Kriminalität

Megatrends und aktuelle Herausforderungen an die Kriminalistik

Von LKD Ralph Berthel, Frankenberg


Globale gesellschaftliche Veränderungen führen nicht nur zu einer deutlich gewandelten Sicherheitslage und zu einem veränderten Sicherheitsgefühl der Menschen in Deutschland. Der Autor dieses Beitrages ist überzeugt: Sie stellen auch die Kriminalistik vor neue Herausforderungen.

1 Einführung: Globalisierung – Megatrends – Sicherheit


„Viele Menschen haben das Empfinden, dass die Welt aus den Fugen geraten ist“2. Unter offenkundiger Bezugnahme auf Shakespeares Hamlet3

Die letzteren Begriffe werden regelmäßig mit folgenden Elementen verbunden:
globale Umweltveränderungen, wie die Erderwärmung, die Entwaldung, Müllentsorgungsprobleme sowie die Ausbreitung von Wüsten,
die mit technischen Fortschritten, insbesondere der digitalen Revolution, der Liberalisierung des Welthandels, dem Bevölkerungswachstum in vielen Ländern und der sog. Containerisierung des Stückguttransports einhergehende Globalisierung und deren Auswirkungen sowie
die demographischen Veränderungen auf der Erde (Bevölkerungswachstum, Alterung, Migration).

In diesem Zusammenhang findet oft auch der Begriff „Megatrend“ Verwendung. Seiter und Ochs kennzeichnen diesen Begriff wie folgt: „Megatrends sind die großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen unserer Zeit. Sie haben einen prägenden Einfluss auf Tiefenstruktur, Verhaltensweisen, Lebensweisen und Wertesysteme in einer Gesellschaft. Sie bilden und entfalten sich langsam, aber wenn sie wirken, kann von einem globalen rückschlagresistenten Einfluss von mindestens zehn bis zwanzig Jahren ausgegangen werden, auch wenn ihre Wirkungsstärke regional sehr unterschiedlich ausfallen kann.“4
Zu diesen Trends werden nicht nur die demografische Entwicklung, die Trendbereiche Mobilität und Logistik, der Klimawandel und die Ökologisierung sowie die fortschreitende Globalisierung gerechnet. Die meisten Autoren fassen darunter auch die Elemente „Kampf um Energie“ und „Zugang zu Ressourcen“ sowie „zunehmende weltweite Risikodichte“. In letzterer Kategorie finden sich Begriffe, wie Zunahme von Naturkatastrophen, asymmetrische Konflikte, wachsende Störanfälligkeit technischer und sozialer Infrastrukturen, zunehmendes Konfliktpotential zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten, Wirtschaftskrisen, Währungskrisen und Abschottungstendenzen, global organisiertes Verbrechen und Cyberkriminalität sowie transparente Gesellschaft, Überwachung und Kontrolle.5
Das Zukunftsinstitut charakterisiert „Sicherheit“ gar als eigenen Megatrend und verknüpft diesen mit Begriffen, wie Identitätsmanagement, Predictive Analytics, Trust Technologie oder Cybercrime, Big Data, Industrie 4.0 sowie Privacy.6 Das Institut führt weiter aus: „Die neue Sicherheitskultur ist agil, beweglich, flexibel und auch disruptiv. Sie muss schnell Antworten geben auf die neuen Herausforderungen in der Welt der Cyber (In-)Security.“
Neben dem Themenfeld Freiheit des Einzelnen im Spannungsfeld mit seiner und der Sicherheit in der Gesellschaft werden in dem neuen Sicherheitskontext auch Fragen der sog. Antifragilität oder Resilienz von Unternehmen und Institutionen genannt. Wenn von Resilienz die Rede ist, also von der Widerstandsfähigkeit gegen Rückschläge, stellt sich diese Frage auch den Sicherheitsbehörden bzw. Sicherheitsdienstleistern. Bereits heute zeichnet sich ab, dass sich hinsichtlich der Dimensionen und des Tempos völlig neue Herausforderungen an Flexibilita?t und Adaptivita?t dieser Behörden bzw. Institutionen ergeben werden, und zwar hinsichtlich der Widerstandsfähigkeit der eigenen Institution, wie auch der Reaktionen auf Verletzungen der Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher, wie auch privater Strukturen. Das wird ohne belastbare Frühwarnfunktionen ebenso wenig gelingen, wie ohne ausreichende und qualifizierte personelle Ausstattungen wie auch moderne technische Ressourcen sowie adäquate Eingriffsbefugnisse. Die Kriminalistik wird dabei, und eine entsprechende Prognose werde ich im Rahmen des Aufsatzes begründen, eine für die Gesellschaft bedeutsame Rolle spielen (müssen!).

2 Zur Standortbestimmung der Kriminalistik mit Blick auf aktuelle sicherheitsrelevante Entwicklungen

Den weiteren Ausführungen wird eine kurze Darstellung der Kriminalistik als Wissenschaftsdisziplin und ihrer wesentlichen Inhalte vorangestellt. Das erscheint zielführend, um in der Folge die Handlungserfordernisse möglichst präzise zuordnen zu können.7
Insbesondere im deutschsprachigen Raum gab es lange Zeit Diskussionen, ob es sich bei der Kriminalistik um eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin handele oder nicht. Einige Autoren sprachen der Kriminalistik den Charakter einer Wissenschaft grundsätzlich ab.8 Andere9 verwiesen darauf, dass Kriminalistik lediglich eine praxisbezogene Arbeitsmethodik darstelle. Um diese Auffassung zu widerlegen bedarf es der Klärung der Begriffe Wissen und Wissenschaft. Der Begriff Wissen bezeichnet eine überprüfbare Erkenntnis. Wissenschaft wird einerseits als Bestand des Wissens einer Zeit, andererseits eine Methode zum systematischen Erwerb neuen Wissens (Wissen schaffen = neues Wissen) gekennzeichnet. „Wissenschaft kann man als ein institutionalisiertes System der Hervorbringung (Forschung), Verarbeitung (Kritik), Bewahrung (Dokumentation) und Vermittlung (Lehre) von Wissen bezeichnen, das bestimmten Regeln folgt und im Selbstverständnis kollaborativ angelegt ist, wobei sowohl die Institution als auch die jeweiligen Tätigkeiten und schließlich auch das, was in diesem und durch dieses System an Wissen hervorgebracht wird, als Wissenschaft bezeichnet werden.“10