweit das Änderungsgesetz, wie z.B. im Fall der StPO mehrmals geschehen, deutlich weitergehende Eingriffe erlaubt.47 Das Zitiergebot, eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und in seiner Funktion als Schranken-Schranke, hat den Zweck sicherzustellen, dass nur wirklich gewollte Eingriffe erfolgen und sich der Gesetzgeber über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft gibt.48 Verbunden mit dem Wissen, dass viele – tradierte – Normen der StPO, vor allem jene im o.a. Sinne, sog. vorkonstitutionelles Recht sind, kommt man verfassungsrechtlich unter zwei Gesichtspunkten zu einem in jeder Hinsicht vertretbaren Ergebnis. Erstens: Aus Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG folgt mit der höchst-richterlichen Rechtsprechung des BVerfG, dass diese Verfassungsnorm nur für die nachkonstitutionelle Gesetzgebung gilt.49 Zweitens: In den Polizeigesetzen bzw. Gefahrenabwehr-/ Verwaltungsgesetzen der Länder, in denen der unmittelbare Zwang zu präventiven und repressiven Zwecken geregelt ist, wird dem Zitiergebot konsequent Folge geleistet. Dies gilt auch für das UZwG Bln und UZwG Bund.50

4 UZwG Bln oder UZwG Bund?


Eine interessante Frage wirft sich zum Abschluss dieses Beitrags zwangsläufig auf: Müsste die StPO, die klassisches Bundesrecht ist, wenn überhaupt nicht eigentlich durch das UZwG Bund51 ergänzt werden, mit der Folge, dass dann die landesgesetzlichen Schusswaffenvorschriften in den Polizeigesetzen mit repressiver Zielrichtung obsolet sind? Hierfür spräche die Gesetzessystematik. Die StPO als Bundesgesetz würde durch Bundesrecht in Gestalt des UZwG Bund mit Regelungen des Schusswaffengebrauchs gegen Personen unter repressiver Zielrichtung ergänzt werden. Dies würde auf den ersten eher oberflächlichen Blick durchaus passgenau sein und auch nicht mit § 6 Abs. 1 EGStPO kollidieren, der seine prinzipielle Sperrwirkung nur auf prozessrechtliche Vorschriften der Landesgesetze erstreckt. An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, was die Vorschriften der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges tatsächlich regeln. Diese Frage soll anhand desjenigen Gesetzes beantwortet werden, das die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte in einem eigens dafür geschaffenen Gesetz regelt. Es handelt sich um das UZwG Bln, welches für die Vollzugbeamten des Landes Berlin gilt, wozu nicht nur die Vollzugsbeamten der Polizei zählen. § 1 UZwG Bln spricht von „rechtmäßiger Amtsausübung, soweit die Anwendung unmittelbaren Zwanges gesetzlich zugelassen ist“. Diese der Zwangsausübung vorgelagerte „Rechtmäßigkeit“, im Land Berlin, zusätzlich noch verstärkt durch die Vorbehaltsklausel „soweit“, bestimmt sich präventiv regelmäßig nach den Vorschriften des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes (VwVG), dessen Anwendung wiederum eine polizeiliche Maßnahme nach dem materiellen Polizei- und Ordnungsrecht (ASOG Bln) voraussetzt.52 Bei repressiven polizeilichen Eingriffen – also zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten – sind in solchen Fällen die Vorschriften der StPO und des OWiG anzuwenden. Die Ausführungsvorschriften zum UZwG Bln nehmen dazu explizit Stellung. Die AV Pol UZwG Bln Nr. 3 lit. c, d und e zu § 1 UZwG Bln53 stellt klar, dass sich für Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsmaßnahmen einschließlich der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten die Ermächtigung zur Anwendung unmittelbaren Zwanges – abgesehen von Spezialvorschriften – insbesondere aus den Vorschriften der StPO, bei Ordnungswidrigkeiten aus den Vorschriften der StPO via § 46 Abs. 1 OWiG und aus den Vorschriften wie §§ 97, 98 OWiG ergibt. Bei repressiven polizeilichen Eingriffen umfasst – wie oben in Nr. 3.1 ausführlich angesprochen – die jeweilige Befugnis grundsätzlich konkludent das Recht, den polizeilichen Eingriff auch zwangsweise durchzusetzen.54 Das UZwG Bln regelt demnach nicht das „Ob“ i.S.e. klassischen Ermächtigung („Ob“ überhaupt die Maßnahme getroffen werden darf), ergänzt bzw. erweitert also nicht den Befugniskanon der StPO, sondern legt nur die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges, also das „Wie“ der Zwangsanwendung fest, z.B. ob – in der gesetzlich beschrieben Art und Weise – die Fesselung einer Person zulässig ist oder die Schusswaffe gegen Personen oder Sachen eingesetzt werden darf, bei flüchtenden Verdächtigen oder Straftätern zu deren Ergreifung (vorläufigen Festnahme, Verhaftung).55 Der