Zur Interaktionsdynamik der sozialen Polarisierung und Gewaltradikalisierung in Sachsen
4 Rechtsextreme Mobilisierung und Gewaltradikalisierung
Migrations- und asylkritische Mobilisierung ist ein wesentliches „Politikfeld“ rechtsextremer Akteure. Die NPD suchte sich vergleichsweise früh mit ihrer Anti-Asyl-Agitation zu profilieren. Auch andere Akteure aus den rechtsextremen und/oder rechtspopulistischen Netzwerken schürten soziale Konflikte, um im zweiten Schritt Lösungen anzubieten und Sympathisanten zu gewinnen. Dabei setzten sie auf mobilisierende Demonstrationen sowie expressive Aktionen und versuchten nach Kräften, von der Proteststimmung zu profitieren. Es zeigte sich eine Korrelation zwischen der Stärke des rechtsextremistischen bzw. rechtspopulistischen Spektrums vor Ort und der asylfeindlichen Mobilisierungsintensität. Die Vereinnahmungsformen variierten dabei zwischen einer mehr oder minder wahrnehmbaren Beeinflussung bzw. Radikalisierung des Protestgeschehens (Freital) und einer „Subversion“ wie in Heidenau, wo ein NPD-Mitglied anfangs als Privatperson asylfeindliche Mobilisierung betrieb.
Die internationale Rechtsextremismusforschung betont das kausale Verhältnis zwischen Hassgewalt und migrations- sowie elitenkritischer Mobilisierung.28 Dieser Zusammenhang lässt sich mit den im Projekt generierten Daten jedoch im strengen Sinne nicht belegen. Im Blick auf die rechtsextreme Mobilisierung und Eskalation ließ sich allerdings eine Art Überbietungswettbewerb mit Nachahmungseffekten beobachten. Denn die Akteure, die Gewalt als Handlungsmodell normativ und utilitaristisch rechtfertigten, tauschten sich über Soziale Medien über die (über-)regionalen „Erfolge“ der Aktionen aus, was eskalative Episoden und eine Gewaltradikalisierung nach sich zog.
Ein Mechanismus trug wesentlich zur Gewaltradikalisierung bei: der (lokale) Vigilantismus.29 Als primärer Vigilantismus lassen sich jene Gewalttaten erfassen, die von den örtlichen „Bürgerwehren“, „Widerstandsgruppen“ und anderen mehr oder minder organisierten Personenzusammenschlüssen begangen wurden. „Wachsame Bürger“ fühlten sich der sozialen Kontrolle am als untätig wahrgenommenen Staat vorbei verpflichtet. Zugleich firmierten die Gewalttaten aus Tätersicht vielfach als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Asylpolitik, die sich mit der Unterbringung Geflüchteter in der Nachbarschaft auf ihr unmittelbares Umfeld auswirkte. Der als Hassgewalt in Erscheinung getretene Vigilantismus war größtenteils spontan und emotional gesteuert, sieht man vom vigilantistischen Terrorismus der „Gruppe Freital“ und der „Kameradschaft Dresden“ ab.
Proteste gegen die rechtsextremistische NPD.
Die selbst ernannten Wächter über „Recht und Ordnung“ verschrieben sich überdies der lokalen Kriminalitätskontrolle. Hier spielten Personen mit einschlägigen Orientierungen und/oder Gewaltkompetenzen eine Rolle. Ein Beispiel dafür wäre die Eskalation in Bautzen oder Chemnitz. Ein weiteres, „niedrigschwelliges“ Beispiel: Am 15. Oktober 2015 verabredeten sich einige Mitglieder der „Freien Kameradschaft Dresden“ zu einem Besuch des Herbstfestes in Dresden, um unter anderem „auf Flüchtlinge aufzupassen“. „Denn ihnen waren zuvor Meldungen bekannt geworden, denen zufolge es auf dem Rummel zu Problemen, u. a. in der Form von Taschendiebstählen durch Flüchtlinge, speziell aus dem in der Bremer Straße befindlichen Notaufnahmelager gekommen sein sollte. Sie wollten deshalb anlässlich des Rummelbesuchs zugleich ihrer selbstgestellten Aufgabe nachkommen, dass ‚Ordnung und Ruhe‘ nicht durch Flüchtlinge oder andere ‚Ausländer‘ beeinträchtigt würden, was gegebenenfalls auch ein gewaltsames Einschreiten umfassen sollte“.30 Als zwei Ausländer zur späten Stunde tatsächlich in einen Konflikt mit dem Sicherheitsdienst gerieten und dessen Mitarbeiter zu einer körperlichen Auseinandersetzung herausforderten, setzten die selbsternannten Sheriffs ihren Tatentschluss um. Grundsätzlich hatte der Gedanke der Kriminalitätskontrolle eine unübersehbare Relevanz für die asylfeindlichen Aktionen der lokalen „Widerstandsgruppen“. Tatsächliche oder vermeintliche Vorfälle wurden vorher in Sozialen Medien ventiliert und diskutiert, wobei man sich gegenseitig emotional bestärkte und/oder in der Richtigkeit der ausgewählten Handlungsmuster bestätigte.
Überdies spielte der sekundäre Vigilantismus – die Konfrontationsgewalt gegen die Polizei und linke (Pro-Asyl-)Akteure als Mittel der Sozialkontrolle – eine wichtige Rolle. Denn die Polizei, ähnlich wie die Pro-Asyl-Aktivisten aus dem linken Spektrum, galt nun den rechten Tätern als Instanz zur Durchsetzung der unerwünschten „sozialen Innovation“. Dieser Radikalisierungsmechanismus lässt sich als Verschiebung der Zielobjekte bezeichnen. In einigen Fällen gingen den Gewalthandlungen gegen „linke Gruppen“ deren tatsächliche oder vermeintliche/wahrgenommene Aggressionen, auch gegen Bürgerproteste, voraus. Konfrontationsdelikten ging weitaus häufiger eine Provokation voraus als Hassgewalttaten. Mit dem Anstieg der Hassgewalt nahm zugleich die Zahl der linksmotivierten Konfrontationsdelikte gegen Polizei (eine Verdopplung) und „gegen rechts“ (eine Verdreifachung) zu.
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