Schusswaffengebrauch gegen Sachen ist auch in Fällen zulässig, die nicht von den Vorschriften der §§ 11 bis 16 UZwG Bln56 erfasst sind. Dieser Schusswaffengebrauch ist nicht an vergleichbar strenge Voraussetzungen gebunden. Beispielsweise kann es erforderlich sein, beim Eindringen in Kellerräume, die mit einer Stahltür fest verschlossen sind und in denen sich der auf der Flucht befindliche Verdächtige, welcher eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist, wobei bei Vergehen Anhaltspunkte dafür vorhanden sein müssen, dass er auf der Flucht Schusswaffen oder Explosivmittel mit sich führt, versteckt hält, ein Türschloss mit Hilfe des Schusswaffengebrauchs aus einer Maschinenpistole zu zerstören, um die Kellergewölbe betreten zu können.57 Bei flüchtenden Straftätern muss ein Vorführungs- oder Haftbefehl nach § 457 Abs. 2 StPO oder aufgrund dessen ein Steckbrief gem. § 131 StPO (Ausschreibung zur Festnahme) erlassen worden sein, wobei § 13 UZwG Bln nur die erstmalige Festnahme des flüchtenden Straftäters betrifft; soll nach seiner Festnahme seine Flucht vereitelt werden, beurteilt sich der Schusswaffengebrauch gegen ihn nach § 14 UZwG Bln (Schusswaffengebrauch gegen Ausbrecher). Dass der flüchtende Straftäter auf seiner Flucht Schusswaffen oder Explosivmittel bei sich führt, verlangt das Gesetz nicht. Gleichwohl ist bei einem eventuellen Schusswaffengebrauch jedoch die (Rest-)Freiheitsstrafe zu berücksichtigen.58 Hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs auf das Türschloss gilt die Regel, dass „gegen Personen der Schusswaffengebrauch nur zulässig ist, wenn der Zweck nicht durch Waffeneinwirkung auf Sachen erreicht wird“.59 Die einzelnen Vorschriften, welche die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs gegen Personen regeln, stellen allesamt Ausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dar. Zugleich sind es Bestimmungen, die direkten Einfluss auf das Auswahlermessen nehmen. Dazu zählen auch die Reglungen der allgemeinen Vorschriften für den Schusswaffengebrauch.60 Der Wirkkreis des Auswahlermessens wird vor allem deutlich, wenn im UZwG Bln die Rede davon ist, dass „Zweck des Schusswaffengebrauchs nur sein darf, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen“.61 Gleiches in Hinblick auf die besonderen Ausprägungen der Verhältnismäßigkeit mit Erforderlichkeit und Angemessenheit gilt für die Bestimmung, dass „Schusswaffen nur gebraucht werden dürfen, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen“.62 Auch die Vorschrift, dass „der Schusswaffengebrauch unzulässig ist, wenn dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden“, zielt einzig und allein auf die Verhältnismäßigkeit des Schusswaffengebrauchs ab, wobei die grundsätzliche Regelung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in § 4 UZwG Bln verortet ist. Der Berliner Landesgesetzgeber will – wie alle anderen fünfzehn Landesgesetzgeber – seine Polizeivollzugsbeamten in Ausübung ihres Dienstes bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges, insbesondere im Falle des Schusswaffengebrauchs, besonderen rechtlichen Restriktionen unterwerfen; allein dazu sind die Vorschriften des UZwG Bln erlassen worden. Sie treten keinesfalls in Konkurrenz zu den Befugnisnormen der StPO, welche ohnehin nicht durch Bestimmungen über die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges unterlegt sind. Dies ist rechtlich zulässig, weil mit den Bestimmungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges nicht in die Rechtsmaterie prozessualer Handlungen eingegriffen wird, jene Reglungen weder modifiziert noch inhaltlich geändert oder ergänzt werden. Die Landesgesetzgeber nehmen lediglich eine Ausgestaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vor und begrenzen damit das Auswahlermessen polizeilichen Handelns ihrer Vollzugsbeamten. Dies gilt sowohl für den Schusswaffengebrauch mit präventiver als auch mit repressiver Zielrichtung. So leistet das Polizeirecht durchaus einen Beitrag auf dem Gebiet der Strafverfolgung, indem es die Anwendung des unmittelbaren Zwanges regelt.63
Derartige Regelungen vorzunehmen, fallen gem. Art. 30 und 70 GG in die grundsätzliche Landeskompetenz. Infolgedessen sind die Landesregelungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges sinnvolle und verfassungsrechtlich zulässige Eingrenzungen bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten der Länder. Nichts anderes gilt für die Vollzugsbeamten des Bundes in Hinblick auf das UZwG Bund.